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Gerhard Keiderling
»Es wird berichtet...«

»Heiße Eisen« im Gegenwartskundeunterricht

Das Ostberliner Schulwesen geriet zu Beginn der fünfziger Jahre in den Sog des Kalten Krieges zwischen Ost und West und in den Strudel der »sozialistischen Kulturrevolution« in der DDR. Um den »Einfluß der Arbeiterklasse in der Volksbildung« zu verstärken, hatte die SED die Schulen über ihre Parteiorganisationen und die Ersetzung der »bürgerlichen Lehrkräfte« durch parteiergebene Neulehrer in ihren festen Griff genommen. In Klasse 7 und 8 der Berliner Grundschule und in der Oberschule war das Fach Gegenwartskunde (später Staatsbürgerkunde) mit einer Wochenstunde eingeführt worden.
     Schüler und Eltern, die kritisch bis ablehnend zur »Arbeiterund-Bauern-Macht« standen, lehnten dieses Propagandafach ab. Die Ressentiments waren an den Oberschulen - im November 1952 betrug der Anteil der »Arbeiterund-Bauern-Kinder« erst 35 Prozent - am stärksten. Bemerkenswert war, daß die Schüleräußerungen zumeist Haltungen und Meinungen der Eltern reflektierten, die diese in ihrem Wohn- und Arbeitsumfeld nicht von sich gaben. Im folgenden Auszüge aus den internen Berichten zur Ergründung der Stimmungslage der Ostberliner Bevölkerung.

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In der Schinkelschule, Carmen-Silva-Str. (Erich-Weinert-Straße), wird von den oberen Klassen darüber geklagt, daß die Themen, welche im Gegenwartsunterricht gestellt werden, nicht ausdiskutiert werden können, da meistens dafür nur 1 Stunde zur Verfügung steht. Von der Schulleitung wird mitgeteilt, daß die Oberschüler, besonders die 11. Klassen, einen Gegenwartsunterricht ablehnen, von dem sie glauben, daß der Lehrer keine eigene Stellungnahme dazu erteilt und ihre Fragen deshalb nicht entsprechend beantworten kann. Hierbei handelt es sich um einen Teil der Schüler, die früher und eventuell auch heute noch die Amerikahäuser 1) besuchen und von dort die feindliche Ideologie in die Schule tragen. So wurde z. B. von den Schülern folgende Frage zur Diskussion gestellt : Als die Internierungslager 1949 aufgelöst wurden und die dort internierten Nazis entlassen wurden, verblieb ein weiterer Teil in Haft zur weiteren Bestrafung. 2) Die Frauen der in der Haft verstorbenen Insassen blieben jedoch ohne Nachricht. Da es sich hier zum Teil um Frauen handelt, die seit 1945 arbeiten und von ihrer früheren Auffassung Abstand genommen haben, erhalten sie jetzt von den Magistratsdienststellen keine Genehmigung zur Wiederheirat und eine Todeserklärung von amtlicher Seite erfolgt ebenfalls nicht. -

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Um diese Frage zu klären, hat sich der Schulleiter mit einigen Funktionären vom Kreissekretariat der SED zusammengesetzt; aber auch dort erhielt er keine entsprechende Auskunft.
     (Stimmungsbericht vom 16. Januar 1952)

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Von der Eichendorff-Schule in Köpenick wird mitgeteilt, daß sich gerade im Gegenwartskundeunterricht vielfach die Einstellung der Eltern in den Diskussionsbeiträgen der Schüler widerspiegelt. So tauchten bei einigen Kindern folgende Meinungen auf: Schuman-Plan3) ist ein Beitrag zur friedlichen Vereinigung Europas. Planwirtschaft soll Mittelstand und Klein-Geschäftsleute ruinieren.
     Schwierige und langwierige Diskussionen entstanden an dieser Schule in der Auseinandersetzung mit Schülern, die der christlichen Jungen Gemeinde angehören. 2/3 der Schüler der Eichendorff-Schule gehören dieser Gruppe an und werden von den Pfarrern stark unterstützt.
     Dazu kommt noch, daß der größte Teil der Schüler bis zur 12. Klasse geschlossen am Religionsunterricht teilnimmt. Im Religionsunterricht und im Elternhaus werden die Schüler dahingehend beeinflußt, daß sie sich als Christen mit der Erziehung zum Haß nicht einverstanden erklären können.
     (Stimmungsbericht vom 29. Februar 1952)

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Im Gegenwartskunde-Unterricht der Eichendorff-Schule, Berlin-Köpenick, wurde anläßlich der Besprechung des Films »Das verurteilte Dorf«4) in einer 9. Klasse das Argument »Hätten die Umsiedler so zusammengehalten, wären sie auch nicht von Haus und Hof vertrieben worden« gebracht. Aus der sich daraus ergebenden Diskussion über die Oder-Neiße-Grenze mußte festgestellt werden, daß ein Teil der Schüler nicht damit einverstanden ist.
     In der Diskussion über »6 Jahre FDJ« erklärten Schüler, die in der sogenannten »Jungen Gemeinde« arbeiten: »Die FDJ kann uns menschlich und kameradschaftlich nicht viel bieten.« »Die FDJler sind selbst unkameradschaftlich und halten nicht zusammen. Ihr Umgangston ist beispielsweise zu scharf und zum Teil ungehörig.«
     In der Oberschule II, Weißensee, machte sich - wie Schulleiter Friedrichs erklärte - der Einfluß des Generalsuperintendenten Krummacher bei den Schülern in der Diskussion über das Thema »Sind Kriege vermeidbar« insofern bemerkbar, als daß die Argumentation: Kriege sind eine Erscheinungsform des Kapitalismus, z. T. nicht anerkannt, sondern erklärt wurde: »Es würde keine Kriege geben, wenn alle Menschen nach Gottes Geboten lebten.«
     (Stimmungsbericht vom 5. April 1952)

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Die Leitung der VI. Schule Köpenick erklärt, daß die Erkenntnisse am Schluß der Gegenwartskunde von den Kindern meist bejaht werden, aber immer wieder bringen sie Einwände, deren Quellen meist der RIAS ist. Immer wieder wird die Oder-Neiße-Grenze diskutiert.
     Von der Schulleitung wurden die Eltern dieser Kinder eingeladen, und es wurde mit ihnen darüber diskutiert. Diese Aussprachen fanden im Beisein des Gegenwartskundelehrers und eines Mitglieds des Elternausschusses statt.
     Die Eltern gehen meist mit wenig Verständnis an die Gegenwartsprobleme heran und haben meist ein recht oberflächliches Wissen von den Geschehnissen, und auch sie hören meist nur den RIAS.
     Die Schulleitung hat außerdem eine Verbindung mit der Nationalen Front aufgenommen und den Aufklärern die Anschrift der Eltern gegeben, deren Kinder besonders RIAS-Argumente bringen, mit der Bitte, mit den Eltern zu diskutieren. Ergebnisse aus dieser Methode liegen noch nicht vor. [...]
     Bei dem Thema Verfassung, Justiz, Recht der Verteidigung und der hohe Stand des Bewußtseins unserer Volksrichter erklärte ein Schüler: »Das glaube ich nicht, mein Bruder ist zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, ohne daß jemand von der Familie zugegen war, da es niemand wußte.«

Eine Schülerin erklärte: »Meine Eltern mußten ihr Haus an die Sowjetarmee abgeben, als es jetzt frei wurde, bekam es ein Regierungsvertreter.«
     (Stimmungsbericht vom 3. Mai 1952)

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18. Schule Oberschöneweide: In der 6. Klasse der obigen Schule wurde bei der Behandlung der Noten der Sowjet-Union5) von einem Mädchen erklärt: »Ich nehme dazu nicht Stellung, weil ich noch nicht 21 Jahre alt bin. Wenn Sie etwas wissen wollen, müssen Sie zu meiner Mutter gehen.« (Die Mutter ist in Oberschöneweide Vorsitzende des kirchlichen Erziehungsrates.) In der 7. Klasse wurde bei der Behandlung des Lebens Ernst Thälmanns auch von seiner Haft in Bautzen gesprochen. Ein Schüler sagte darauf: »Es ist ja heute auch nicht anders, mein Onkel ist ebenfalls zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt worden und befindet sich auch in Bautzen.« Auf die Frage des Lehrers, warum sein Onkel dort wäre, konnte der Schüler keine Auskunft geben.
     (Stimmungsbericht vom 15. Mai 1952)

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Im Gegenwartskunde-Unterricht kommen in der 8. Klasse der 20. Schule Pankow und in der Zehnklassenschule6) Pistoriusstr., Weißensee, falsche ideologische Auffassungen der Schüler zum Ausdruck.

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Die Einflüsse des Rias und der westlichen Presse spiegeln sich in den folgenden Fragen der Schüler wider: »Warum sollen wir nicht im Westsektor ins Kino gehen?« »Warum sollen wir nicht den Rias hören?« »Warum dürfen wir nichts im Westen kaufen? Die Qualität der Ware ist doch besser, und es ist nicht richtig, daß die Ware an der Sektorengrenze abgenommen wird.«
     In der 8. Klasse der 20. Schule Pankow besteht weiterhin noch eine starke Ablehnung gegen Nationale Streitkräfte. Sie werden von den Schülern noch immer mit der alten Wehrmacht verglichen. Aktivisten werden - weil sie angeblich die Arbeitsbedingungen verschlechtern - noch oft als Lohndrücker angesehen.
     In der Ibsenschule im Bezirk Prenzlauer Berg, einer Schule für das 9. Schuljahr, die insgesamt 10 Mädchenklassen umfaßt (Alter der Schülerinnen 14 bis 15 Jahre), traten so viel politische Gegenargumente im Gegenwartskunde-Unterricht am 14. 11. 52 auf, daß es dem Volkspolizei-Kommandanten Pfaff, der als Leiter der Volkspolizei-Schule (Patenschule der Ibsenschule) diesen Unterricht übernommen hatte und über die Aufgaben der Volkspolizei und der Stummpolizei seminaristisch diskutieren wollte, überhaupt nicht mehr möglich war, zum eigentlichen Thema zu sprechen. [...]
     (Stimmungsbericht vom 5. Dezember 1952)
Anmerkungen:
1 Die US-Militärregierung hatte im Juni 1949 am Nollendorfplatz (Schöneberg) ein Informationszentrum über die USA für die Bevölkerung eingerichtet. Es bezog im Juni 1957 den Neubau am Bahnhof Zoo. Das »Amerika-Haus« galt in der DDR als Agenten- und Diversionszentrale.
2 Die Auflösung der Internierungslager Sachsenhausen und Buchenwald gab die Sowjetische Kontrollkommission in Deutschland am 14. Januar 1950 bekannt. Danach wurden 15 038 Häftlinge entlassen, 3 432 zur weiteren Untersuchung und 10 513 zur Verbüßung ihrer Strafen dem DDR-Ministerium des Innern überstellt. 649 Häftlinge verblieben in sowjetischem Gewahrsam.
3 Der vom französischen Außenminister Robert Schuman 1950 initiierte Plan einer »Fusion« der westdeutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion (Montanunion) wurde zu einem Grundpfeiler der Europäischen Gemeinschaft.
4 Der DEFA-Spielfilm über den fiktiven Widerstand einer westdeutschen Gemeinde gegen den Bau eines US-Truppenübungsplatzes geißelte die von der NATO vermeintlich ausgehende Kriegsgefahr. Betriebe, Einrichtungen und Schulen waren zum Besuch des Films angehalten worden.
5 Gemeint ist der Notenwechsel zwischen der UdSSR und den Westmächten im Zusammenhang mit der sog. Stalin-Note vom 10. März 1952, die weitreichende Vorschläge zur Wiedervereinigung Deutschlands enthielt.
6 Der Magistrat von Berlin (Ost) beschloß die Einführung von Zehnklassenschulen (mittlere Reife) zum 1. September 1951.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/1996
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