91 Geschichte und Geschichten | Interne Berichte |
Gerhard Keiderling
»Es wird berichtet...« »Heiße Eisen« im Gegenwartskundeunterricht Das Ostberliner Schulwesen geriet zu Beginn der fünfziger Jahre in den Sog des Kalten Krieges zwischen Ost und West und in den Strudel der »sozialistischen Kulturrevolution« in der DDR. Um den »Einfluß der Arbeiterklasse in der Volksbildung« zu verstärken, hatte die SED die Schulen über ihre Parteiorganisationen und die Ersetzung der »bürgerlichen Lehrkräfte« durch parteiergebene Neulehrer in ihren festen Griff genommen. In Klasse 7 und 8 der Berliner Grundschule und in der Oberschule war das Fach Gegenwartskunde (später Staatsbürgerkunde) mit einer Wochenstunde eingeführt worden.
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In der Schinkelschule, Carmen-Silva-Str. (Erich-Weinert-Straße), wird von den oberen Klassen darüber geklagt, daß die Themen, welche im Gegenwartsunterricht gestellt werden, nicht ausdiskutiert werden können, da meistens dafür nur 1 Stunde zur Verfügung steht. Von der Schulleitung wird mitgeteilt, daß die Oberschüler, besonders die 11. Klassen, einen Gegenwartsunterricht ablehnen, von dem sie glauben, daß der Lehrer keine eigene Stellungnahme dazu erteilt und ihre Fragen deshalb nicht entsprechend beantworten kann. Hierbei handelt es sich um einen Teil der Schüler, die früher und eventuell auch heute noch die Amerikahäuser 1) besuchen und von dort die feindliche Ideologie in die Schule tragen. So wurde z. B. von den Schülern folgende Frage zur Diskussion gestellt : Als die Internierungslager 1949 aufgelöst wurden und die dort internierten Nazis entlassen wurden, verblieb ein weiterer Teil in Haft zur weiteren Bestrafung. 2) Die Frauen der in der Haft verstorbenen Insassen blieben jedoch ohne Nachricht. Da es sich hier zum Teil um Frauen handelt, die seit 1945 arbeiten und von ihrer früheren Auffassung Abstand genommen haben, erhalten sie jetzt von den Magistratsdienststellen keine Genehmigung zur Wiederheirat und eine Todeserklärung von amtlicher Seite erfolgt ebenfalls nicht. - |
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Um diese Frage zu klären, hat sich der Schulleiter mit einigen Funktionären vom Kreissekretariat der SED zusammengesetzt; aber auch dort erhielt er keine entsprechende Auskunft.
(Stimmungsbericht vom 16. Januar 1952) Von der Eichendorff-Schule in Köpenick wird mitgeteilt, daß sich gerade im Gegenwartskundeunterricht vielfach die Einstellung der Eltern in den Diskussionsbeiträgen der Schüler widerspiegelt. So tauchten bei einigen Kindern folgende Meinungen auf: Schuman-Plan3) ist ein Beitrag zur friedlichen Vereinigung Europas. Planwirtschaft soll Mittelstand und Klein-Geschäftsleute ruinieren.
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Im Gegenwartskunde-Unterricht der Eichendorff-Schule, Berlin-Köpenick, wurde anläßlich der Besprechung des Films »Das verurteilte Dorf«4) in einer 9. Klasse das Argument »Hätten die Umsiedler so zusammengehalten, wären sie auch nicht von Haus und Hof vertrieben worden« gebracht. Aus der sich daraus ergebenden Diskussion über die Oder-Neiße-Grenze mußte festgestellt werden, daß ein Teil der Schüler nicht damit einverstanden ist.
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Die Leitung der VI. Schule Köpenick erklärt, daß die Erkenntnisse am Schluß der Gegenwartskunde von den Kindern meist bejaht werden, aber immer wieder bringen sie Einwände, deren Quellen meist der RIAS ist. Immer wieder wird die Oder-Neiße-Grenze diskutiert.
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Eine Schülerin erklärte: »Meine Eltern mußten ihr Haus an die Sowjetarmee abgeben, als es jetzt frei wurde, bekam es ein Regierungsvertreter.«
(Stimmungsbericht vom 3. Mai 1952) 18. Schule Oberschöneweide: In der 6. Klasse der obigen Schule wurde bei der Behandlung der Noten der Sowjet-Union5) von einem Mädchen erklärt: »Ich nehme dazu nicht Stellung, weil ich noch nicht 21 Jahre alt bin. Wenn Sie etwas wissen wollen, müssen Sie zu meiner Mutter gehen.« (Die Mutter ist in Oberschöneweide Vorsitzende des kirchlichen Erziehungsrates.) In der 7. Klasse wurde bei der Behandlung des Lebens Ernst Thälmanns auch von seiner Haft in Bautzen gesprochen. Ein Schüler sagte darauf: »Es ist ja heute auch nicht anders, mein Onkel ist ebenfalls zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt worden und befindet sich auch in Bautzen.« Auf die Frage des Lehrers, warum sein Onkel dort wäre, konnte der Schüler keine Auskunft geben.
Im Gegenwartskunde-Unterricht kommen in der 8. Klasse der 20. Schule Pankow und in der Zehnklassenschule6) Pistoriusstr., Weißensee, falsche ideologische Auffassungen der Schüler zum Ausdruck. |
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Die Einflüsse des Rias und der westlichen Presse spiegeln sich in den folgenden Fragen der Schüler wider: »Warum sollen wir nicht im Westsektor ins Kino gehen?« »Warum sollen wir nicht den Rias hören?« »Warum dürfen wir nichts im Westen kaufen? Die Qualität der Ware ist doch besser, und es ist nicht richtig, daß die Ware an der Sektorengrenze abgenommen wird.«
In der 8. Klasse der 20. Schule Pankow besteht weiterhin noch eine starke Ablehnung gegen Nationale Streitkräfte. Sie werden von den Schülern noch immer mit der alten Wehrmacht verglichen. Aktivisten werden - weil sie angeblich die Arbeitsbedingungen verschlechtern - noch oft als Lohndrücker angesehen. In der Ibsenschule im Bezirk Prenzlauer Berg, einer Schule für das 9. Schuljahr, die insgesamt 10 Mädchenklassen umfaßt (Alter der Schülerinnen 14 bis 15 Jahre), traten so viel politische Gegenargumente im Gegenwartskunde-Unterricht am 14. 11. 52 auf, daß es dem Volkspolizei-Kommandanten Pfaff, der als Leiter der Volkspolizei-Schule (Patenschule der Ibsenschule) diesen Unterricht übernommen hatte und über die Aufgaben der Volkspolizei und der Stummpolizei seminaristisch diskutieren wollte, überhaupt nicht mehr möglich war, zum eigentlichen Thema zu sprechen. [...] (Stimmungsbericht vom 5. Dezember 1952) |
Anmerkungen:
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/1996
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