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Gisela Eggert
Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie

Berlin 1910 - die Friedrich-Wilhelms-Universität, Symbol für die Einheit von Lehre und Forschung, war gerade 100 Jahre alt geworden. Was sie an Forschungsvorlauf bieten konnte, reichte der expandierenden deutschen Wirtschaft nicht mehr aus. Kaiser Wilhelm II. rief deshalb, angeregt durch eine Denkschrift des Theologen Adolf von Harnack vom November 1909, an ihrem 100. Jahrestag zur Gründung einer Forschungsgesellschaft auf, deren Aufgabe es sein sollte, selbständige, vor allem naturwissenschaftliche, Forschungsinstitute zu errichten. Das Betreiben dieser Institute, die frei von Lehrverpflichtungen interdisziplinär und mit der modernsten Apparatur arbeiten sollten, kostete jedoch viel Geld. Die neue Gesellschaft brachte dieses Geld über Spenden und durch Mitglieder aus der Wirtschaft auf.
     Am 11. Januar 1911 kam es unter der Schirmherrschaft Kaiser Wilhelms II. zur Gründung der »Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V.«.

     Die Pläne für die Gründung einer außeruniversitären chemischen Forschungseinrichtung waren zu diesem Zeitpunkt so weit gediehen, daß noch im Dezember des gleichen Jahres die Gesellschaft zusammen mit dem Verein »Chemische Reichsanstalt« als eines der ersten Institute das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem gründete. Eine Million Mark Gründungskapital und 58 000 Mark Jahresbeiträge standen zur Verfügung. In kurzer Zeit gelang es, den Institutsneubau zu errichten, die Verwaltung zu organisieren und Wissenschaftler zu berufen. Das Institut an der Dahlemer Thielallee wurde, gemeinsam mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie, in Anwesenheit des Kaisers am 23. Oktober 1912 eingeweiht. Ein Jahr später wurden, um einen Verkehrsanschluß für das Forschungszentrum herzustellen, in nächster Nähe die U-Bahnhöfe Dahlem-Dorf und Thielplatz ihrer Bestimmung übergeben.
     Das Institutsgebäude sollte in seiner Architektur den Zwecken des Hauses angepaßt sein. Die Baupläne wurden vom Hofarchitekten Ernst von Ihne (1848-1917), der u. a. die Staatsbibliothek Unter den Linden entworfen hatte, unter Mitwirkung von Ernst Beckmann (1853-1923), dem ersten Institutsdirektor, entworfen.
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     Die Institutsanlage bestand aus drei Gebäuden: Hauptgebäude, Pförtnerhaus und Direktorwohnhaus. Das Hauptgebäude war in Mittelbau, Südflügel und den Nordflügel gegliedert. Diese Anordnung ermöglichte die Arbeit von drei selbständigen Laboratoriumsabteilungen. Im ersten Obergeschoß und im Erdgeschoß befanden sich die Laboratorien der Wissenschaftler, die Bibliothek lag im zweiten Obergeschoß des Hauses. 1914 wurden noch drei Laborräume für Carl Liebermann (1842-1914) eingerichtet, der als Gast von dieser Zeit an bis zu seinem Tode dem Institut angehörte.
     Zu wissenschaftlichen Mitgliedern des Instituts wurden Richard Willstätter (1872-1942), Otto Hahn (1879-1968) und kurze Zeit danach Lise Meitner (1878-1968) berufen. Willstätter folgte im Frühjahr 1916 ei ner Berufung nach München. Kurz zuvor, im Dezember 1915, wurde ihm der Nobelpreis verliehen.

Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie um 1910
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     Das Forschungsspektrum des Instituts umfaßte die Gebiete der organischen und anorganischen Chemie. Ernst Beckmann arbeitete über Probleme der Flammenfärbung, der Molekulargewichtsbestimmung nach der Siedepunkts- und Gefrierpunktsmethode, über Strohaufschließung; Richard Willstätter über Pflanzen- und Blütenfarbstoffe, über Zellulose, über die Assimilation der Kohlensäure. Alfred Stock (1876-1946), der nach dem Weggang von Willstätter dessen Stelle einnahm, hat die Chemie des Bors und des Siliziums eingehend studiert. Otto Hahn und Lise Meitner haben über radiochemische Probleme gearbeitet, wobei es ihnen gelang, eine Reihe neuer radioaktiver Elemente zu entdecken.
     Mit dem Ersten Weltkrieg änderten sich die anfänglichen Aufgaben des Instituts. Alfred Stock wechselte kurz nach seinem Eintritt in die Forschungsanstalt ins erste chemische Laboratorium der Universität über. Am Institut wurden die Willstätterschen und die Liebermannschen Räume bis zum Schluß des Krieges von militärischen Abteilungen übernommen. Auch das Arbeitsprogramm der Direktorabteilung änderte sich. Die wichtigsten und erfolgreichsten Arbeiten in dieser Zeit waren Forschungen über die Stroh- und Lupinenveredlung.
     Nachdem im Krieg die Zahl der Mitarbeiter zurückgegangen und die Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt waren, konnte nach 1918 die wissenschaftliche Arbeit wieder in vollem Umfang fortgeführt werden. Alfred Stock folgte dem in Ruhestand gegangenen Ernst Beckmann 1921 ins Amt des Direktors.
     Auch die organische Chemie war seit 1921 durch die Arbeitsgruppe Kurt Hess (1888-1961) ieder vertreten. Otto Hahn und Lise Meitner führten ihre radiochemischen Arbeiten weiter. Für die Entdeckung der Kernspaltung im Jahre 1938, an der neben Otto Hahn auch Fritz Straßmann und Lise Meitner maßgeblich beteiligt waren, wurde Otto Hahn 1944 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
     Im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in den Westen Deutschlands, nach Tailfing, verlagert. Das Institutsgebäude war bei einem Luftangriff im Februar 1944 teilweise zerstört worden.
     Im Oktober 1949 wurde das Institut in die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., die Nachfolgeeinrichtung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aufgenommen.

Bildquelle:
E. Fischer/E. Beckmann: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie Berlin-Dahlem, Braunschweig, 1913

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/1996
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