86   Geschichte und Geschichten Friedrich II. und Leonhard Euler  Nächstes Blatt
Annette Vogt
Zu verwenden wäre eine dorische Säule

Friedrich II. über den berühmten Mathematiker Leonhard Euler

Der Spaziergänger, der heute durch die Behrenstraße im Stadtbezirk Mitte bummelt, kann schräg gegenüber vom Grand-Hotel bzw. dem Gebäude der Komischen Oper ein sehr altes schönes Gebäude sehen. Und wer aufmerksam schaut, entdeckt nicht nur das Staatswappen des Freistaates Bayern, der in dem Haus seine Vertretung hat, sondern er kann eine Gedenktafel finden: An diesem Ort hat der berühmte Mathematiker Leonhard Euler (1707-1783) von 1741 bis 1766 gelebt. Zu seinem Gedenken hat die Stadt Berlin 1907 die Tafel angebracht. Vielleicht als Wiedergutmachung für die schlechte Behandlung durch Friedrich II. (1712-1786), die dazu führte, daß Euler am 2. Februar 1766 bat, aus dessen Diensten entlassen zu werden.
     Berlin und Basel sind zwei wichtige Lebensstationen des produktiven Mathematikers, der so berühmt wie Galilei, Newton oder Einstein wurde. In Basel geboren, erhielt er an der dortigen Universität seine Ausbildung. Die Mathematikvorlesungen des berühmten Johann Bernoulli (1667-1748) prägten ihn besonders, und mit Johanns Sohn Daniel freundete er sich an.

Nachdem Daniel Bernoulli (1700-1782) 1725 an die noch von Zar Peter I. (1672-1725) gegründete Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg berufen wurde, folgte ihm Euler zwei Jahre später nach.

Der Weg zum Ruhm

Es begann seine erste große Schaffensperiode (1727-1740/41), die ihn zu Weltruhm gelangen ließ. Er lernte übrigens auch die russische Sprache, weil er in der an die Akademie angeschlossenen Universität Vorlesungen zur Mathematik, Physik und Logik hielt. Die 1731 erfolgte Wahl als ordentliches Mitglied der Akademie und die Physikprofessur erlaubten es ihm, mit einem Jahresgehalt von 660 Rubeln an eine Familiengründung zu denken. So heiratete er am 27. Dezember 1733 (alten Kalenderstils, d. h. am 7. Januar 1734) Katharina Gsell (1707-1773), eine Tochter des aus St. Gallen stammenden Kunstmalers, den noch Zar Peter I. für seine Kunstakademie in das »Venedig des Nordens« geholt hatte; im November 1734 wurde ihr erster Sohn Johann Albrecht geboren. Schon 1738 verlor Euler das rechte Augenlicht, entweder infolge Überanstrengung bei kartographischen Arbeiten für Rußlands Atlanten oder nach einer Infektionskrankheit. In St. Petersburg widmete er sich besonders der Mechanik, der Schiffstheorie, aber auch der Musiktheorie und veröffentlichte dazu seine ersten großen Abhandlungen.

BlattanfangNächstes Blatt

   87   Geschichte und Geschichten Friedrich II. und Leonhard Euler  Voriges BlattNächstes Blatt
     Als sich 1740 nach dem Tode der Zarin Anna (1693-1740) die innenpolitischen Zustände Rußlands verschlechterten und es ungewiß war, ob die guten Arbeitsbedingungen an der Akademie erhalten bleiben würden, traf ein Angebot aus Berlin ein. In Preußen war Friedrich II. König geworden, und zu seinen ehrgeizigen Plänen gehörte die Wiederbelebung der Berliner Akademie der Wissenschaften, die zwar 1700 gegründet worden war, aber in der Zeit der Regentschaft seines Vaters Friedrich Wilhelm I. (1688-1740) ein kümmerliches Dasein fristen mußte. Der Sohn wollte sie zu einem Zentrum der Wissenschaften machen wie die von St. Petersburg, London und Paris und deshalb Gelehrte von Weltruf aus ganz Europa nach Berlin holen.

Der Ruf nach Berlin

Natürlich beruhte die Wertschätzung der (Natur)Wissenschaften und ihrer Vertreter auch auf der Erkenntnis, daß wissenschaftliche Ergebnisse einen beachtlichen ökonomischen und militärischen Nutzen bringen konnten. Also beauftragte Friedrich II. seinen Gesandten am Zarenhof, Euler - »le plus grand Algebraiste de l'Europe« (den größten Mathematiker Europas) -, wie er schrieb, für 1 200 bzw. dann 1 600 Taler nach Berlin zu holen.

Euler nahm das Angebot an und verließ, jedoch nach einigen Mühen, weil man ihn nicht gehen lassen wollte, mit seiner Frau und den Söhnen Johann Albrecht und Karl (geb. 1740) St. Petersburg in Richtung Berlin. Hier traf die Familie am 25. Juli 1741 ein. Aber Euler, den Friedrich II. eigentlich gerufen hatte, um die Berliner Akademie zu reorganisieren, hatte noch wenig zu tun, denn diese Pläne traten hinter die noch ehrgeizigeren Eroberungspläne des preußischen Königs zurück; der Erste Schlesische Krieg hatte begonnen. So schrieb Euler am 10. April 1742 an seinen Kollegen G. F. Müller (1705-1783) in Petersburg: »Was meinen und der Meinigen Zustand allhier betrifft, so leben wir der Kriegsunruhen ungeacht in vollkommener Ruhe. Die Hohe Intention Ihro Königl. Majestät, kraft deren ich hierher beruffen worden, ging dahin, aus der bißherigen hiesigen Societät eine wohl eingerichtete Academie der Wissenschaften zu établieren, bißher aber ist die Vollziehung dieses Desseins durch die noch weit ausstehenden Kriegstroublen gehemmet worden; jedoch aber haben Ihro Majestät beschlossen, auf künftigen Winter diese Sach vorzunehmen. Inzwischen lebe ich hier völlig independent, bekomme meine Pension richtig und dependire von niemand als immediate von Ihro Majestät.«1)
BlattanfangNächstes Blatt

   88   Geschichte und Geschichten Friedrich II. und Leonhard Euler  Voriges BlattNächstes Blatt
     Fünf Monate später, am 6. September 1742, nahm er an der ersten wieder stattfindenden Sitzung der mathematischen Klasse teil (die Akademie bestand aus zwei Klassen, einer mathematisch-physikalischen und einer philosophisch-literarischen), wurde als neues Mitglied begrüßt, von dem man sich »alle Hilfe, Rat, Beistand und Freundschaft zum eigenen und zum besten der Societät gewiß verspreche«,2) und nahm an der Ausgabe des siebenten Bandes der Abhandlungen der Akademie - den »Miscellanea« - teil, für die er fünf (!) mathematische Arbeiten verfaßte. Aber als neuer Präsident galt bereits der französische Gelehrte Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698-1759) - international bekannt geworden durch seine Lappland-Expedition, mit der die Abplattung der Pole der Erde nachgewiesen werden konnte -, der aber erst 1745 endgültig das Angebot annahm, während Euler am 3. Februar 1746 zum Direktor der mathematischen Klasse der Akademie ernannt wurde. Die Vorliebe des Königs für alles Französische und die Mißachtung Eulers, bei aller öffentlichen und finanziellen Achtung, kamen bald zum Vorschein. Wie wenig Friedrich II. den Wert Eulers einzuschätzen vermochte, bezeugte ein Brief an seinen Bruder vom 31. Oktober 1746: »Liebster Bruder! Ich dachte schon, daß Deine Unterhaltung mit Herrn Euler Dich nicht erbauen würde. Seine Epigramme bestehen in Berechnungen neuer Kurven, irgendwelcher Kegelschnitte oder astronomischer Messungen. Unter den Gelehrten gibt es solche gewaltige Rechner, Kommentatoren, Übersetzer und Kompilatoren, die in der Republik der Wissenschaften nützlich, aber sonst alles andere als glänzend sind. Man verwendet sie wie die dorischen Säulen in der Baukunst. Sie gehören in den Unterstock, als Träger des ganzen Bauwerkes und der korinthischen Säulen, die seine Zierde bilden.«3)

Witwenkassen und Glücksspiele

Euler leistete eine gewaltige Arbeit, um das wissenschaftliche Ansehen der Berliner Akademie zu heben. Er war der wissenschaftlich bedeutendste und produktivste unter den Direktoren der Klassen. Außerdem war er von 1741 bis 1766 Direktor der akademischen Sternwarte und vertrat viele Jahre Maupertuis. Alle 14 Tage legte er in den Klassensitzungen einen Vortrag vor, daneben gab er diverse Gutachten über technische Fragen ab, so zur Konstruktion von Maschinen oder Pumpen. Seine Übersetzung und Überarbeitung des englischen Buchs »Neue Grundsätze der Artillerie« von Benjamin Robins bildete jahrzehntelang das Standardwerk der Artillerie-Ausbildung in Europa. Friedrich II. forderte darüber hinaus auch praktische Arbeiten, so mußte sich Euler 1749 zum Bau des Finow-Kanals zwischen Oder und Havel äußern, aber auch zur Einrichtung von Witwen- und Waisenkassen sowie zu Lotterien und Glücksspielen.
     Seine eigentlichen Leistungen zum Fortschritt der Mathematik wurden indes vom Preußenkönig verkannt.

BlattanfangNächstes Blatt

   89   Geschichte und Geschichten Friedrich II. und Leonhard Euler  Voriges BlattNächstes Blatt
Dabei waren die 25 Jahre in Berlin für Euler äußerst fruchtbar. Er verfaßte Hunderte Abhandlungen, und es entstanden die Hauptwerke zur Variationsrechnung und Himmelsmechanik (1744), die »Einführung in die Analysis des Unendlichen« (1745-1748), das Buch zum Schiffsingenieurwesen (1749), die erste »Mondtheorie« (1751), das 1748 geschriebene und 1755 gedruckte Grundlagenwerk »Differentialrechnung« sowie die »Mechanik der Festkörper« (1765). Außerdem schrieb er bereits 1763 sein Werk »Integralrechnung«, und auch die »Briefe an eine deutsche Prinzessin« verfaßte er in Berlin, obwohl sie erst 1768 erschienen. Seine Monographien bildeten jahrzehntelang die Standardwerke der Analysis und wurden zu Musterbeispielen künftiger mathematischer Lehrbücher. (Euler war so produktiv, daß die 1907 begonnene Werkausgabe auch 1996 noch nicht abgeschlossen sein wird). All dies verfaßte er, obwohl er während des Siebenjährigen Krieges (1755-1763) und nach Maupertuis' Tod 1759 faktisch die Berliner Akademie leitete! Daneben verstand er es, seine Beziehungen nach Rußland, zur Petersburger Akademie, trotz des Siebenjährigen Krieges, in dem sich Rußland und Preußen als Gegner gegenüberstanden, fortzusetzen. Er erhielt sogar weiterhin seine jährliche Pension von 200 Rubel, die ihm 1742 nach der Wahl als Auswärtiges Mitglied der Petersburger Akademie bewilligt wurde, ausgezahlt. Sein umfangreicher Briefwechsel mit Petersburger Gelehrten gab beredt Zeugnis von seinem Wirken zum Wohl beider Akademien und deren Zusammenarbeit. Auch sorgte er sich um die Ausbildung junger begabter Wissenschaftler, beherbergte zeitweilig junge russische Mathematiker in seinem Berliner Haus bzw. auf seinem Landgut in Charlottenburg und bemühte sich um die Gewinnung bekannter Forscher für die Petersburger Akademie.
     Die überaus erfolgreiche Tätigkeit von Euler führte jedoch nicht zu einer höheren Anerkennung durch Friedrich II. Im Gegenteil, in dem Bemühen, den französischen Mathematiker Jean le Rond d'Alembert (1717-1783) - einer der bedeutendsten Mathematiker nach Euler und mit Denis Diderot (1713-1784) Herausgeber der berühmten »Encyclopedie« - als Nachfolger für Maupertuis zu gewinnen, obwohl Euler dessen Arbeit geleistet hatte und leistete, mußte für Euler eine große Kränkung, ein Mißtrauensvotum bedeuten. Zwar lehnte d'Alembert bei seinem Aufenthalt in Potsdam im Sommer 1763 ab, besuchte Euler in Berlin und schlug ihn darüber hinaus mehrfach als Präsident vor. Aber Friedrich II. wollte Euler nicht als Präsident, leistete jedoch entschieden Widerstand, als der zurück nach St. Petersburg gehen wollte. Seit 1763, als Euler von Friedrich II. tief gedemütigt und gekränkt ward, begann er an einen Weggang aus Berlin zu denken.
BlattanfangNächstes Blatt

   90   Geschichte und Geschichten Friedrich II. und Leonhard Euler  Voriges BlattArtikelanfang
Ein Ende mit Denkmal

In Rußland war 1762 die Prinzessin aus Zerbst als Zarin Katharina II. (1729-1796) an die Macht gekommen, sie verstand sehr wohl den Wert des Mathematikers zu schätzen und erreichte schließlich, daß Friedrich II. Euler und seine Familie 1766 ausreisen ließ. Noch 17 Jahre war Euler in St. Petersburg tätig und verfaßte, obwohl kurz nach der Ankunft völlig erblindet, weitere fundamentale Arbeiten, galt als der bedeutendste Kopf der Petersburger Akademie und wurde hoch geschätzt und geehrt. Am 18. September 1783 starb er in St. Petersburg, die Akademie ließ ihm zu Ehren ein Denkmal errichten. Auch die Schweiz ehrte ihren berühmten Baseler Sohn: Bis heute ziert sein Porträt die Zehn-Franc-Note. An dem Reiterstandbild Friedrichs II., das Unter den Linden steht, an dem Generäle (am Kopf des Pferdes) und Gelehrte (unterm Schwanz des Pferdes) aus der Zeit Friedrichs II. sehr sinnbildlich angeordnet wurden, sucht man die Figur Eulers vergebens ...

Quellen:
1 Die Berliner und die Petersburger Akademie der Wissenschaften im Briefwechsel Leonhard Eulers. Hrsg. Adol'f Pavlovic Juskevic und Eduard Winter. Teil 1. Briefwechsel mit G. F. Müller. 1736-1767, Akademie-Verlag, Berlin 1959, S. 48

2 Eduard Winter: Die Register der Berliner Akademie der Wissenschaften. 1746 bis 1766, Akademie-Verlag, Berlin 1958
3 Die Berliner und die Petersburger Akademie ..., a. a. O., zitiert in Teil 1, S. 3

Literatur:
Emil A. Fellmann: Leonhard Euler. rowohlts monographien, Reinbek bei Hamburg, 1995

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/1996
www.berlinische-monatsschrift.de