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Becker/Friedmann/Schindler
Juden in Treptow
Sie haben geheißen wie ihr heißt

Hrsg.: Kulturbund e. V. Berlin-Treptow,
Edition Hentrich, Reihe Deutsche Vergangenheit/
Stätten der Geschichte Berlins, Band 84,
Berlin 1993

Daß »Juden in Treptow« bereits über zwei Jahre alt ist, sollte unser Interesse an diesem Buch nicht schmälern. Zumal die dem Gedicht »Diese Toten« von Erich Fried entnommene Botschaft der Publikation, »Sie haben geheißen wie ihr heißt«, und ihr Inhalt von den Initiatoren, dem Treptower Kulturbund e. V., auch nach der Drucklegung des Buches in die Öffentlichkeit gebracht wurden: mit einer gleichnamigen Ausstellung zum Buch, die seit August vorigen Jahres noch bis Ende Februar 1996 im Heimat-Museum Treptow zu besichtigen ist.
     »Juden in Treptow« war die erste aus dem Ostteil unserer Stadt stammende Veröffentlichung über Spuren jüdischen Lebens in den Berliner Stadtbezirken. Sie entstand mit Unterstützung des Berliner Generalkonsulats des Staates Israel und vieler anderer Institutionen und Persönlichkeiten des In- und Auslands. In anderen östlichen Bezirken liegen mittlerweile ähnliche Publikationen vor, wie z. B. für Köpenick und Lichtenberg, bzw. wird (wie in Friedrichshain) mit großem Engagement und zumeist auf ABM-Basis entsprechende Spurensuche betrieben. Bei der Gedenken und Nachdenken befördernden Veröffentlichung dieser und ähnlicher Spuren zur Berliner Geschichte hat sich unter den Berliner Kleinverlagen - die, das sei an dieser Stelle hervorgehoben, sich solcherart Themen mit nicht geringem kommerziellen Risiko widmen - nicht zuletzt die Edition Hentrich seit Jahren mit ihrer Reihe Deutsche Vergangenheit/Stätten der Geschichte Berlins verdient gemacht.

Im Buch werden die methodischen Probleme angerissen, vor denen die Herausgeber standen. Denn der Stadtbezirk Treptow, wie wir ihn heute kennen, existiert erst seit etwas mehr als 50 Jahren, mit den Ortsteilen Treptow, Baumschulenweg, Plänterwald, Johannisthal, Niederschöneweide, Adlershof, Altglienicke und Bohnsdorf. Das »historische« Treptow bestand lediglich aus Treptow und Baumschulenweg und war zwischen 1876 und der Eingemeindung nach Berlin im Jahre 1920 selbständige Landgemeinde im Landkreis Teltow. Die Gemeinden des späteren Treptow unterstanden dem Amtsgericht Köpenick, und der Köpenicker Magistrat war die übergeordnete Verwaltungsbehörde. Frühe jüdische Spuren sind deshalb in den Verwaltungs- bzw. Polizeiakten der Stadt Köpenick zu finden, wie Anja Schindler in ihrem Beitrag über »Die Synagogengemeinde zu Coepenick« mitteilt. Jeder der genannten Orte oder Ortsteile hat seine eigene besondere Geschichte, und eine geschlossene Darstellung Treptows gibt es noch nicht. Um so anerkennenswerter ist, daß die Autoren von »Juden in Treptow« ihre Spurensuche auf das ganze Gebiet des heutigen Treptow ausgedehnt haben.
     Nicht mehr festzustellen war, wann und wo sich auf dem Territorium des heutigen Treptow die ersten Juden niedergelassen hatten, meint Ronald Friedmann in seinem historisch einführenden Überblicksbeitrag. Die für viele Jahrzehnte einzigen konkreten Hinweise auf die Existenz von Juden in der älteren Geschichte Treptows sind interessanterweise mit der Bartholdy'schen Meierei vor dem Schlesischen Tor verbunden. Ein Friedrich Heinrich von Bartholdy, Freiherr von Micrander, hatte sie um 1700 begründet, um die Residenzstadt Berlin mit landwirtschaftlichen Produkten zu versorgen. Die Meierei, ein wenig bedeutendes Landgut, lag ungefähr dort, wo heute die Puschkinallee (Treptow) in die Schlesische Straße (Kreuzberg) übergeht, etwa dort, wo sich im ehemaligen Grenzstreifen das Museum der verbotenen Kunst befindet.
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1771 kaufte die Meierei der jüdische Hofbankier Friedrich Wilhelms II., Daniel Itzig (später Hitzig; 1723-1799), der als erster Jude mit seiner Familie die vollen preußischen Bürgerrechte erhalten haben soll. Dessen Enkeltochter, Lea Salomon, heiratete übrigens 1804 einen Sohn Moses Mendelssohns. Lea und Abraham Mendelssohn wählten dann ihren neuen Familiennamen nach dem Landgut vor dem Schlesischen Tor und nannten sich Mendelssohn Bartholdy, ein Name, der durch den Sohn des Paares, den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy, Weltruhm erlangte.
     Für den kleinen Raum des ehemaligen Landkreises Teltow sind für das Jahr 1817 fünf Juden (bei 24 296 Einwohnern), 1849 zehn Juden (69 947 Einwohner) und 596 Juden im Jahr 1880 (137 665 Einwohner) nachgewiesen. Unter den Juden, die in Treptow lebten oder wirkten, waren auch einige, die eine den Bezirk übergreifende Bedeutung für ganz Berlin erlangt haben. So zum Beispiel der aus Oberschlesien stammende Mitbegründer der Dresdner Bank Ludwig Max Goldberger (1848 bis 1913). Als Präsident der ständigen Ausstellungskommission für die deutsche Industrie war er Ideengeber und Organisator der Internationalen Gewerbeausstellung von 1896 im Treptower Park. Zu den bekannteren Treptowern jüdischer Abstammung gehört auch Friedrich Simon Archenhold (1861-1939), der langjährige Direktor der im Anschluß an die Gewerbeausstellung gegründeten Volkssternwarte.
     In der Volkszählung am 16. Juni 1933 waren für Treptow 815 Juden ausgewiesen, im August 1945 waren es nur noch 114 Juden, von denen mindestens 36 in »privilegierten Mischehen« die 12 Jahre brauner Diktatur überlebt hatten. Von den insgesamt über eintausend Juden, die 1933 in Treptow gelebt haben, sind nur sechs bekannt, die nach dem Ende der faschistischen Diktatur wieder nach Treptow zurückgekehrt sind.
Alle anderen sind umgekommen, soweit sie sich nicht durch Flucht retten konnten. Die ersten vier Seiten des Buches füllt eine, auf Grund von nachvollziehbaren Schwierigkeiten keineswegs vollständige Liste mit den Namen der von den Nationalsozialisten ermordeten oder in den Tod getriebenen Treptower Juden. Die Schicksale nur weniger sind bekannt, wird von den Herausgebern mitgeteilt und, daß von vielen nicht einmal der Name blieb. Im Mittelpunkt des Buches stehen Schilderungen von heute in Deutschland, in den USA, in Israel oder anderswo in der Welt lebenden Zeitzeugen. Und gerade darauf beruht die emotionale, zum Nach- und Weiterdenken anregende Wirkung von Buch und Ausstellung, daß über (scheinbar) normales, alltägliches Leben berichtet wird. »Hört auf, aus ihnen ein fremdes Zeichen zu machen! Sie waren nicht nur wie ihr, sie waren ein Teil von euch«, heißt es in dem Gedicht von Erich Fried.
     Ulrich Werner Grimm

Walter Püschel (Hrsg.)
Schlag nach bei Saphir!

Ratschläge zur Lebenskunst aus dem Born des MORITZ GOTTLIEB SAPHIR
Eulenspiegel Verlag, Berlin 1995

Oben angezeigter Verlag und oben angezeigter Herausgeber haben sich an den 200. Geburtstag Moritz Gottlieb Saphirs erinnert. Dafür gebührt ihnen Dank. Aber das ist auch alles. Gut, man kann vom ehemaligen DDR-Fachbuchverlag für Satire und Humor keine kritische Gesamtausgabe eines heute vergessenen Schriftstellers verlangen, aber etwas mehr als die vorliegenden, selten originalgetreu zitierten »Ratschläge zur Lebenskunst« auf 105 Seiten in Oktav plus einem Nachwort von noch einmal 20 Seiten hätten es im Jahre 1995 schon sein sollen.

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Saphir war alles andere als nur ein Aphorismenschreiber, auf den ihn die o. g. Auswahl reduziert und die beigegebenen Vignetten inklusive Titelgraphik von Horst Hussel etikettieren. Das ist entschieden u wenig und wider besseres Wissen zu einseitig gesehen. Die Kriterien der Auswahl werden nicht benannt und es fehlt jeglicher Hinweis auf die z. T. erheblichen Eingriffe in die originale Substanz.
     »Knüppel« statt »Knittel« mag ja als Modernisierung noch hingehen, aber bei folgender Stelle aus Saphirs Aufsatz über »Börne, Heine, Menzel«, den Püschel für mehrere seiner Stichworte ausschlachtet, herrscht die pure Willkür des Jägers und Sammlers:
 
Püschel
Stichwort: Humoristen
Originaltext
Aus: Börne, Heine, Menzel
Das irdische Muttermal unserer neuen Humoristen ist ein roter politischer Zeitflecken. Sie bringen all ihre Kindlein in die politische Feuertaufe und weihen sie gerade dadurch der schnellen Sterblichkeit. Nicht, daß Horaz, Swift, Sterne und viele andere durch ihre Zeitsatiren auf uns kamen. Das irdische Muttermal aller unserer neuen Humoristen ist ein roter politischer Zeitflecken. Sie bringen alle ihre Kindlein in die politische Feuertaufe und weihen sie dadurch gerade der schnellen Sterblichkeit. Irgend ein Scharfdenker sagt ganz richtig: »Nicht daß Horaz, Swift, Sterne u.s.w. durch ihre Zeitsatiren bis auf uns kamen.« Das Anklammern an die Apropos-Geburten der Zeit, um diese als Schwimmkissen auf der Leseflut zu gebrauchen, ist Ursache, daß mit dem Verlaufe dieser Zeit oder dieses Zeitabschnittes auch die an diesem Dampfschiff angebundenen Nachschlepp-Kähne mit in die Vergessenheit gezogen werden.
Die meisten politisch-humoristischen Schriftsteller halten sich für schicksalsvertraute Boten der Zeit, die ihr vorauseilen, um ihr Lager abzustecken; aber sie sind im Grunde Hinterherläufer. Wenn die Zeit aufgebrochen und fortgezogen ist, ziehen sie plündernd nach, knallen hier und da mit ihren Federbüchsen einen einzigen Flüchtling der Zeit nieder, durchstöbern das Schlachtfeld und ziehen den Toten mit Siegesgeschrei das Hemd aus. Die meisten neuen politisch-humoristischen Schriftsteller halten sich oder möchten gerne gehalten sein für schicksalsvertraute Boten der Zeit, die ihr vorauseilen, um ihr Lager abzustecken und Quartier zu bestellen, aber sie sind im Grunde gerade das Gegenteil, sie sind Nachzügler und Hinterherläufer der Zeit; wenn diese aufgebrochen und fortgezogen ist, dann ziehen sie plündernd und sengend in freibeuterischen Kapriolen nach und knallen mit ihren Federbüchsen hie und da einen einzelnen Flüchtling der Zeit nieder, durchstöbern das Zeitschlachtfeld und ziehen dem bereits schon Toten noch mit Siegesgeschrei das letzte Hemd aus. Mit dem humoristischen Salz wollen sie die Zeit füttern oder fangen und erinnern an Kinder, welche sagen, man brauche, um Schwalben zu fangen, ihnen bloß Salz auf den Schwanz zu schütten.
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   108   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Salz tut der Gegenwart wohl not, der literarischen Gegenwart nämlich, um sie vor Fäulnis zu bewahren, aber der politischen Gegenwart mit ihren wunden Tricolor-Striemen ist Salz Gift, ätzendes Gift.
Es gibt nichts widerlicheres, als das Bestreben der jetzigen Schriftsteller, ihre geistige Leerheit mit Politik zu plombieren und um die nackte Schreiberseele einen Purpurmantel zu werfen. Es gibt nichts Widerlicheres als das allseitige Bestreben der jetzigen Schreibsteller, ihre geistige Leerheit mit Politik zu plombieren und um die nackte Schreibeseele einen revolutionären Purpurmantel zu werfen. Die geistige Ohnmacht hat etwas Romantisches und in der literarischen Bettelei ist einige Rührung; aber in dieser falschen Scham des intellektuellenUnvermögens, das sich eines falschen ultraliberalen Priaps bedient,um mit den Männern der Zeit gezählt zu werden, liegt Ekel und Verächtliches.
Die Ungeschicklichkeit auf der Leier soll dadurch bemäntelt werden, daß sie diese Leier als liberales Klöppelkissen gebrauchen, um Brabanter Revolutionsspitzen darauf zu klöppeln. Statt der Harfe nehmen sie die Trompete, um die Mauern des legalen Jericho umzublasen. Die Ungeschicklichkeit auf der dichterischen Leier soll dadurch bemäntelt werden, daß sie diese Leier als liberales Klöppelkissen gebrauchen, um Brabanter Revolutionsspitzen darauf zu klöppeln. Statt der Harfe nehmen sie die Trompete, um die Mauern des legalen Jericho umzublasen.
 

Moritz Gottlieb Saphir
Wo ist hier die editorische Sorgfaltspflicht geblieben? Oder wurde vergessen, daß Auslassungen als solche mit dem Zeichen »(...)« zu kennzeichnen sind?!
     Außerdem gehörte Saphir zu den bevorzugten Opfern nationalsozialistischer Doktoranden, die ihn als Urheber der »Zersetzung« der deutschen Presse und der jüdischen Unterwanderung der deutschen Sprache, als Spiritus rector einer geradenwegs bis zu Alfred Kerr führenden Subjektivierung der Theaterkritik zu denunzieren versuchten, was im Nachwort mit keiner Silbe erwähnt wird. Im Grunde genommen wartet Saphir, der schon unter seinen Zeitgenossen nicht nur Bewunderer hatte, bei Anerkennung aller Widersprüche seiner Person und seiner wechselvollen Biographie, immer noch auf eine historisch gerechte Darstellung seines Lebens und seines Werkes im Kontext seiner Zeit.
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   109   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattArtikelanfang
     Walter Püschel gliedert seine Auswahl alphabetisch, von ADAM bis ZEITGEIST, eine Idee, die er von Saphirs, zusammen mit Glaßbrenner herausgegebenem »Konversationslexikon für Geist, Witz und Humor« übernimmt, und die von Gottlieb Wilhelm Rabener in den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts in die deutschsprachige humoristisch-satirische Literatur eingeführt wurde. Saphir, der sich nie auf den sanften Rabener, des öfteren jedoch auf Jean Paul als seinen »Ahnherren«, speziell auf dessen in der »Vorschule der Aesthetik« enthaltene Gedanken über Witz und Humor zu berufen pflegte - und sie auch als direkte Anweisungen zum Schreiben auszubeuten verstand -, könnte die Idee eines nach dem Alphabet geordneten »Witzlexikons« seinerseits von seinem älteren Wiener satirischen Schriftstellerkollegen Joseph Richter übernommen haben, der im Jahre 1782 unter ausdrücklichem Bezug auf Rabener ein etwa 500 Artikel umfassendes, heute ebenso wie seinen Autor vergessenes »ABC Buch für große Kinder« im josephinischen Wien in zwei Lieferungen veröffentlicht hatte, in dem er seine Zeitgenossen aufs Korn nahm.
     Saphirs Witz ist eben nicht nur am Wiener Vormärz, am Wiener Volkstheater oder am Talmud geschult, wie Püschel in seinem Nachwort in Anlehnung an diesbezügliche Äußerungen über die Prager Rabulistik in dessen Bruchstück gebliebener Autobiographie schreibt, nein, Saphir verdankt »... die überraschenden Wendungen und verqueren Wortspiele in seinem Denken und Schreiben« (Püschel, a. a. O., Nachwort, S. 109) zugleich auch der in das Gewand der Trivialliteratur gekleideten Broschüren- und Bücherflut der josephinischen Aufklärung, die in seinem Werk wie ein fernes Echo nachklingt - und damit und durch ihn weitergelebt hat. Auf jeden Fall ist er ohne sie weniger denkbar. Saphir hat hier seine Vorläufer und er ist hier verankert.
Bei akribischen, bislang noch nicht unternommenen Entdeckungsreisen würde man die Gemeinsamkeiten sogar bis in die Syntax verfolgen können. (Dem interessierten Leser sei hierzu ein Vergleich der Saphirschen Schriften mit dem von Leslie Bodi in dessen maßstabsetzender Publikation »Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781-1795«, S. Fischer, Frankfurt am Main, 1977 vorgelegten Material empfohlen.)
     Die eigentliche Quelle des Saphirschen »Humors« jedoch, die »Essigmutter« seines Witzes, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen, bezog er aus seinem Judentum selbst, aus dem »... hochtragischen Schicksal dieser Nation«, der nichts anderes übrig bliebe, als »... in der tollen Lustigkeit der Ohnmacht aus ... (ihrem) Kerker herauszulachen«, denn: »Klagen und Worte kann man ersticken, aber lachen, gräßlich lachen kann auch der Geknebelte.«
     Paul Thiel

Bildquelle:
Saphir, Schriften in zwei Bänden, Berlin NO, Druck und Verlag von A. Weichert, Neue Königstr. 9, o. J.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/1996
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