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Gerhard Keiderling
»Es wird berichtet ...«

Die Stalin-Note: eine verpaßte Chance?

Zwischen 1950 und 1952 führten Ost und West einen Notenkrieg um die deutsche Frage, worunter man damals den Abschluß eines Friedensvertrages, den Abzug der Besatzungstruppen und die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands verstand. Beide Seiten versuchten, den von ihnen beherrschten Teil Deutschlands auf Dauer in ihr Lager zu integrieren. Dabei strebte die UdSSR an, eine Wiederbewaffnung und NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik zu verhindern. Der Westen hielt daran fest, daß eine politische Einigung Deutschlands auf der Grundlage freier gesamtdeutscher Wahlen erfolgen müsse. Als er Ende 1951 die Überprüfung der Wahlvoraussetzungen in beiden deutschen Staaten durch eine UN-Kommission forderte, lehnte die östliche Seite ab.
     Am 10. März 1952 ließ Stalin den westalliierten Botschaftern in Moskau eine Note überreichen, die den »Entwurf für einen Friedensvertrag mit Deutschland« enthielt. Seine politischen Leitsätze schienen der westlichen Position entgegenzukommen: Wiedervereinigung »als unabhängiger, demokratischer, friedliebender Staat«, Gewährung »demokratischer Rechte« und freie Betätigung demokratischer Parteien sowie »nationale Streitkräfte«.

Außerdem stimmte die Sowjetunion freien Wahlen unter einer Viermächtekommission zu. Der Westen lehnte die Vorschläge als »Propaganda- und Täuschungsmanöver« ab. Es setzte eine leidenschaftlich geführte Debatte darüber ein, ob die Stalin-Note die letzte, leider vertane Chance zur Wiedervereinigung gewesen sei.
     Was die Berliner davon hielten, ist den vom Amt für Information beim Magistrat angefertigten Stimmungsberichten vom Frühjahr 1952 zu entnehmen. Ihre Verfasser beherrschten sichtlich die Kunst, Desinteresse und Ablehnung »positiv« zu interpretieren.

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Zu dem Brief der Regierung der DDR an die 4 Großmächte und zur Antwortnote der SU 1) wurde ab 28. 2. 1952 eine tägliche Meinungsforschung in allen Kreisen der Bevölkerung durchgeführt. Das Ergebnis war, daß in fast allen Betrieben Betriebsbzw. Abteilungsversammlungen zu diesen wichtigen politischen Ereignissen stattgefunden hatten und die Bevölkerung weitgehendst von ihnen unterrichtet waren. Alle Befragten, mit Ausnahme ganz weniger Desinteressierter, sprachen sich für den Frieden und für den Schritt unserer Regierung aus. 2/3 von ihnen erkannten die große Bedeutung der Antwortnote der SU, durchschaute die Politik der Westalliierten und war der Überzeugung, daß man - stark durch die Einigkeit der Werktätigen - den Frieden erzwingen werde.

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In knapp 1/3 der Diskussionen wurde bezweifelt, daß es gelingen wird, den Friedensvertrag zu erringen, und behauptet, die Westmächte allein seien ausschlaggebend. Unter ihnen gab es auch einige feindliche Argumente: »Revision der Oder-Neiße-Grenze«, »Annahme der UN-Kontrolle« und »Hörigkeit der Regierung der DDR«.
     Nach den bisher vorliegenden Berichten über die Meinung der Bevölkerung zur Note der Sowjetregierung an die Westmächte über den Friedensvertrag mit Deutschland [vom 10. 3. 1952; d. Verf.] muß festgestellt werden, daß die Arbeiter vieler Betriebe spontan, in einstimmig angenommenen Resolutionen ihre Anerkennung und Zustimmung zu der Note zum Ausdruck brachten.
     (Stimmungsbericht vom 17. März 1952)

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Zu diesem Punkt wurde ab 10. 3. 1952 laufend eine Meinungsforschung unter der Bevölkerung des demokratischen Sektors von Berlin und teilweise auch unter den Bewohnern einzelner Bezirke Westberlins durchgeführt.
     Von den insgesamt 320 Befragten des demokratischen Sektors erklärten sich 180 vorbehaltlos mit der Note der Sowjetregierung einverstanden.

Bei 60 bestanden Bedenken bezüglich der Aufstellung von Streitkräften und bei 16 bezüglich der Grenzen. Von dem Rest der Befragten erkannte ein kleiner Teil nicht, warum die UN-Kontrolle in der DDR abgelehnt wird, andere zeigten sich uninteressiert, kannten den Inhalt der Note nicht, brachten Einzelargumente oder äußerten sich feindlich.
     (In Anbetracht der verhältnismäßig vielen Stimmen, die sich gegen die militärischen Leitsätze aussprechen, erscheint es wichtig, daß in der Presse als auch in den Betrieben immer wieder der Unterschied zwischen der in Westdeutschland aufgebauten Söldnerarmee und den Nationalen Streitkräften klar gemacht wird, die nach dem Friedensvertragsentwurf in Deutschland bereitgestellt werden sollen.)
     In den Gesprächen mit den Bewohnern Westberlins, die in den Bezirken Kreuzberg, Wedding und Charlottenburg durchgeführt wurden, machte sich überall ein deutliche Ablehnung bemerkbar, mit einem Unbekannten über Politik zu reden. Die Hälfte der 46 Befragten ging überhaupt nicht auf ein politisches Gespräch ein. Nur ein kleiner Teil der Befragten erklärte sich mit allen Punkten der Grundlagen für den Friedensvertrag einverstanden. In ihren Stimmen kam Unzufriedenheit mit ihrer Besatzungsmacht und der Wunsch nach Arbeit zum Ausdruck.
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Andere machten Einschränkungen in bezug auf die Streitkräfte und wieder andere bezweifelten - obwohl sie die Note begrüßten -, daß ein Friedensvertrag zustande kommen wird, weil durch die politisch eingegangenen Bindungen der Bonner Bundesregierung einerseits und - wie sie glauben - der Abhängigkeit der DDR von der SU andererseits, die wirtschaftlichen Gegensätze schon zu groß geworden sind. Der kleine Rest vertrat die Tendenzen des Gegners.
     (Stimmungsbericht vom 5. April 1952)

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Die Popularisierung dieser Noten 2) in den Betrieben und durch die Nationale Front ist sehr unterschiedlich; besonders schwach ist die Arbeit des FDGB in den Privatbetrieben gewesen, obwohl gerade in diesen Betrieben die Unklarheit sowohl über die Nationalen Streitkräfte als auch über die Oder-Neiße-Friedensgrenze am größten ist.
     Der Aufruf des Zentralkomitees der SED »Ruf an die Nationen« 3) ist noch vollkommen ungenügend verbreitet. Die Partei und Massenorganisationen haben es bisher nicht verstanden, die wichtige politische Situation der Bevölkerung verständlich zu machen.
     Bei einigen Befragungen in Westberlin zu den Noten der Sowjet-Union über den Abschluß eines Friedensvertrages wurde festgestellt, daß nur wenige Menschen den Inhalt der Noten kannten.
     (Stimmungsbericht vom 3. Mai 1952)

Die Diskussionen um die sowjetischen Noten zum Abschluß eines Friedensvertrages sind langsam in den Hintergrund getreten und zur Zeit werden besonders die Fragen der Nationalen Streitkräfte diskutiert. Hierbei gibt es noch einen großen Teil von Unklarheit, und es wird von der Bevölkerung, zu einem großen Teil auch von Jugendlichen, noch nicht verstanden, daß Militarismus nicht mit Nationalen Streitkräften gleichzusetzen ist.
     Der Aufruf des Zentralkomitees der SED ist noch immer in weiten Kreisen der Bevölkerung unbekannt, und es wird auch kaum in den einzelnen Betrieben darüber diskutiert.
     (Stimmungsbericht vom 15. Mai 1952)

Anmerkungen:
1 Auf sowjetische Veranlassung hatte die DDR-Regierung am 13. Februar 1952 an die vier Mächte die Bitte um beschleunigten Abschluß eines Friedensvertrages gerichtet. Dies nahm Moskau zum Anlaß für seine Vorschläge vom 10. März 1952.
2 Gemeint sind die Noten vom 10. März und 9. April 1952; letztere forderte erneut Viermächte-Verhandlungen über Deutschland.
3 Gemeint ist der Appell »Ruf an die Nation« vom 16. April 1952, der die westdeutsche Bevölkerung zum Massenkampf gegen die »kriegstreiberische Adenauer-Regierung« aufrief.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/1996
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