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Horst Wagner
Meister der Kurzschrift

Wilhelm Stolze (1798-1867)

»Es wird mir soeben angezeigt, daß der Vorsteher des Stenographischen Bureaus, Herr Wilhelm Stolze, gestern abend nach langem Leiden gestorben ist.« Mit diesen Worten eröffnete Präsident Forkenbeck am 9. Januar 1867 die Sitzung des Abgeordnetenhauses des Preußischen Landtages. »Der Verstorbene hat sich große Verdienste um die für den Landtag unentbehrliche Wissenschaft der Stenographie erworben«, fuhr Forkenbeck fort und ersuchte das Haus, »das Andenken des Verstorbenen durch Aufstehen von den Plätzen zu ehren«.
     Heinrich August Wilhelm Stolze, der sich nicht nur um die Protokolle des Preußischen Landtages verdient gemacht hat, sondern neben Gabelsberger als der Begründer der Deutschen Stenographie gilt, wurde am 20. Mai 1798 als Sohn eines Schuhmachers in Berlin geboren. Da der Knabe sich nicht der besten Gesundheit erfreut, läßt Vater Stolze ihn nicht sein Handwerk erlernen, sondern schickt ihn im Alter von elf Jahren aufs Joachimsthalsche Gymnasium, damit er Theologe werden könne.

1812 stirbt der Vater, und Wilhelm Stolze, der 1815 in die Prima des Gymnasiums einrückt, ist gezwungen - wie er sich später im Vorwort zu seinem Lehrbuch erinnert -, sich »durch Unterrichtgeben selbst zu ernähren, was meine Zeit so beschränkte, daß ich die schriftlichen Arbeiten nicht, wie die Lehrer es verlangten, liefern konnte. Ein Mitschüler machte mich daher auf die Stenographie aufmerksam ...« Allerdings findet er die damaligen Kurzschriftsysteme »für eine allgemeine Anwendung durchaus nicht geeignet, weil das Lesen des Geschriebenen nach Verlauf einiger Zeit zu schwierig war«. Anregung für ihn, auf diesem Gebiet Verbesserung zu bewirken.
     Als sich Stolze zu Michaelis (29. September) 1817 anschickt, das Abitur zu machen, wird er von einem früheren Lehrer, dem Prediger Reclam, für eine Stelle im Büro der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt empfohlen, damit er schneller Geld verdienen kann als in der Theologenlaufbahn. Da ihn die Büroarbeit nicht ausfüllt, gibt er nebenbei weiterhin Unterricht, hört Vorträge an der Universität und beschäftigt sich gründlich mit seinem »Hobby«, der Stenographie. Er macht sich mit dem 1819 von Mossengeil begründeten System bekannt, studiert auch andere deutsche sowie englische und französische Kurzschriften. Keine von diesen aber entspricht seinem Ideal von einer leicht erlernbaren, eindeutigen und damit leicht wieder lesbaren Stenographie.
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   52   Porträt Wilhelm Stolze  Voriges BlattNächstes Blatt
     Einer seiner kaufmännischen Berufskollegen und späterer Förderer der Stolzschen Stenographie, Karl Kreßler, schildert den jungen Stolze so: »Es war eine hagere Gestalt; etwas nach vorn gebeugt, ließen sich an ihr deutlich die Spuren von Arbeitskraft am Schreibpulte wahrnehmen. Beim Sprechen runzelte sich, wie zur Begleitung der Rede, die von dunklem Haar beschattete Stirn und über der massiven silbernen Brille, durch welche die Augen bald feurig blitzten ... bewegten sich die dichten, vollen Augenbrauen.« 1831 heiratet der 33jährige Stolze seine Cousine Juliane Auguste. Eine Tochter wird geboren, ein Sohn bald darauf. Arbeitsüberlastung beeinträchtigt die Gesundheit des Familienvaters. Chronische Leiden begleiten seine weiteren Jahre.
     1834 erscheint die »Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst oder Stenographie« des Müncheners Franz Xaver Gabelsberger. Stolze sieht in der Gabelsbergerschen Kurzschrift einige seiner eigenen Ideen verwirklicht, bemüht sich aber weiterhin um leichtere Erlernbarkeit und größere Flüssigkeit der Schrift. »Bei aufmerksamer Beachtung aller Versuche anderer«, bemerkt er später im Vorwort seines »Theoretisch-praktischen Lehrbuches der deutschen Stenographie«, »gelangte ich zur Überzeugung, daß nur dann auf einen günstigen Erfolg zu rechnen sei, wenn es gelänge, die Vokale, wo sie als Inlaute stehen, ohne ein besonderes Zeichen auszudrücken ...
Im März des Jahres 1838 fand ich endlich was ich suchte.«
     1835 hat Stolze seine Stelle bei der Berlinischen Feuerversicherungsanstalt gekündigt - wegen seines schlechten Gesundheitszustandes und wegen »unerträglich gewordener Verhältnisse im Amt«. Er eröffnet einen Kleinhandel, den er zwei Jahre später wieder aufgibt, um sich allein der Stenographie zu widmen.
     Im Herbst 1840 kann er das Manuskript eines stenographischen Lehrbuches dem Preußischen Unterrichtsministerium anbieten. Dieses bewilligt ihm 282 Thaler - mit der Bedingung der Rückzahlung - für den Druck des Werkes, das im Mai 1841 in Berlin herauskommt. Stolzes Hoffnung, daß sich die preußischen Behörden der Verbreitung seines Systems ebenso annehmen wie die bayerischen des Gabelsbergerschen, erfüllen sich allerdings vorerst nicht. Erst das neue Bedürfnis nach schnellem Protokollieren, das mit der Entwicklung des Parlaments entsteht, schafft hier Abhilfe. Zunächst interessiert Stolze mit Unterstützung seiner Freunde, des Kaufmanns Kreßler und des Marstallsekretärs Jaquet, die Berlinische Polytechnische Gesellschaft für sein Werk. Im Vereinslokal dieser Gesellschaft, der URANIA, wird am Johannistag (24. Juni) des Jahres 1844 der Stenographische Verein zu Berlin als - wie damals stolz verkündet - »erster und zur Zeit einziger in der Welt« gegründet.
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Im April 1847 beruft König Wilhelm IV. den Vereinigten Landtag ein, zu dem die in Preußen bestehenden acht Provinziallandtage 617 Abgeordnete in die »Herrencurie« und die »Curie der drei Stände« entsenden. Die Sitzungen sollten zwar nicht öffentlich sein, die Verhandlungen aber wortgetreu veröffentlicht werden. Acht Stenographen, unter ihnen Stolze und Kreßler, werden herangezogen. Vier sollen jeweils protokollieren, die anderen derweil spazierengehen. Im Weißen Saal des königlichen Schlosses, wo der Landtag zusammenkommt, ist den Stenographen Platz angewiesen. »In einer Fensternische, von der aus man den ganzen Schloßhof prächtig übersehen konnte, war ein Tischchen aufgestellt«, schildert Kreßler die Situation. Vor den Stenographen »saßen in langer Reihe die Herren Staatsminister und benahmen ihnen die Aussicht auf die Versammlung«. Erst energischer Einspruch macht es möglich, daß die Protokollanten einen Platz vor der Rednertribüne erhalten. Im Revolutionsjahr 1848 protokollieren Stolze und seine Kollegen auch die Sitzungen der durch allgemeine Wahlen zustande gekommenen Preußischen Nationalversammlung in der Singakademie, dann im Schauspielhaus und schließlich in Brandenburg, wohin die Versammlung vom König verlegt wird, bevor er sie im Dezember ganz auflöst.
     1849 gründet Stolze die erste Stenographische Zeitschrift »Archiv für Stenographie«.
Er wird Leiter des Stenographischen Bureaus des nun aus Herren- und Abgeordnetenhaus bestehenden Preußischen Landtages und setzt seine Tätigkeit als Parlamentsstenograph, als Lehrer und Verbreiter der von ihm begründeten Kurzschrift so lange fort, wie es ihm seine Gesundheit erlaubt. Zunehmend quälen ihn asthmatische Anfälle. Schwerkrank feiert Stolze am 20. Mai 1866 seinen 68. Geburtstag und das 25jährige Jubiläum seines Kurzschriftsystems. Zu diesem Zeitpunkt zählt man 109 Vereine mit 6 050 Mitgliedern, die Stolzes Schöpfung pflegen.
     »Dem Meister der Deutschen Kurzschrift - seine dankbaren Schüler« ist auf dem Grabmonument zu lesen, das nach Stolzes Tod am 8. Januar 1867 auf dem Friedhof der evangelischen Domgemeinde an der Liesenstraße errichtet wird. 1897 entsteht aus dem System von Wilhelm Stolze und dem 1887 von Ferdinand Schrey entwickelten das »Einigungssystem Stolze-Schrey«, das neben dem Gabelsbergerschen System Grundlage der seit 1924 gültigen »Deutschen Einheitskurzschrift« wird.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/1996
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