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Kurt Wernicke
Altes und Neues zum Fliegenfest

In dem Arbeitsbericht »Streifzüge in die Berliner Kulturgeschichte« des Luisenstädtischen Bildungsvereins, Berlin 1993, hat Rolf Licht seine Forschungsergebnisse in dem Beitrag »Ein Innungsfest als Berliner Volksvergnügen« vorgestellt. Es handelt sich dabei um das Fliegenfest, das die Berliner Raschmacher (Rasch = leichter Wollstoff) im 19. Jahrhundert mit großem Aufwand und bei erheblicher Beteiligung des Publikums jährlich Ende Juli in Pankow feierten. Die in Pankow selbst geläufige Überlieferung, die auf das 1928 erschienene Buch von Otto Behrendt und Karl Malbranc zur Heimatkunde des Pankow benachbarten Bezirks Prenzlauer Berg (»Bei uns auf dem Prenzlauer Berg«) zurückgeht - das Fliegenfest verdanke seine Entstehung und seinen Namen einer Runde fröhlicher Raschmachermeister aus dem Jahre 1842, die in einem Pankower Lokal (»Linder« - das diesen Namen aber erst seit 1860 trug!) beisammensaßen -, hat Rolf Licht vorsichtig in Frage gestellt.
     Ihm schien einerseits die mündliche Tradierung des Vorfalls und ihre 1924 aus der Erinnerung des letzten Obermeisters der

Raschmacherinnung Otto Brunow geholte Beschwörung des Vorgangs nach mancherlei Erfahrungen mit dem Quellenwert von Erinnerungen in der DDR rituell befragter Veteranen der Arbeiterbewegung - die ein beträchtliches Maß an Skepsis lehrten - nicht als der Weisheit letzter Schluß. Und andererseits verunsicherte ihn ein Hinweis des verdienten Berliner Volkskundlers Hermann Kügler in der Zeitschrift »Brandenburgia«, Jahrgang 1929, mit dem jener einen Beleg ankündigte, demzufolge das Fliegenfest schon 1832 gefeiert worden sei.
     Ludwig Rellstabs Bericht in dem von ihm selbst herausgegebenen Periodikum »Berlin. Eine Wochenschrift« in der Nr. 32 vom 8. August 1835, mit dem eine lebhafte Schilderung von des Autors persönlichem Besuch auf dem Fliegenfest jenes Jahres vorliegt, nennt Licht schon selbst in seinen Anmerkungen. (Da Rellstab, ein aufmerksamer Beobachter und kritischer Zeitgenosse, selbst dabei war, darf man ihm übrigens auch ohne Vorbehalt glauben, daß neben den Raschmachern auch die Seidenwirker feierten.) Eine Leserzuschrift von K. G. Williw (veröffentlicht in Heft 9/1994 der »Berlinischen Monatsschrift«, S. 112) brachte eine Quelle zur Kenntnis, die das Fliegenfest für das Jahr 1837 belegt: den tödlich ausgehenden Unfall des Schlächters Eduard Barschel, der die vom Fliegenfest heimkehrenden Wagen am 25. Juli jenes Jahres hatte bestaunen wollen und dabei in eine Grube mit Glasbruch gestürzt war.
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Und wenn J. P. Kux in seinem Buch »Berlin«, erschienen 1842, auf Seite 203 über das Mottenfest der Tuchmacher in Lichtenberg und das Fliegenfest der Raschmacher in Pankow anmerkt, »beide werden jedoch fast von allen Volksklassen sehr zahlreich besucht«, weist das auch auf eine 1842 schon erhebliche traditionelle Verankerung im Kalender der damaligen Berliner Volksvergnügen hin.
     Nichts bleibt also von der von Otto Brunow (sicher im guten Glauben) der Nachwelt hinterlassenen Legende vom Ursprung des Fliegenfestes - eines der vielen Mosaiksteinchen, das dazu beiträgt, den Glauben an den nur begrenzten Quellenwert von Erinnerungen zu überprüfen, namentlich solchen, die nicht durch Vergleiche zu befestigen sind.
     Licht hat den angekündigten Beleg für 1832 nicht gefunden und daraufhin den Verdacht nicht ausgeschlossen, daß er verlorengegangen sein könnte, ehe er publiziert wurde. Eine nochmalige Durchsicht des 1929 angekündigten und 1930 in der Zeitschrift für Volkskunde, Jahrgang 39 (Neue Folge, 1. Band), Berlin/Leipzig 1930, S. 157-165, erschienenen Artikels Hermann Küglers (»Fliegen- und Mottenfest in Berlin«) hat die Quelle für den Nachweis des Fliegenfestes im Jahre 1832 jedoch vor Augen geführt - es ist das »Taschenbuch für Berlin« von Ludwig Helling, erschienen 1832. Hier wird (S. 478) das Fliegenfest als »ein Volksfest, alljährlich im Juli oder August in Pankow gefeiert«, benannt. Das weist übrigens auf ein 1832 schon übliches Begehen des Fliegenfestes hin.
     Unlängst ist mir ein weiterer Beleg für den allgemeinen Bekanntheitsgrad des Fliegenfestes schon in der ersten Hälfte der 30er Jahre zugänglich geworden. Die Musikabteilung der Staatsbibliothek - Preußischer Kulturbesitz, Haus I (Unter den Linden) nennt einen Doppelblatt-Druck ihr eigen, der im Stil des 1828 auf die Bretter gebrachten »Fests der Handwerker« von Louis Angely den Berliner Jargon als selbstverständliche und gesellschaftsfähige Umgangssprache in einem Genre pflegt, das wir heute Couplet nennen: »Posematzky'scher Danzball-Harmonie-Gesellschafts-Walzer von Mr. Crazel, jesungen un jeschprungen uff die Wiese bei Stralow am Fischzugsdag. Eigenthum des Componisten. In Commission bei Wagenführ, Leipzigerstr. No. 50, lithographiert und gedruckt bei Feilgenhauer & Weigel, Leipzigerstr. No. 39« (Sign. Mus. 1169 R). Monsieur Crazel ist nach Vermerk des Katalogs ein Pseudonym für August Tivoli, der in den 30er Jahren mit etlichen Couplets gleicher Art hervortrat (und wohl auch als Pseudonym einzuordnen ist). Besonders originell sind weder Reimrhythmus noch Melodie - beides lehnt sich an das verbreitete Studentenlied »Ich gehe meinen Schlendrian ...« an.
     Der Katalog nennt als Erscheinungsjahr 1832 oder 1833. Diese terminliche Einordnung ist überzeugend, da das Titelblatt von einer farbigen Lithographie geziert wird, die sehr eindrucksvoll den Gecken Posematzky vor dem lebhaften Treiben auf der Festwiese des Stralauer Fischzugs zeichnet.
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Holzschnitt nach einer Zeichnung von Ludwig Richter; »Alte und neue Volkslieder«, 1846
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Mit »Dörbeck fec.« weist sie auf ihren Schöpfer hin - den Stecher und Illustrator Franz Burchard Dörbeck (1799-1835), der mit einer Serie Berliner Volkstypen sich um 1830 in der preußischen Hauptstadt einen Namen machte und ab 1832 auch als Titelillustrator anderer im Berliner Volkston gehaltener musikalischer Einzelwerke auftritt.
     Die von ihm illustrierte Ausgabe des seit 1830 populären (ursprünglich studentischen) Gassenhauers »Hallischer Stiefelknechts-Galopp-Walzer« (Herr Schmidt, Herr Schmidt ...), der ebenfalls von Wagenführ vertrieben wurde, wird auf 1832 datiert - ebenso wie der bei Wagenführ zu habende »Disch-braziohns- oder sanfter Heinrichs-Walzer« (auch von Crazel), auf dessen Titelblatt sich gleichfalls Dörbeck verewigte. Folgt man der zeitlichen Fixierung des Katalogs der Musikabteilung (und warum soll man nicht?), so ordnet sich dieser neugefundene Beleg für das Fliegenfest zwischen Ludwig Helling 1832 und Ludwig Rellstab 1835 ein.
     Wir teilen im folgenden den Text des Couplets mit.

»Ick jehe meinen Schlenderjang
gern under Kleen un Groß,
na Stralow, wenn een Pletzenfang
un ooch een Pferd is los.

Ick jehe meinen Schlenderjang,
wenn ick in Stralow bin,
Un lege, spür ick Herzensdrang,
Mir uff die Wiese hin.

Ick jehe meinen Schlenderjang
zum Fliegen-, Mottenfest;
Na Pankow ohne allen Zwang,
Na Lichtenberg modest.-

Ick jehe meinen Schlenderjang
Un lösche meinen Durscht
Mit enen rechten kühlen Drank
Un eß Salat un Wurscht.

Ick jehe meinen Schlenderjang
Mal in den Trubel rin.
Un such mir Ene, hübsch un schlank
Un - (aber watt schwere Angst haben denn die da vor `ne Pletze geangelt?) *

Ick jehe meinen Schlenderjang
Un setze Enen druff -
En bisken Grunewald dermang,
Der stoßt denn ochsig uff!

Un denk', ett jeht en Schlenderjang
So Mancher Ener hier.
Der Ene schmuddlich, Ener blank,
Un fein wie Postpapier! -

Na! laaßt se man den Schlenderjang
Un ooch den Schleichweg jehn.
Zum Fliegen-, Krebs-, Fisch-, Mottenfang -
Ick will im Wegg nich stehn! -«
 


* Die eingeklammerten Worte müssen gesprochen werden.
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Der Hinweis auf den im letzten Vers angesprochenen Krebsfang könnte auf ein entsprechendes Krebsfest anspielen. Dies bedürfte weiterer Untersuchung.
     Daß das Fliegenfest in Pankow und das Mottenfest in Lichtenberg nicht die einzigen Handwerkerfeste waren, an denen sich - in verschiedenem Umfang - die Öffentlichkeit beteiligte, entnimmt man ebenfalls dem Kügler'schen Aufsatz von 1930. In ihm werden verstreute Aussagen zu Zunftfesten im Bereich der Berliner Textilgewerbe zu der Feststellung gebündelt, daß neben Tuchmachern (Mottenfest) und Raschmachern (Fliegenfest) die Garnweber ihr Flachsfest, die Seidenweber ihr Wurmfest und die Kammacher ihr Läusefest begingen.
     Da aber nur Fliegen- und Mottenfest im Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit ihren Platz hatten und auf gleicher, oder doch fast gleicher Ebene wie Schützenplatz und Stralauer Fischzug fungierten, hoben sie sich doch erheblich von anderen Haupt-Quartalsfesten ab - ja, wie Rellstab 1835 im Falle der Seidenweber bezeugt, integrierten sie solche gegebenenfalls sogar in ihren zum Volksfest ausgeweiteten Charakter. Quartalsfeste und ein jährlich einmal begangenes Haupt-Quartal gehörten natürlich eo ipso zum zünftlerisch organisierten Handwerk.
Weshalb einzelne gerade in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts sich zu wahren Volksfesten mit allem Drum und Dran - z. B. dem unvermeidlichen drehorgelnden Bänkelsänger - mauserten, hängt möglicherweise mit der Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen im Jahre 1810 zusammen. Sie beseitigte die mittelalterlich geprägten Vorrechte der Zünfte und ließ nur freiwilligen Zusammenschluß in Innungen als gewerbliche und soziale Interessenvertretung des jeweiligen Gewerbes zu.
     Besonders potente Innungen präsentierten sich in einer Art Trotzreaktion nun erst recht mit deutlich zur Schau getragenem Selbstbewußtsein vor der Öffentlichkeit! Und deren Reaktion wiederum hing vielleicht von der Örtlichkeit ab, an der sich das nun besonders pompös ausgerichtete Zunftbzw. Innungsfest abspielte.
     Da hatte ein in Pankow ablaufendes Zunftvergnügen natürlich von vornherein einen Vorteil: Wiederum dem Forschereifer Hermann Küglers verdanken wir das Wissen um eine Parodie auf Körners Gedicht »Treuer Tod« in einem Liederbuch, das dessen Besitzer mit einer handschriftlich 1820 datierten Eintragung zierte (ebenfalls mitgeteilt in Küglers Beitrag von 1930);
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die Parodie spielt auf eine traditionelle Lustbarkeit Berliner Schneider in Pankow an (»Der Schneider muß nach Pankow schnell hinaus ...«) und macht sich über die obligate Keilerei in der Gaststätte Hartwig lustig (die uns Licht in seinem Arbeitsbericht als den »Schwarzen Adler« benennt, den Vorläufer des ab 1860 als »Linder« bekannten Pankower Lokals, das in Brunows Erinnerung an den angeblichen Ursprung des Fliegenfestes seine Rolle spielt).      Pankow und seine beiden Dorfkrüge nahmen als Zielort für Handwerkerausflüge und -lustbarkeiten also zweifellos spätestens im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einen festen Platz im Bewußtsein der Berliner Öffentlichkeit ein!
     Als dann gar 1827/28 die Pankower Chaussee »gebahnt« (gepflastert bzw. mit einer gewalzten Kiesschicht versehen) wurde, empfahl sich Pankow noch mehr als Ausflugsziel.
Illustration von Wilhelm Scholz; J. E. Moll, »Berliner vocativus«, 1857
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Die Anbindung an eine Handwerkerfestivität (oder deren mehrere im Jahreslauf) kam mit dem Auslaufen der industriellen Revolution allerdings abhanden, denn die Innungen verloren beim nun einsetzenden Vorherrschen der Industrie ihren althergebrachten Charakter und nahmen, wo sie sich gewandelt in die Industriegesellschaft hinüberretteten, den Charakter reiner Meisterverbände an:
     Der zünftlerische Zusammenhalt von Meistern und Gesellen verschwand, und die gemeinsamen Quartale verblaßten. Andererseits bedurfte seit der Einführung der Gewerbefreiheit im Norddeutschen Bund 1869 der Rummelplatz nun nicht mehr der Anbindung an ein Handwerkerfest und konnte sich zur ständigen Institution profilieren.
     Nach Otto Brunows Erinnerung soll dann auch das letzte Fliegenfest im Jahre 1869 stattgefunden haben. Das ist leicht möglich, weil Brunow das Datum noch von Teilnehmern erfahren haben kann; weil Ende Juli 1870 ein Ausfall des Festes wegen des eben ausgebrochenen Krieges mit Frankreich fast sicher ist - die Erinnerung also an einen markanten Termin gekettet war;
weil Robert Springer in seinem Buch »Berliner Prospecte und Physiognomien« 1870 zwar dem »Schützenplatz« und dem »Großbeerentag« nachtrauert, auch dem Stralauer Fischzug bei weitem seine alte Qualität abspricht, aber für die zu Volksfesten mutierten Zunftfeste nicht einmal mehr eine Bemerkung übrig hat!
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/1996
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