50 Berlin im Detail | Heimatmuseum Reinickendorf |
Bernd Siegmund
Das geadelte Heimatmuseum »Super!« schrieb im Dezember vorigen Jahres ein Schüler ins Gästebuch des Heimatmuseums Reinickendorf. Ein paar Zeilen tiefer erfolgte durch einen zweiten der verbale Ritterschlag. »Cool. Echt cool!« - Unerwartete Wirkung, soviel Überschwang aus dem Munde junger Menschen ... Das Museum darf sich geadelt fühlen. Und sein Direktor, der promovierte Historiker Ingolf Wernicke, tut das auch.
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Vor kurzem wurde das alte Reinickendorfer Rathaus restauriert, in dem sich heute das Standesamt befindet. Sachkenntnis holten sich die Restaurateure bei den kundigen Archiv-Mitarbeitern des Heimatmuseums. Dort fanden sie die notwendigen Skizzen, Zeichnungen und Fotos.
Obwohl in der amtlichen Biographie des Heimatmuseums vom Geburtsjahr 1980 die Rede ist, sind die Ursprünge der heimatkundlichen Sammlung älter. 1930, vor 66 Jahren, gab es schon einmal eine ständige Heimatkunde-Ausstellung in einem Reinickendorfer Oberreal-Gymnasium. Damals kam - als geistige Nachhut des Ersten Weltkrieges - das Fach Heimatkunde groß in Mode. Jede Schule, die etwas auf sich hielt, trug Bodenständiges aus der Ortsgeschichte zusammen und stellte eine Heimat-Schau in den Mittelpunkt des Unterrichts. Rechten Parteien war das nur recht, Heimatkunde ist leicht zu mißbrauchen. Was schließlich auch geschah. »Das ist der Grund, warum lange Zeit nach dem Krieg niemand etwas mit diesem Fach zu tun haben wollte«, erzählt Dr. Ingolf Wernicke. »Irgendwann in den sechziger Jahren dann wurde wieder eine heimatkundliche Exposition zusammengetragen. Im alten Gutshof Wittenau. Auf diesen Grundstock stützen wir uns heute.« Für Dr. Wernicke ist das Heimatmuseum alles andere als eine bloße Aufbewahranstalt für Geschichte. |
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»Positive und negative Identifikation soll hier stattfinden«, sagt er, »Diskussion, Forschung, Meinungsstreit. Wir wollen keine schöngefärbte Geschichte. Einen solchen Eindruck können unsere Besucher allerdings gewinnen, wenn sie ein erstes Mal durchs Haus gehen. Dazu ist das Biedermeierzimmer, auf das wir stolz sind, einfach zu romantisch. Der Klassenraum zu nostalgisch, die Bauernstube zu schön ... Eine heile Welt. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Eine zweite gibt es auch. Wir arbeiten in den letzten Jahren verstärkt daran, den weißen Flecken in der Regionalgeschichte Farbe zu geben.«
Die Aufarbeitung braucht Zeit. Zumal die Personaldecke des Museums dünn ist. Zwei Mitarbeiterinnen nur hat der Direktor. Unterstützung bekommt das Heimatmuseum vom »Förderverein für Kultur und Bildung e. V.«, von der »Jugend im Museum e. V.« und anderen an der Geschichte interessierten Bürgern. Viele Vorhaben werden sich wohl nur über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen realisieren lassen. So warten zum Beispiel weite Teile der Nazi-Zeit darauf, thematisiert zu werden. Außerdem ist die Geschichte der Juden im Bezirk aufzuarbeiten. Offen ist der Komplex Borsigwerke, die Phase der Industrialisierung Reinickendorfs allgemein. Und verbunden damit: die Wirkung auf die Menschen. Mit einer Ausstellung gewürdigt wurde inzwischen der Gartenarchitekt Ludwig Lesser, der die Gartenstadt Frohnau um 1910 entwarf. |
Logo des Heimatmuseums Reinickendorf Er war auch beteiligt an der »Weißen Stadt«, einer in den zwanziger Jahren gebauten, international stark beachteten Großsiedlung mit ungewöhnlicher Wohn- und Lebensqualität. Aufgrund seiner jüdischen Vorfahren war Lesser bis 1945 eine Unperson, danach ist er in Vergessenheit geraten. - Aber auch die direkte Heimatkunde kommt nicht zu kurz: 1997 wird eine Ausstellung den Ortsteil Lübars würdigen, der 750 Jahre alt wird. Und schließlich: Die Strafanstalt Tegel feiert 1998 ihren 100. Geburtstag. Vermutlich ist dann im Kittchen noch immer kein Zimmer frei.
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Ein seltsamer Zauber geht aus von den Exponaten in den Räumen des Museums. »Die sinnliche Kraft der Gegenstände« nennt Dr. Wernicke dieses Phänomen. Fast zwanghaft berühren die Schüler mit ihren Händen die ausgestellten Zeitzeugnisse, sanft streichen sie übers Holz, atmen tief den Geruch des Museums ein. Nicht ganz so kluge Direktoren würden darin eine Ordnungswidrigkeit sehen. Nicht so Dr. Ingolf Wernicke. Er versteht, warum im Zeitalter der Computer-Animation die Schüler den großen Blasebalg berühren, der in der Schmiede hängt. Vor vielen, vielen Jahren hatte er mit seinem Atem das Feuer unter der Esse bei Laune gehalten. Oder die vorsintflutliche Wäschemangel, die einst im Seifenladen stand. Oder das Zelt aus Rentierfell, das an jene Zeit erinnert, da durch Reinickendorf noch Jäger zogen.
Auf großes Interesse stoßen bei vielen Bürgern Reinickendorfs die Ausstellungen zu speziellen Themen, mit denen das Heimatmuseum seit 1993 von sich reden macht. Zwölf Sonderausstellungen fanden in den zurückliegenden drei Jahren statt. Das »Kriegsende in Reinickendorf« ist gerade zu Ende gegangen. Von der russischen und französischen Besetzung war in dieser Sonderausstellung die Rede. »Über 50 Zeitzeugen haben wir für die Ausstellung befragt«, erzählt Dr. Wernicke. »Das ist unser Vorteil gegenüber den großen Museen: Ortskenntnis. Und der enge Kontakt, den wir zu den Menschen pflegen. |
Natürlich kann man Geschichte, die mehr als fünfzig Jahre zurückliegt, nicht nur aufgrund mündlicher Überlieferungen aufarbeiten. Da laufen die Erinnerungen und die wirklichen Ereignisse oftmals nicht mehr synchron. Aber dazu sind wir ja Historiker, um die mündlichen Geschichten anhand vorhandener Quellen zu relativieren. Viele Bürger jedenfalls haben uns sehr geholfen. Alles, was wir an Exponaten zeigen konnten, hatten uns Reinickendorfer zur Verfügung gestellt. So das Notgeschirr, den Handwagen, jahrelang hatten diese >Zeugen< in muffigen Kellern gelegen, auf staubigen Hängeböden verbracht. Ausgemustert, lieblos in die Ecke gestellt, nutzlos gewordene Dampfkessel, Bücher, ein schäbiger Küchenschrank ... Zur Eröffnung habe ich zehn Minuten lang nichts weiter getan, als Namen vorgelesen, Dank abgestattet.«
In der Ausstellung waren auch Weingläser zu sehen. Keine vornehmen, eleganten. Das Besondere an ihnen war weder der feine Schliff noch ihr edler Klang. Ihre Füße waren es, die sie museumswürdig machten. Allesamt hatten ein Standbein aus Holz. Ein grob geschnitztes, unansehnliches. Eine Prothese, da sie ihr zierliches Glasbein verloren hatten. In den Zeiten der Not sind fehlende Beine für Gläser noch lange kein Grund, um auf den Müll zu wandern. Manchmal sind es gerade die kleinen, die unscheinbaren Dinge, die eine Zeit genau charakterisieren. |
© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/1996
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