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Eva Engel-Holland
Lessing in Berlin

»Ein Pferd, das doppeltes Futter haben muß«
(Rektor Grabner, Fürstenschule St. Afra zu Meissen, über seinen Schüler)

Am 15. Februar dieses Jahres jährt sich der Todestag von Gotthold Ephraim Lessing zum 215. Mal. Berlin war für ihn eine ganz besondere Lebensstation.
     Ursprünglich wollte der am 22. Januar 1729 geborene, sächsische Pfarrerssohn erst zum 28. Juni 1748, der angekündigten ringförmigen Sonnenfinsternis wegen, seinem entfernten Vetter, dem freigeistigen Naturwissenschaftler Christlob Mylius (1722-1754), in die Hauptstadt Preußens folgen und, zum Entsetzen seiner Eltern, die schon 1746 in Leipzig begonnenen Studien und seine ganze vielversprechende Gelehrtenlaufbahn zu Gunsten seiner Theaterbegeisterung aufgeben. Als Afraner war er nicht nur im Besitz sehr guter Kenntnisse der alten und neuen Literatur, selbst der hebräischen Sprache. Er hatte dort als Studienabschluß seine mathematische Begabung in der ersten seiner vielen »Rettungen«, dem Bemühen, vergessene Verdienste ins rechte Licht zu setzen, der Rettung der »mathematica barbarorum«, bewiesen.


Gotthold Ephraim Lessing

     Durch den von der Feder lebenden, verbummelten, genialen Mylius kam er in Berührung mit dem Schauspiel, mit Schauspielern. Dieser führte den damals scheuen, ungeschickten Bücherwurm Lessing vor und hinter die Kulissen der von Friederike Caroline Neuber (1697-1760) geleiteten Truppe. Eine neue Welt tat sich auf: »Ich komme jung von Schulen, in der gewissen Überzeugung, daß mein ganzes Glück in den Büchern bestehe. Ich komme nach Leipzig, wo man die ganze Welt im Kleinen sehen kann.

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Stets bei den Büchern, nur mit mir selbst geschäftig [...] Doch es dauerte nicht lange, so gingen mir die Augen auf: [...] Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter Meinesgleichen.«
     Diesem Menschenstudium zuliebe und weil er für einige Schauspieler Bürgschaften geleistet hatte, für die er nicht gutstehen konnte, floh er aus Leipzig und folgte Mylius am 25. Juni 1748, kam aber zunächst durch Krankheit nur bis Wittenberg, wo damals der jüngere Bruder, Theophilus Lessing, sich gerade immatrikuliert hatte. Um die über seine neuen Interessen entsetzten Eltern zu beschwichtigen, schrieb sich Lessing im August als Student der Medizin ein. Doch schon am 8. November finden wir ihn in Berlin.
     Dort hatte Mylius (bei dem Lessing in der Spandauer Straße unterkam) am 8. November unter dem betagten Verleger Johannes Andreas Rüdiger und dessen Schwiegersohn und Nachfolger, C. F. Voss, die Redaktion der »Berlinischen Privilegirten Zeitung« übernommen und verschaffte dem Freunde Arbeit als Rezensent, als Leiter des literarisch-kritischen Teils »Gelehrte Sachen« von Februar bis Dezember 1751 und von Dezember 1752 bis Mitte Oktober 1755, nach der Rückkehr aus erneutem Studiumaufenthalt in Wittenberg.
Außerdem begründete Lessing von April bis Dezember 1753 als Beilage zur BPZ die Monatsschrift »Das Neueste aus dem Reiche des Witzes«. Kurz über lang wurde er in seiner neuen Eigenschaft als bissiger, spritziger Criticus so angesehen, daß die Konkurrenz, die im Haude Spener Verlag dreimal wöchentlich erscheinenden »Königlich privilegirten Berliner Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen«, ihm an der von Sulzer herausgegebenen Zeitschrift »Critische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit« Rezensionen übertrug.
     Die Hauptstadt des Königreichs, für deren Lesepublikum diese Buchanzeigen und Buchbesprechungen bestimmt waren, zählte um 1750 etwa 110 000 Einwohner, darunter eine recht hohe Anzahl einquartierter Soldaten. Innerhalb der Stadtmauern gab es neben einigen wenigen Prachtbauten außer Schulen, Waisenhäusern und Kirchen sowohl für die gebürtigen Berliner wie für die seit 1675 immigrierten Hugenotten ein Militärkrankenhaus (»Das grosse Hospital und Lazareth la charité«), Gerichts- und Verwaltungsgebäude, zusammengedrängte, niedrige Privathäuser, für die aber weder Straßennummern noch Straßenbeleuchtung oder Bürgersteige existierten. Gärten, Pulverund Papiermühlen befanden sich jenseits der Stadttore.
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Wohl gab es eine Königliche Akademie, die sich eines hervorragenden europäischen Rufes erfreute, aber keine Universität, keine öffentliche Bibliothek, dafür aber etwa zehn Verlage, je mit einer Buchhandlung. Seit 1742 gab es das Theater Schönemanns, dem Schüler der Caroline Neuber, und seit 1754 spielte die Truppe Schuchs an dem jetzigen Gendarmenmarkt.
     Von 1748 an gab es Klubs, in denen bis zu hundert geistig interessierte Mitglieder, Theologen, Dichter, Akademiemitglieder, Militärs, ohne Unterschied von Rang oder Beruf, zum Ideenaustausch über gelehrte Themen zusammenkamen.
     Zu diesem Kreis zog es Lessing zwischen November 1748 und September 1771 siebenmal zurück. Innerhalb dieser 23 Jahre verbrachte er im ganzen acht in Berlin. Schon am 15. Oktober 1751 schrieb der Schweizer Mathematiker und Ästhetiker Sulzer über den 22jährigen: »Es ist hier ein neuer Criticus aufgestanden. Er ist nur noch ein wenig jung.«
     Dieses prophetische Urteil bewahrheitete sich nicht nur anhand der vielen, vielen Buchanzeigen, Buchbesprechungen, sondern

Am Königsgraben 10 beendete Lessing »Minna von Barnhelm«.
Das Haus fiel 1910 einem Erweiterungsbau des Kaufhauses Tietz zum Opfer.
aller Pläne, aller programmbedingten Gründungen von Periodica, aller Dichtungen, Rezensionen, Übersetzungen, Vorworte, aller vielfältigen Veröffentlichungen dieses Universal-Genies.
     Um nur die wichtigsten zu nennen, so fallen in diesen ersten Berliner Aufenthalt (November 1748 bis Herbst 1751) zunächst seine zweite »Rettung«, das Theaterstück »Die Juden« (1749), die »Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters« (1750), die Übersetzung von 15 Essays des Voltaire (1751) - nachdem er bei Voltaires Sekretär, Richier de Louvain, seine Sprachkentnisse vervollständigt hatte. Während seines zweiten Aufenthalts (November 1752 bis Oktober 1755) veröffentlichte der blutjunge Dichter in Band I seiner gesammelten (!) »Schrifften« seine Dichtungen (Lieder, Oden, Fabeln, Sinngedichte, Fragmente), in dem 2. Band (1752, 1753) 25 »Brieffe« und im 3. Band (1754) die vier »Rettungen«, die in den fünf Monaten seiner Wittenberger Studienzeit (Januar bis November 1752) neben dem Studium des Spanischen und Lessings Magisterarbeit über J. Huarte entstanden waren.
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     Mittlerweile war er umgezogen und wohnte am Nikolaikirchhof, näher an seinem Verleger, J. C. Voss. Im gleichen Jahr 1754, in dem er bei ihm die »Theatralische Bibliothek« (1754) mit der Einführung zur »comédie larmoyante«, dem Vorläufer seines begeisterten Vorwortes zu seiner 1760 veröffentlichten Übersetzung von D. Diderots revolutionären Ideen zur Betonung einer natürlichen Redeweise und der Veranschaulichung der dramatischen Handlung, verlegte, erschien im 4. Band der »Schrifften« das Stück »Die Juden«; und im 6. Band (1755) sein erstes bürgerliches Trauerspiel: »Miss Sara Sampson« (1755). Hier kommt der Einfluß der englischen Bühne klar zum Ausdruck. Hier geht es nicht um Bewunderung von Racine oder Corneille und um deren gehobene Sprache im Versmaß. Der vorgegebene Ort der Handlung ist England, das Thema kein historisches, sondern ein zeitgenössisches Befassen mit Situationen, denen wirkliche Menschen ausgesetzt sind.

II

Nun hatten zwischen der Veröffentlichung des 4. und 6. Bandes zwei Ereignisse grundlegend in Lessings Denken eingegriffen. Mylius war tot. Der Mann, der seit 1746 einen so richtungsgebenden Einfluß auf Lessing ausgeübt hatte, dem er nicht nur

die Theaterleidenschaft, sondern auch die geistige Tätigkeit in Berlin verdankte, war im Herbst 1753 eigentlich zu einer mehrjährigen wissenschaftlichen Forschungsreise aufgebrochen, aber im März 1754 jämmerlich in London, im Schuldgefängnis, gestorben. Lessing veröffentlichte die Schriften dieser hochbegabten, jeglicher Disziplin entbehrenden Gestalt. Das Vorwort dieser Sammlung bezeugt die Tiefe des Schocks, den Lessing erfahren hatte. Der Leser wird Mitwisser eines Nachrufs, der gleichzeitig ein »Ad me ipsum«, eine Beichte, ein Warnsignal ist. Lessing sieht sich als den Doppelgänger des Jugendfreundes, dessen Leben und Sterben zur Selbstbesinnung aufruft.
     Und dies um so eher, als kurz nach der Abreise des Vetters, also im Herbst 1753, die lebenslange Freundschaft, der Gedankenaustausch, die Zusammenarbeit mit Moses Mendelssohn einsetzte. Die gegenseitig bereichernde Beeinflussung war enorm und ist aus dem Werk beider Männer nicht wegzudenken. Unverkennbar ist sie zuerst im Falle Lessings durch einen Vergleich der Qualität seiner Rezensionen vor und nach 1754, im Falle Mendelssohns durch die Veröffentlichung seiner deutschen Frühschriften, die weitgehend auf Spinoza, Leibniz und Shaftesbury samt der einschlägigen Quellen- und Sekundärliteratur fußten.
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Und beiderseits erwiesen ist es durch die solide, glanzvolle gemeinsame Preisschrift »Pope ein Metaphysiker«, mit der sie des berühmten Maupertuis' Versuch, Präsident der Königlichen Akademie der Wissenschaften, auf dem Umweg über Alexander Popes »All is best«, Leibniz lächerlich zu machen, Paroli boten - und dies im Alter von 25 Jahren.
     Zeugnis der gegenseitigen Befruchtung bieten erstens die Briefe, zweitens Friedrich Nicolais, des Dritten im Triumvirat, spätere anekdotische Fußnoten dazu, und drittens das Programm der 1755 gemeinsam geplanten Abhilfe deutscher literarischer Mißstände in Gestalt der »Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste«. Die geistigen Urheber dieser Renaissance der deutschen Literatur durch die Begründung sachlicher Literaturkritik und durch Hinweise und Belege ausländischer neuer Literaturtheorien waren sowohl die Programmatik eines 21jährigen Nicolai in seinen »Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland«, wie die 1755 über sechs Monate zweibis dreimal wöchentlich stattfindenden, intensiven Diskussionen der drei Freunde. Ihr Hauptanliegen betraf Sachkenntnis, bewußten Einsatz objektiver Kritik, erbarmungslose Anprangerung von Mittelmäßigkeit. Schon im Herbst 1754 hatte der junge Lessing dem Göttinger Orientalisten J. D. Michaelis in der »Theatralischen Bibliothek« unsachkundige Literaturkritik vorgeworfen und, ohne Namensnennung, einen Privatbrief Mendelssohns als Erwiderung zitiert.
     Wenn Berlin auch um die Jahrhundertmitte nicht mit Leipzig als geistigem Zentrum wetteifern konnte, so ergaben sich doch durch die Gründung der »lachenden Gesellschaft« des Montagsklubs (1748) intellektuelle, nicht durch Rang oder Beruf gebundene Gespräche. Hier diskutierten unter anderen die Akademiemitglieder J. G. Sulzer und Leutenant Jacobi, der Kupferstecher Meil, der Musiker Quantz, der Mathematiker Agricola, der Privatgelehrte und angehende Verleger Nicolai, der »deutsche Horaz« C. W. Ramler. Vom Frühjahr 1755 gab es die geschlossene Gesellschaft der etwa 100 Mitglieder des »Gelehrten Kaffehauses«, nach 1756 das anerkannte Hauptquartier der Berliner Aufklärung, wo alle vier Wochen ein Mitglied einen Vortrag hielt.
     Im Januar 1755 kam Gleim zu Besuch. Im gleichen Monat begann Lessing die innerhalb von sieben Wochen vollendete »Miss Sara Sampson«. Mit Mendelssohn plante er eine Zeitschrift »Das Beste aus schlechten Büchern«, rezensierte anonym im März Mendelssohns Erstlingsschrift »Philosophische Gespräche«, im September dessen »Ueber die Empfindungen«, veröffentlichte zu Ostern den 6. Teil seiner »Schrifften«, zur Herbstmesse das 3. Stück der »Theatralischen Bibliothek«, begleitete Ramler im Juli nach Frankfurt an der Oder, um dort die Uraufführung der »Miss Sara Sampson« zu erleben.
     Im August 1756 entbrannte der Siebenjährige Krieg.
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Hing es zum Teil damit zusammen, daß Lessing als Sachse, im Oktober, ohne Abschied von irgendeinem seiner Freunde, ruhelos aus der Hauptstadt Preußens nach Leipzig floh?

III

Bei seinem dritten Berliner Aufenthalt vom Mai 1758 bis zum November 1760 lebte er nahe bei Ramler, wahrscheinlich in dem Eckhaus Heilige Geist- und Spandauer Straße. Dieser berichtete am 11. April 1759 an Gleim: »Jetzt habe ich mein neues Haus bezogen, [...] Ich kan mich hier mit Herrn Lessing abrufen oder wenigstens absehen, wenn ich mit ihm Ihre Gesundheit bey Wittens trincken will. Wir hängen alsdann einen rothen Band aus, das ist das Signal zur Ausflucht in die Baumanns Höhle; denn sie müssen wissen, der Kieper heißt Baumann.«
     Schon für 1758 belegt eine Anekdote Lessings häufigere Anwesenheit in Wittens Weinlokal in der Brüderstraße, in der auch Nicolai wohnte. Dort soll Lessing einen Stammplatz an der Treppe besessen haben, von dort soll sein Lehnstuhl 1873 ins Lessingmuseum in der Brüderstraße gebracht worden sein. Hierzu berichtete W. Oehlke in »Lessing und seine Zeit«: »Mit Mendelssohn führte er in der Baumannshöhle manches ernste Gespräch, auch über die Unsterblichkeit.

Eines Tages, so wird erzählt, mengte sich der am Nachbartisch sitzende Färbermeister Grützmacher unvorhergesehen in das Gespräch mit den Worten: >Ick jloobe nich an ihr!< Als Lessing hierauf fragte, warum nicht, antwortete Grützmacher: >Sehen Se, Herr Lessing, det is so: Jloobe ick an Unsterblichkeit und sie kommt denn nich, denn ärjere ick mir. Jloobe ick aber nich an ihr und sie kommt denn doch, denn frei' ick mir. So is et doch besser!<«
     Im September wird Nicolai durch den Tod des älteren Bruders über Nacht zum Inhaber des väterlichen Verlags. Er kann daher nicht gut die in Leipzig bei J. G. Dyck verlegte »Bibliothek der schönen Wissenschaften« weiter herausgeben. Aus Beratungen zu dritt entsteht die Planung eines literarisch-didaktischen, aber leicht lesbaren Nachfolgers: der vom 4. Januar 1759 bis Juli 1765 jeden Donnerstag erscheinenden, und ebenso erfolgreichen wie bekämpften »Literaturbriefe« (»Briefe, die neueste Litteratur betreffend«).
     Lessing verfaßt das Vorwort, in dem er erklärt, daß man einem im Krieg befindlichen Offizier und Gesprächspartner über die laufenden Neuerscheinungen des Büchermarkts berichten wolle. Er bestritt 54 der etwa 333 »Briefe«, die, seiner damaligen Stimmung entsprechend, in so äußerst polemisch-kämpferischem Ton gehalten sind, daß sie vom 18. bis 23. März 1762 zu einem fünftägigen Zensurverbot beitrugen.
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Bildquelle:
Berliner Denkmäler im Volkswitz, Archiv Märkisches Museum

Das Lessingdenkmal befindet sich im südlichen Tiergarten, an der Lennéstraße; es wurde 1890 vom Urgroßneffen des Dichters geschaffen.

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     Lessing wütete unentwegt: gegen schlechte Übersetzungen, gegen den jungen, sehr erfolgreichen Wieland, gegen Basedow, gegen Gottsched (den Erzfeind aller literarischen Reform und Verteidiger des französischen Schauspiels), gegen den Königlich-dänischen Hofprediger J. A. Cramer und dessen naive Christologie.
     Der »Offizier« des Lessingschen Vorworts, der enge, sehr viel ältere Dichterfreund Ewald von Kleist, war als Major im Felde; er erlag im August 1759 den bei der Schlacht von Kunersdorf erlittenen Verwundungen. Zweifach ausgeraubt, findet man ihn ohne sein Schwert. Bei dessen Begräbnis aber ehrt ihn ein russischer Offizier durch Niederlegen des eigenen Degens auf den Sarg. Somit ergibt sich ein neuer Aspekt der Problematik des Ehrbegriffs der in den Krieg der Großen verstrickten Individuen. Wieder und wieder beschäftigt das Thema Lessing. So im »Philotas« (März 1759), wo der gefangene, sehr junge Prinz glaubt, dem Vater die Schmach nur durch seinen Selbstmord zu ersparen. Und erneut erst 1765, nach Kriegsende, in der wieder aufgenommenen »Minna von Barnhelm« (1767).
     Lessing nahm seine Zuflucht zu Fabeln und zu den ihm durch Ramler zur Kenntnis gebrachten Sinngedichten Friedrich von Logaus.
Diese wurden mit Anmerkungen von Lessing und Ramler im Mai veröffentlicht. Im Juli und August 1759 erschienen die besonders aggressiven Literaturbriefe gegen Cramer, im Oktober ein erneuter Angriff auf Wieland, im November mokierte er sich über Gottscheds Sprachlehre. Erst zur Herbstmesse erschienen die bereits für Ostern 1759 angezeigt gewesenen »Fabeln«, »nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts«.
     Das nächste Jahr, 1760, war für Lessing bedeutungsvoll. Zur Ostermesse erschien »Das Theater des Herrn Diderot« mit den eindrucksvollen Schlußworten des Übersetzers Lessing im Vorwort: »Ich möchte wohl sagen, daß sich, nach dem Aristoteles, kein philosophischerer Geist mit dem Theater abgegeben hat, als Er. [...] Es muß also darauf ankommen [...] ob dieser Mann bey uns mehr Gehör findet, [...] Wenigstens muß es geschehen, wenn auch wir einst zu den gesitteten Völkern gehören wollen, deren jedes seine Bühne hatte.«
     Worte, die sich sehr bald durch die Dramen Lessings, Goethes, Schillers, Kleists bewahrheiten sollten.
     Vom 8. bis zum 12. Oktober 1760 erlitt Berlin Besetzung durch die Russen und Österreicher.
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   11   Probleme/Projekte/Prozesse Lessing in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Am 23. Oktober wurde Lessing zum Akademiemitglied ernannt; zwei Wochen später, am 7. November, verläßt er zum zweiten Mal die Stadt, ohne von anderen als Voss Abschied zu nehmen, und verbringt den Rest des Siebenjährigen Krieges als Gouvernements-Sekretär des Generals Tauentzien in Breslau. Kein Wunder also, daß er den Entschluß bereute, besonders Mendelssohn gegenüber. Am 7. Dezember 1760 schrieb ihm der fast 32jährige: »Bester Freund! Ich reiste mit allem Bedacht aus Berlin, ohne von Ihnen Abschied zu nehmen, weil ich mich nicht der Gefahr aussetzen wollte, die Thorheit meines Entschlusses auf einmahl in ihrem völligen Lichte zu sehen. Die Reue wird ohnedem nicht ausbleiben, eine so gänzliche Veränderung meiner Lebensart in der bloßen Absicht, mein sogenanntes Glück zu machen, vorgenommen zu haben. Wie nahe ich dieser Reue selbst bin, weiß ich eigentlich selbst nicht. Denn noch bin ich in Breslau nicht zu mir selbst gekommen.« Am 30. März 1761 heißt es: »Ach liebster Freund, [...] Ich hätte mir vorstellen sollen und können, daß unbedeutende Beschäftigungen mehr ermüden müßten, als das anstrengendste Studiren; daß in dem Zirkel, in welchen ich mich hineinzaubern lassen, erlogene Vergnügungen und Zerstreuungen über Zerstreuungen die stumpf gewordene Seele zerrütten würden; daß - [...] Ach, bester Freund, Ihr Lessing ist verlohren! [...] Die erste gute Stunde, die mir mein Mißvergnügen läßt, ist ganz gewiß Ihre. Ich sehe ihr mit alle dem unruhigen Verlangen entgegen, mit welchem ein Schwärmer himmlische Erscheinungen erwartet.«

IV

Noch sechs weitere Male führen Lessings Wege ihn 1763, Mai 1765/April 1766, September 1766 bis April 1767, stets in wachsender Verzweiflung, einen ihm angemessenen Posten zu finden, nach Berlin. Das vierte Mal geschah es, als er vom 17. bis zum 30. September nach Berlin reiste, über Potsdam zurückkehrte, um in Hamburg, wo er sich vor Mitte des Monats mit Eva König verlobt hatte, kurz Station zu machen. Nachdem er Mitte Februar im offiziellen Auftrag den Frieden von Hubertusburg feierlich der Stadt Breslau hatte verkündigen müssen, war er im Juli 1763 mit dem General in Potsdam, ohne aber in Berlin Ramler, Mendelssohn oder Nicolai zu treffen.
     Da seit der Beendung seiner Breslauer Dienstzeit (September 1764) sich von neuem die Sorge um die Zukunft erhob, setzte er seine Hoffnung wieder auf Berlin. 1765 war die Stelle des königlichen Bibliothekars zu besetzen, wurde ihm aber vom König verweigert, im Juni wurde sie J. J. Winckelmann angeboten, der das Angebot des knauserigen Gehalts wegen ausschlug.

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   12   Probleme/Projekte/Prozesse Lessing in Berlin  Voriges BlattArtikelanfang
     Lessing war Mitte Mai 1765 gekommen und arbeitete an der Vervollständigung von »Laokoon, oder über die Grenzen der Mahlerey und der Poesie«, an wichtigen ästhetischen Überlegungen und Erkenntnissen, die zum Teil auf den Diskussionsergebnissen des sogenannten »ästhetischen Briefwechsels« (November 1756 bis Mai 1757) zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai, teils auf Mendelssohns (1756, 1757, 1758) und Nicolais (1758) Anregungen sowie auf den Zusätzen und Einwendungen beider zu der in Breslau entworfenen zweiten Urfassung fußen.
     Die Kränkung seitens des Königs machte Lessings Bleiben in Berlin trotz aller Bande zu Mendelssohn und Ramler unmöglich.
     Ehe er im April 1766 eine neue Tätigkeit als Dramaturg in Hamburg aufnimmt, sitzt er am 2. Teil des »Laokoon« und am genialen Bewerkstelligen des »ridendo dicere veritas« (die Wahrheit lachend zu sagen), an der Problematik des Ehrbegriffs, die ihn seit Kriegsende beschäftigt: »Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück«. Zu Ostern erscheint das »Lustspiel« bei Voss, im September wird es mit Ekhof in der Rolle Tellheims in Hamburg uraufgeführt, und elfmal im März/April 1768 von der Döbbelinschen Truppe in Berlin gegeben.

V

Daß Lessing 1771 nach Berlin kam, war die Folge dreier Ereignisse: des Todes von Hermann Samuel Reimarus (März 1768), der Berufung Lessings als Bibliothekar der

Herzoglichen Wolfenbütteler Bibliothek (Dezember 1769) und Lessings Entschluß, entgegen dem Rat von Mendelssohn (November 1770), das ikonoklastische Werk des Reimarus als angeblichen Handschriftenfund der Bibliothek mit dem Titel »Fragmente eines Ungenannten« zu veröffentlichen.
     Am 17. September 1771 reiste Lessing nach Berlin, um dieses Werk bei Voss zu verlegen. Aber der theologische Zensor hatte nicht den Mut, das Imprimatur zu gewähren.
     Lessing wohnte bei seinem Bruder Karl. Der Rest des Septembers verging mit vielfacher Geselligkeit, mit dem Entstehen eines Porträts Lessings durch Sulzers Schwiegersohn, den sehr angesehenen Anton Graff, mit Lessings Beteiligung am Lotto, und auf der gemeinsamen Fahrt, als Mendelssohn durch schriftliche Aufforderung des Königs »au celèbre juif« (an den berühmten Juden) am 30. September 1771 nach Sans-Souci zitiert wurde.
     Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte Lessing im Dienste eines Duodezfürsten in Wolfenbüttel als Bibliothekar in der Befürchtung, unter »Schwarten zu vermodern«, tatsächlich aber als Schöpfer unsterblicher Werke.

Bildquellen:
Berliner Kalender 1907,
Archiv des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/1996
www.berlinische-monatsschrift.de