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Zwischen Jubelsang und bissiger Kritik:
Kontroverse Sichten auf Berlin

Berlin hatte zu allen Zeiten glühende Verehrer und bissige Kritiker. Die rasante Entwicklung Berlins nach 1871 zur Weltstadt mit ihren Glanz- und Schattenseiten vertiefte die kontroversen Sichten auf die Reichshauptstadt. Während die einen aus Sorge und »gekränkter Liebe« zu Berlin vor allem auch auf das Elend der Metropole mit ihren Mietskasernen und dunklen Hinterhöfen aufmerksam machten, schienen andere allein die »deutsche Größe« und den »Aufbruch in eine neue Zeit« im Auge zu haben.
     Zwei markante Beispiele sollen das verdeutlichen. Ein »Pro«-Beispiel ist die Publikation »Reichshauptstadt Berlin«. Das Buch erschien 1943 »im Einvernehmen« mit der damaligen Stadtverwaltung in der Haude & Spenerschen Verlagsbuchhandlung Max Paschke, Berlin. Zu ihren renommierten Autoren gehörten der damalige Direktor des Stadtarchivs Berlin, Dr. Eberhard Faden, sowie der damalige Direktor der Ratsbibliothek Berlin, Dr. Max Arendt. Dagegen steht - in der Textgegenüberstellung kursiv - eine Publikation, die im Jahre ihres Erscheinens, 1910, die Berliner entsetzte, weil es einer wagte, am Selbstverständnis der Hauptstadt des Deutschen Reiches zu kratzen: der Fachschriftsteller und Kunstkritiker Karl Scheffler mit seinem Buch »Berlin - ein Stadtschicksal«.


(Die angeführten Zitate beziehen sich auf den Nachdruck der Erstausgabe von 1910 im Fannei & Walz Verlag, Berlin 1989, Reihe Berliner Texte, Band 3, hrsg. von Detlef Bluhm.)

Schönste oder häßlichste Stadt der Welt?

Das vielgestaltige Bild der Weltstadt Berlin mit seinen unübersehbaren Dächern, Hochbauten, Türmen und Kuppeln, den eingestreuten Park- und Grünflächen, den weiten Wald- und Seengebieten fügt sich leichter und vollständiger, wenn man die Reichshauptstadt aus der Vogelschau überblickt ... Die herrliche Rundsicht von der Höhe des Funkturms, die das Auge weithin über den bunten Reichtum der Reichshauptstadt schauen läßt, besiegelt den Eindruck, daß Berlin eine der schönsten Städte der Welt ist. (S. 276)
     Wie mit einem Witzwort der Selbstironie hilft sich dieses hart determinierte Stadtindividuum über die verborgene Tragik seines Dasein hinweg. Über die Tragik eines Schicksals, das überall dort zutage tritt, wo in einem allzu harten und allzu rastlosen Erhaltungskampf die höheren Gefühlskräfte und die Fähigkeit zum Glück verkümmern, so daß nur die profane Tüchtigkeit bleibt, woraus die Blüte edelster Kultur nicht emporzuschießen vermag; über die Tragik eines Schicksals, das das aus einer wendischen Fischersiedelung zur mächtigen Millionenstadt und Reichshauptstadt emporgewachsene Berlin dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein. (S. 219)

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     Durch das Zusammenwirken alles Dieses ist Berlin eine der häßlichsten Städte Deutschlands geworden. Es ist gewissermaßen die Hauptstadt aller modernen Häßlichkeit.

Industriemetropole oder Kolonialstadt?

Auch die Stadt war ansehnlich geworden. Mehr und mehr wurde das Stroh auf den Dächern durch Ziegelbelag ersetzt. Es gab Herbergen auch für vornehme Gäste ... Die Stadt wuchs langsam über den Mauerring hinaus, um 1600 gab es draußen über 100 Häuser; man sprach von Vorstädten ... Die Zuwanderung nach dem deutschen Osten hat niemals ganz aufgehört. 1570 erzählt die »Beschreibung der Mark«, daß »vor zwanzig oder dreißig Jahren hier eine wohlfeile Zeit gewesen, also daß viel fremder Völker als Franken, Meißner, Schlesier und Rheinländer hineingezogen, wie dann noch heutiges Tages viel ausländisch Volk in der Mark wohnet, sonderlich zu Frankfurt an der Oder, Berlin und Brandenburg«. Und so blieb es. (S. 35)
     Im Schmelztiegel Berlin - seiner Luft vom Meer und seinem sandigen Grund - hat sich aus ersten holländischen Kolonisten, aus Franken und Schwaben, aus Leuten von Cleve, aus Franzosen, Schweizern, Böhmen und Voigtländern (die Salzburger sind zumeist nach Ostpreußen abgewandert) bis gegen Ende des 18ten Jahrhunderts der Menschenschlag gebildet, der durchdrungen von einem starken Gemeinschaftswillen, pflichtbewußt und fleißig, mit Witz gepanzert und gerne protestierend: den Berliner kennzeichnet. (S. 296)

     Aber hat nicht allein das Tempo von Berlin etwas Mitreißendes? Es ist seltsam genug, sich daran zu erinnern, daß es zu einer Zeit angekurbelt wurde als der Kienspan noch regierte und von einem Mann, dessen wuchtiger schwerfälliger Körper deutlicher Gegensatz dazu war, daß ihm nichts »geschwind« genug gehen konnte und daß er an alles sein »sofort«, sein cito citissime setzte, um über sich den Fleiß zum König seines Staates zu erheben und aus dem kleinen Preußen-Berlin Europa's leistungsfähigste Industrie emporwachsen zu lassen. Der »Soldatenkönig« konnte freilich nicht ahnen, welche Ausmaße einmal das schaffende Berlin, dem er den Grundsatz gab, erreichen würde ... (S. 299/300)
     Versucht man, Berlin, die zur Millionenstadt und Reichshauptstadt gewordene Siedelung germanischer Ackerbauern und wendischer Fischer, mit einem Wort zu charakterisieren, das nicht nur für die ersten Jahrhunderte der Stadtgeschichte, sondern auch heute noch Geltung hat, so hilft dazu ein Gedanke, den Eduard Heyck in seiner »Deutschen Geschichte« wenn auch im Vorübergehen nur, andeutet, wo er sagt, daß dem Ostelbier immer noch ein »feinen Instinkten wahrnehmbares Ingredienz des Kolonialmenschen« anhaftet. Verwendet man dieses glückliche Anschauungsergebnis bei der Betrachtung Berlins, der Hauptstadt Ostelbiens, so kommt man zu der Formulierung, Berlin sei geworden was es ist als Residenzstadt eines Koloniallandes, es sei, heute noch wie vor vielen hundert Jahren, recht eigentlich eine Kolonialstadt. (S. 15)
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     Trotzdem ist es eine Kolonialstadt geblieben, immer in erster Linie abhängig von der Geschichte des preußischen, schlesischen oder polnischen Kolonialbesitzes, immer nach Osten gerichtet und immer jeder neuen Generation einen neuen Pioniergedanken überweisend. Es ist geworden was es ist, weil seine Stadtgeschichte in gewisser Weise die Geschichte der Mark, des ganzen östlichen Koloniallandes widerspiegelt, und weil von vornherein in diesem Stadtgebilde, gerade um seiner städtischen Formlosigkeit willen, Spielraum für unbegrenzte Möglichkeiten gewesen ist. (S. 18/19)
     Ein Kulturgewissen hatten diese endlosen, mit hungrigem Emporkömmlingswillen, festen Nerven und derbem Lebensappetit herbeidrängenden Scharen der östlichen Menschen nicht. Es war barbarisches Kolonistenvolk, das die neue Zeit lärmend begrüßte, als es aus dem Dunkel seines vegetativen Lebens nun zum Licht des geschichtlichen Bewußtseins emporzusteigen begann. (S. 120)
     Nur glich die von neuem hereinbrechende Unkultur nun nicht mehr dem Zustand, der entsteht, wenn Eroberer in ein wildes Land kommen, wo alles neu aus dem Nichts geschaffen werden muß, sondern einem Zustand, wie er gegeben ist, wenn Barbarenhorden ein höher kultiviertes Land überschwemmen und die Kulturformen, die sie vorfinden, parvenühaft mißbrauchen.
Während es tatsächlich eine Auflösung, eine Vernichtung ist, was nach 1870 rapide eintrat, erschien es zuerst, erscheint es heute Vielen noch als eine Entwicklung zu höheren Zuständen. (S. 123)

Erhabene Pracht oder formloser Stadtkörper?

Mit dem Festungsbau, der ersten Gesamtplanung Berlins, hat der Große Kurfürst selbstherrlich in die Gestaltung seiner Residenz eingegriffen. Von ihm an bis auf Friedrich Wilhelm IV. ist sowohl für die äußere wie für die innere Gestaltung Berlins der Wille des Herrschers oberstes Gebot geblieben. Das mittelalterliche, idyllische, schmalgiebelige Berlin verschwand mit seinem Schlendrian vor einem klar gegliederten, straff organisierten, holländisch sauberen und klaren Stadtwesen, dessen Bewohner schon etwas von der Idee der Staatsräson in sich aufnahmen. Der Festungsbau war Symbol dafür, daß das Staatliche das Städtische zu überwiegen, in den Hintergrund zu drängen begann. Der kurfürstliche Gouverneur wurde der Herr in der Stadt und sah scharf darauf, daß der Rat seine Anordnungen pünktlich und genauestens ausführte.

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Eine Garnison wurde in die Stadt gelegt, Behörden entstanden, Beamte bildeten einen wachsenden Teil der Bevölkerung. Berlin erhielt in steigendem Maße Bedeutung für alle über das deutsche Gebiet weit verstreuten Landesteile, aus denen der Große Kurfürst in langem, zähen Ringen nach außen und innen den brandenburgisch-preußischen Gesamtstaat zusammenfügte, dem er als Lebensprinzip den Gedanken der Macht einflößte. In Berlin begannen alle Fäden des Landes zusammenzulaufen, es wurde die Hauptstadt des brandenburgisch-preußischen Staates. (S. 62/63)
     Der erste monumentale Bau Preußens, das Zeughaus, bereits vom Vater als Denkmal der brandenburgischen Waffentaten geplant, wurde von Friedrich I. errichtet ... Dieser Schloßumbau, mit dem Schlüter in begnadetem Gestaltungsvermögen aus dem Nebeneinander der verschiedensten Bauteile ein einheitliches Ganzes schuf, ein Königsschloß, das die erhabene Pracht des Barock in einer strengeren Art als der süddeutschen, in einer ausgesprochen norddeutschen abgewandelt und zu preußisch ernster Monumentalität geführt hat, ist das erste große Beispiel für die Umformungen der von außen kommenden Anstrengungen durch den Geist der Stadt, den Willen des Landes mit der Richtung auf das zweckmäßig Ernste, Tüchtige, auf den »preußischen Stil«. (S. 65/66)
     Die Kulturgeschichte Preußens ist vor allem eine Soldatengeschichte; die Kulturgeschichte Berlins erzählt von der Entwicklung einer Kolonialstadt zu einer Garnisonsstadt ... Die großen Populären in der Geschichte Berlins sind nicht Dichter und Philosophen, nicht Gottesmänner, Architekten und Maler, nicht bedeutende Bürgermeister und reiche Patrizier; es sind vielmehr zuerst die kolonisierenden, organisierenden, die Staatsidee sichtbar verkörpernden Fürsten, es sind die großen königlichen Feldherren und Eroberer und es sind vor allem dann die Soldaten. (S. 40)
     Die schwierige und künstliche Entwicklung der Stadt prägt sich deutlich in ihrer äußeren Anlage aus. Der zur Formlosigkeit verdammte Geist hat sich einen formlosen Stadtkörper gebildet. Man erstaunt über den Mangel an klarer Gliederung, wenn man nur einen Blick auf den Stadtplan wirft. Jedes lebendig und einheitlich entstandene Stadtgebilde erzählt ein gut Teil seiner Geschichte schon durch den Grundriß. Es ist, als sähe man die Jahresringe eines Baumstammes, wenn man im Stadtplan erkennt, wie sich der Urkern der Stadt, stetig schwellend, vergrößert hat; es ist, als sähe man die bauende Kraft selbst vom Mittelpunkt mächtig nach allen Seiten ausstrahlen, wenn das Auge den Radialen der Hauptstraße folgt, die nach allen Seiten ins Land führen;
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   87   Nachrichten aus dem alten Berlin   Voriges BlattNächstes Blatt
man liest das Epos der Stadtgeschichte, wenn man die Anordnung der Plätze und Gebäude, die Art der Benutzung von hügeligem Gelände und von Wasserläufen aufmerksam betrachtet, wenn Einem aus der Geometrie des Aspektes der Wille verschiedener Epochen entgegentritt.
     Auf diesen Genuß muß verzichten, wer den Stadtplan Berlins ansieht. Deutlich wird Einem vor diesem verworrenen Grundriß nur noch, daß die Spreeinsel, das alte Kölln, der Keim des riesenhaften Stadtgebildes ist; und mit einiger Anstrengung erkennt man auch noch den größeren Kern der vereinigten Städte Kölln-Berlin, bezeichnet durch die im Zuge der alten Stadtmauer verlaufende Neue Friedrichstraße und die Wallstraßen. Das ist aber auch fast alles. (S. 46)

Mit Witz und Anstand oder ohne jede Würde?

Mag es auch paradox klingen: die »Schnoddrigkeit« des Berliners, sein Eifer in dialektischer Akrobatik sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen und alles und Jeden auf den »Kopp« zu stellen, entspringt der Erkenntnis aller Grenzen menschlichen Mühens, die kein Spintisieren zuläßt, schwächliche »sentiments« ablehnt und jedem Beweihräuchern abhold ist.
     Der Berliner sucht dem Leben die beste Seite abzugewinnen und sich mit Witz und Anstand durch die schlechten weiterzuhelfen.

Mit Witz, der oftmals wie ein Lebenselixier anmutet. Wer zweifelt daran, daß er nur aus dem Geprüftsein kommen kann, das die Dinge sehen will, wie sie sind und nicht, wie sie scheinen möchten. Denn vor dem Witz steht der Ernst: das Sichbehaupten wider alle Unwahrhaftigkeit - das sich selbst Mut zusprechen - das Ausharren auch in schwersten Stunden. Man lese nur die letzte Strophe aus Friedrichs des Großen Ode an die Standhaftigkeit:
     wir brauchen in der Not der Tage
     ein starkes Herz, das treu ertrage
     des Schicksals stahlgeschiente Faust. (S. 294)

Locker, windig und verwegen und noch dazu ehrlich und gut. Das setzt Offenheit voraus. Wer darf sich darüber wundern, daß die nicht immer und überall freundlich aufgenommen wird; daß des Berliners treffsicherer Humor nicht allerorts fruchtbaren Boden findet; daß er oft mißverstanden wird - weniger harmlos angesehen als er gemeint war. Aber ob das nun in beleidigten Herzen oder vor gekränkter Eitelkeit: Berlin, sprich den Berliner unbeliebt machen mag, er wird dafür kein Verständnis haben und koste es, was es wolle, seiner »frechen Schnauze« treu bleiben, das heißt sein Herz auf der Zunge behalten. Was Wunder, daß ihm, von dem schon ein früheres Jahrhundert sagt, daß er »kein falsches hinterlistiges Haar auf dem Kopf habe«, nichts »imponiert«, was nicht »waschecht« ist. (S. 295)

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Nüchterner und poesieloser kann nichts sein. Man macht proletarischen Radau, veranstaltet eine würdelose Maskerade, singt, johlt und verunreinigt in weitem Umkreis den Wald. Selbst ein solcher Sommerausflug, die einzigste Freude oft der Armen in der Großstadt, ist nie frei von Dem, was dem Neu-Berliner wie ein untilgbares Laster anhaftet: der Freude an der Parodie. Der Berliner parodiert immer und überall; ohne Parodie gibt es für ihn keine geistige Emotion. Und müßte er sich selber parodieren. Da ihm die Würde durchaus fehlt, verhöhnt er mit aufdringlichem Gebaren alle Formen der Würde ... Er will durchaus Großstädter scheinen und ist im wesentlichen doch Provinzler. Nein, weniger; formloser, ungebildeter ist er als der Provinzler!
     Seine ganze Art und Determination macht den Berliner zum widerstandslosen Opfer der Moden. Er glaubt großstädtisch zu scheinen, wenn er fremde Großstadtgewohnheiten nachahmt; er wird zum Eklektizisten aller hauptstädtischen Lebensformen der Welt; und der berlinische Bildungsdünkel kommt dann hinzu. Das Resultat ist ein Großstadtjargon ohne gleichen ... (S. 179/ 180)
     Hoffnungsloser noch erscheinen Einem die Zustände der Reichshauptstadt, wenn man ihre Eß- und Trinkkonventionen betrachtet ...
     Geblieben ist, als ein Nachklang jahrhundertelanger Kargheit, nur die Nüchternheit und Charakterlosigkeit.
Die absolute Anspruchslosigkeit, die Neutralität des Geschmacks hat der Eßwaren- und Getränkeindustrie in Berlin einen günstigeren Boden geschaffen als sonstwo in Deutschland. Und dadurch ist die Art des Essens und Trinkens in Berlin nur um so unpersönlicher geworden. (S. 181)
     Die Vielesserei der Berliner in den Prunkwirtschaften ist fast ekelerregend. Besonders des Abends. (S. 184)

Zusammengestellt von Herbert Schwenk

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/1996
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