28   Probleme/Projekte/Prozesse Die Eiskeller-Versammlung  Nächstes Blatt
Kurt Wernicke
Die Eiskeller-Versammlung

Am Nachmittag des 2. Januar 1878 tauchten in der Oranienburger Vorstadt Berlins - einem Zentrum von Maschinen- und Lokomotivbaubetrieben und folglich auch von den Fabriken benachbarten proletarischen Wohngebieten - Plakate auf, die zum Besuch einer Volksversammlung am nächsten Tag einluden, auf der eine christlich-soziale Arbeiterpartei gegründet werden sollte. Als Unterzeichner des Aufrufs präsentierte sich ein anonymes Komitee. Ort der Versammlung sollte das Lokal »Zum Eiskeller« in der Chausseestraße 88 sein, ein traditioneller Treffpunkt für fußlahme Ausflügler, Versammlungen und Sommerwie Wintervergnügen. Der »Eiskeller« besaß einen großen Veranstaltungssaal, der bis zu 2 000 Personen aufnehmen konnte.
     Dieser Saal war am Abend des 3. Januar mit ca. 1 000 bis 1 500 Gästen gefüllt, die auf die öffentliche Einladung hin erschienen waren. Nur ein verschwindender Prozentsatz von ihnen war jedoch gekommen, um dem angekündigten Zweck des Abends zu entsprechen.

Die überwiegende Mehrheit waren Mitglieder oder Anhänger der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), zu der sich 1875 Lassalleaner und marxistische »Eisenacher« zusammengeschlossen hatten und die sich zur sozialen Demokratie bekannte - Sozialdemokraten also, »vaterlandslose Gesellen« im Verständnis der Herrschenden und der »honetten« (weil kaisertreuen) Opposition, politischer Mob ohne hehre Gefühle für Eigentum und bürgerliche Moral, mit dem sich kein ehrlicher Konservativer oder Liberaler an einen Tisch setzen würde.

Als Märtyrer von den Berliner Arbeitern verehrt

Das Komitee, das zu der Veranstaltung aufgerufen hatte, war angesichts der erdrückenden sozialdemokratischen Mehrheit im Saal von vornherein ohne Chance, den Ablauf leiten zu können. Durch Zuruf aus dem Saal wurde ein Präsidium berufen, dem der 31jährige Maurer Paul Grottkau (1846-1898) vorstand - ein bewährter Kämpe der Berliner Arbeiterbewegung, erfahren in der sozialdemokratischen Gewerkschafts- und Pressearbeit, der 1874/75 16 Monate lang wegen Majestätsbeleidigung im Gefängnis gesessen hatte und als Märtyrer der Sozialdemokratie bei den Berliner Arbeitern nicht zu Unrecht regelrecht verehrt wurde.

BlattanfangNächstes Blatt

   29   Probleme/Projekte/Prozesse Die Eiskeller-Versammlung  Voriges BlattNächstes Blatt
Als Redner von seiten der Einberufer präsentierte sich ein Schneider Emil Grüneberg, der sich seit der Mitte der 60er Jahre in Bayern und Württemberg als sozialistischer Wanderagitator betätigt hatte, in München mit Parteigeldern undurchsichtig verfahren und daher aus der Partei ausgeschlossen worden, in Berlin 1877 bei einem Missionsfest in Pankow als »Erweckter« aufgetaucht war und als von den Irrlehren der Sozialdemokratie Geheilter und reuiger Sünder von konservativen Kreisen Unterstützung genoß. Er fand allerdings angesichts der nicht gerade freundlichen Mienen in der Zuhörerschar nicht zu der Form seiner süddeutschen Jahre und brachte seine Absicht, die Notwendigkeit einer der vaterlandslosen Sozialdemokratie Konkurrenz machenden christlichen und monarchischen Arbeiterpartei logisch zu begründen, so erbärmlich und stotternd an den Mann, daß er nur Ironie und Häme erntete.

Kirchenmission als Ziel einer Partei

Da sprang unversehens ein Redner für Grüneberg ein, der - anders als jener - rhetorisch bestens vorbereitet und zusätzlich mit seinem Herzblut bei der Sache war: der als Dom- und Hofprediger in Berlin tätige Pfarrer Adolf Stoecker (1835-1909). Tatsächlich steckte er auch hinter der Einladung zur Versammlung, denn die soziale Mission der evangelischen Kirche in die Form einer Partei

zu gießen, war seine Idee, die er wenige Tage zuvor seinen Mitstreitern im eben erst (am 5. Dezember 1877) begründeten Zentralverein für Sozialreform auf religiöser und konstitutionellmonarchischer Grundlage bekanntgegeben hatte. Er führte sich als ein Mann aus dem Volke ein (sein Vater war in der Tat Dorfschmied gewesen, bevor er Wachtmeister bei den Halberstädter Kürassieren geworden war - und Stoecker schwindelte auch nicht, wenn er anführte, daß Vettern von ihm noch immer am Amboß stünden!) und sorgte so erst einmal für ein Minimum an Sympathie, das ihm Aufmerksamkeit im Saal sicherte. Er zerpflückte dann das Gothaer Programm der Sozialdemokratie von 1875 und polemisierte gegen den darin von ihm ausgemachten Haß auf das Vaterland und gegen das Christentum. Dann ging er auf die zutage liegenden Gebrechen der gegenwärtigen Gesellschaft ein: »Sie sind mit dem jetzigen Wirtschaftssystem nicht zufrieden; ich auch nicht. Diese Herrschaft der schrankenlosen Konkurrenz und des krassesten Egoismus führt von Krisis zu Krisis.« Aber der Kern seines Appells bestand doch in der Beschwörung: »Wollen Sie als Arbeiterpartei wirklich eine geschichtliche Bedeutung gewinnen, dann dürfen Sie das Edelste, was bisher in der Brust des Menschen gelebt hat - die Liebe zu Gott und die Liebe zum Vaterland - nicht totschlagen ...!«
BlattanfangNächstes Blatt

   30   Probleme/Projekte/Prozesse Die Eiskeller-Versammlung  Voriges BlattNächstes Blatt
»Stürmisches Zischen und große Unruhe...«

Als Stoecker später den Text seiner Rede in einem Sammelband veröffentlichte, notierte er als deren Ergebnis »Anhaltendes Bravo!«. Die konservative »Kreuzzeitung« dagegen, die Stoecker zwar distanziert, aber keineswegs feindselig gegenüberstand, meldet in ihrem Versammlungsbericht zum Ende von dessen Rede »stürmisches Zischen und große Unruhe. Ironisches (!!) Bravo. Anhaltendes Läuten der Präsidentenglocke«. Das Präsidium gab nun einem Gegenredner das Wort - und das war ein Rhetoriker, der dem im Predigen geübten Theologen in nichts nachstand: Johannes Most (1846-1906), seit 1874 Reichstagsabgeordneter, bewährter Redakteur sozialdemokratischer Blätter (derzeit des Berliner SAPD-Organs »Berliner Freie Presse«), ätzender Formulierer und scharfer Satiriker, der 1874 bis 1876 wegen seiner spitzen Zunge 26 Monate lang Bekanntschaft mit dem preußischen Strafvollzug gemacht hatte und deshalb wie auch als Dichter der damaligen Arbeiterhymne »Wer schafft des Gold zutage ...« in Berlin womöglich noch mehr Popularität genoß als Grottkau. Most zerfleischte Stoeckers Appell zum Verständnis für den bestehenden Staat und das mit diesem verbundene - konkret evangelische - Christentum: »staatlich approbiert« nannte er letzteres unter Bezug auf den mit der Reformation eingeführten obersten Hirten der Landeskirchen in Gestalt des jeweiligen Monarchen.

     Stoeckers Versuch, um Verständnis für eine ernstgenommene soziale Fürsorgepflicht der Kirche als denkbaren Faktor bei der Lösung der »sozialen Frage« zu werben, begegnete Most mit einem Angriff auf die schwächste Stelle christlicher Moralisten, die seit der Aufklärung nichts von ihrer populistischen Durchschlagskraft verloren hat: Er beschwor die Schafotte für Ketzer, die Scheiterhaufen des Mittelalters und Luthers schäumendes Wüten gegen die aufständischen Bauern, überhaupt die vielen kirchlichen Deckmäntel für reale weltliche Interessen der jeweiligen Oberen. Unter dem Jubel der Versammlungsteilnehmer schloß Most mit der Aufforderung an Priester und Prediger: »Macht eure Rechnung mit dem Himmel - eure Uhr ist abgelaufen!« Immerhin erhielt Stoecker noch das Wort zu einer Erwiderung, in der er Mosts Angriffe als auf eine weit zurückliegende Vergangenheit bezogen und für die Gegenwart keineswegs relevant abzuwehren trachtete.

In 1 900 Jahren Not und Elend nicht gelindert

Als Ergebnis des ersten öffentlichen Unternehmens zur Gründung einer christlich-sozialen Arbeiterpartei für Berlin und das ganze Reich blieb eine von allen gegen 17 Stimmen angenommene Resolution - Grottkau dürfte der Verfasser gewesen sein -, in der dem Christentum vorgeworfen wurde, in fast 1 900 Jahren seiner Existenz nicht imstande gewesen zu sein,

BlattanfangNächstes Blatt

   31   Probleme/Projekte/Prozesse Die Eiskeller-Versammlung  Voriges BlattNächstes Blatt
Not und Elend zu lindern, geschweige denn aus der Welt zu schaffen; in der festgestellt wurde, daß auch die gepriesenen wirtschaftlichen Errungenschaften, die ein sozial verständnisvoller Staat für die arbeitenden Menschen bereithalten könne, ohne politische Freiheiten wertlos seien. Konsequenterweise konstatierte die Versammlung, daß sie sich »lediglich von der Sozialdemokratie eine gründliche Beseitigung aller heute bestehenden wirtschaftlichen und politischen Unfreiheiten erhofft und sich daher verpflichtet, mit allen ihr zu Gebote stehenden Kräften für die Verbreitung der Lehren dieser Partei einzutreten und zu wirken«.

Eine mächtige Welle von Kirchenaustritten

An die »Eiskeller-Versammlung« schloß sich eine Presse- und Versammlungsfehde an. Stoecker informierte die Öffentlichkeit über Mosts »Eure Uhr ist abgelaufen«-Drohung, die er allerdings unter Negierung von deren symbolischem Gehalt listig als Mordhetze interpretierte. In einer großen sozialdemokratischen Versammlung im traditionsreichen Saal des Berliner Handwerkervereins in der Sophienstraße zum »Verhältnis der Berliner Bevölkerung zum Pfaffentum«

am 22. Januar 1878 wies Most die plumpe Unterstellung zurück und rief im Gegenzug zu einer mächtigen Welle offizieller Kirchenaustritte auf - die dann tatsächlich in den nächsten Monaten in Berlin spektakuläre Ausmaße annahm. Die Christlich-Soziale Arbeiter-Partei wurde allerdings nichtsdestoweniger gegründet - wenn auch am 5. Januar im kleinsten Kreis hinter verschlossenen Türen. Aber am 25. Januar, drei Tage nach Mosts Aufruf zu einer organisierten Bewegung von Kirchenaustritten, stellte Stoecker an derselben Stelle - im Handwerkerverein - das Parteiprogramm vor. Dessen Anliegen zielte auf das Vorhaben, »das Erwerbsleben sozial, d. h. gesellschaftlich organisch zu gestalten«. Aus dem sicher gut gemeinten, aber etwas krausen Grundanliegen ergab sich folgerichtig auch ein Durcheinander von Vorstellungen: Obligatorische Zuordnung aller Arbeiter zu fachgenossenschaftlichen Korporationen, die als deren Interessenvertretung fungieren; verordnete Schiedsgerichte zwischen Unternehmern und Arbeitern; Normalarbeitstag (aber für jedes Gewerbe verschieden); staatlich vorgeschriebene (aber nicht staatlich betriebene) Sorge für Witwen, Waisen, Alte, Invaliden;
BlattanfangNächstes Blatt

   32   Probleme/Projekte/Prozesse Die Eiskeller-Versammlung  Voriges BlattNächstes Blatt
Aufhebung von Kinderarbeit und der von verheirateten Frauen(!); Verbot von Sonntagsarbeit; Schutz vor gesundheitswidrigen Zuständen in Wohnungen und Arbeitsstätten (ohne Hinweis auf die konkrete Verantwortlichkeit für Änderung und Kontrolle); hohe Einkommens-, Gewinn-, Erbschafts- und Luxussteuern; schließlich Schutz der nationalen Arbeit - was auch immer das heißen mochte ... Verfasser des Programms war übrigens nicht Stoecker, sondern der sogenannte Kathedersozialist Prof. Adolf Wagner (1835-1917), der zumindest gute Kenntnisse volkswirtschaftlicher Zusammenhänge sein eigen nannte - was Stoecker, dem aus einer zutiefst konservativpatriarchalischen Grundeinstellung heraus das offen zutage liegende Elend ganz emotional das Herz abschnürte, gänzlich abging.

Einblick in das soziale Elend

Stoecker war eigentlich eine tragische Gestalt. Er stammte aus kleinen Verhältnissen, war aber im Kasernenmilieu aufgewachsen und daher durch und durch naivmonarchisch beseelt. Nach einem Theologiestudium hatte er 1859 bis 1862 als Hauslehrer bei einem baltischen Baron in Kurland gewirkt, wo er eine für ihn absolut heile Welt patriarchalisch-paternalistischer Beziehungen zwischen oben und unten in einer noch ganz agrarisch geprägten Gesellschaft kennengelernt hatte.

Aber als Pfarrer in Hamersleben in der Börde, das unter seinen Augen zum Wohnort Magdeburger Industriearbeiter mutierte, bekam er schaudernden Einblick in das soziale Elend, das der Manchester-Kapitalismus den Opfern seiner Ausbeutung bescherte. Diese Zustände erschütterten ihn zutiefst und nährten seinen Abscheu vor dem Liberalismus, den er der Einfachheit halber - und nicht so ganz zu Unrecht - mit dem Manchester-Kapitalismus identifizierte. Durch und durch konservativ, haßte er den Liberalismus, dem er aus seiner Weltsicht auf die »gute alte Zeit« in Verkennung des objektiven Gangs der Industrialisierung alle Gebrechen der Gegenwart anrechnete.

Stoecker wollte eine soziale Volkskirche

Im Herbst 1874 - nach einem Zwischenspiel als Garnisonspfarrer in Metz - als vierter Dom- und Hofprediger nach Berlin berufen, erlebte er nun die sozialen Klüfte auf noch breiterer Grundlage, wogegen er mit Hilfe der von ihm Anfang 1877 wiederbegründeten Berliner Stadtmission anzugehen versuchte. Ihm schwebte eine soziale Volkskirche vor, die er aber nicht für möglich hielt, solange die - evangelische - Kirche an den Staat gebunden sei (den er übrigens immer mehr im Liberalismus versinken sah).

BlattanfangNächstes Blatt

   33   Probleme/Projekte/Prozesse Die Eiskeller-Versammlung  Voriges BlattArtikelanfang
Deshalb reifte bei ihm der Gedanke einer Parteigründung. Bismarck, der in Stoeckers Partei die Gefahr eines evangelischen Pendants zur katholischen Zentrumspartei heraufziehen sah, lag mit seiner Vermutung nicht gar so falsch: Die vom Zentrum mitgetragene katholische Sozialarbeit in den Unterschichten schwebte auch Stoecker als Teil seiner Parteiarbeit vor. Er träumte davon, mit seiner Partei ein Sammelbecken zu werden für jene in den Industriegebieten, die zwar monarchisch sein wollten, aber dieses politische Interesse nur von einem unsozialen Kapitalisten oder dessen Gefolgsmann vertreten sähen; und für jene, die dort sozialistisch lebten und webten, aber die sozialen Interessen nur durch die (a priori so verteufelte) vaterlands- und gottlose Sozialdemokratie okkupiert fänden. In einer großen Rede zum Thema »Sozialdemokratisch, sozialistisch, christlich-sozial« faßte er 1880 in Braunschweig dieses sein Grundanliegen beschwörend zusammen. Allerdings setzte er sich zwischen so ziemlich alle Stühle. Das Berliner Polizeipräsidium beobachtete ihn mißtrauisch, und der Oberkirchenrat mißbilligte seine Teilnahme an den politischen Bewegungen; in Berlin, der Hochburg von Fortschrittspartei und Sozialdemokraten, konnte die Christlich-Soziale Arbeiter-Partei überhaupt keinen Fuß fassen.
     Selbst in der aufgeputschten Atmosphäre der Reichstagswahlen im Juli 1878 nach den beiden der Sozialdemokratie angekreideten Attentaten auf den Kaiser errang Stoeckers Partei in Berlin bloß 1 422 Stimmen, im ganzen Reich insgesamt 2 310;
Arbeiter fanden sich in den Reihen der Partei praktisch nicht ein, und konsequenterweise wurde im Januar 1881 das programmatische »Arbeiter« im Parteinamen abgelegt. Da hatte sich Stoecker allerdings, verstört angesichts des Mißerfolgs seiner Agitation unter den Arbeitern, schon eine spezifisch-primitive Stoßrichtung seines sozialen Engagements ausgesucht. Seit Herbst 1879 attackierte er das Judentum und profilierte sich als Herold des Antisemitismus. Ein halbes Jahrhundert später bemächtigten sich die Nazis seiner und proklamierten ihn zu einem ihrer Vorläufer und geistigen Ziehväter - was aber nicht ohne Fälschung und Vergewaltigung abging, da Stoecker jeder Rassismus fremd war. Seine Partei landete 1881 auch organisatorisch dort, wo sie geistig schon immer angesiedelt war: bei der Konservativen Partei.
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/1996
www.berlinische-monatsschrift.de