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Bernhard Meyer
29. Januar 1867:
Neue medizinische Gesellschaft

Zum 29. Januar 1867 lädt der seinerzeit bekannteste deutsche Psychiater, Wilhelm Griesinger (1817-1868), interessierte Nervenärzte, Psychologen, Juristen und andere Akademiker ein, um die »Berliner medicinisch-psychologische Gesellschaft« zu gründen. Zwei Dutzend Akademiker folgen dem Ruf und versammeln sich an diesem Tag im Hörsaal der Nervenklinik der Charité. Sie wählen Wilhelm Griesinger, den Ordinarius dieser noch jungen und im Aufbruch befindlichen medizinischen Disziplin, zum Vorsitzenden. Als Stellvertreter bestimmen sie Carl Westphal (1833-1890). Er übernimmt nach dem bald folgenden Tod Griesingers 1868 für 21 Jahre den Vorsitz und wird auf den frei gewordenen Berliner Lehrstuhl berufen. Tagungsort der Gesellschaft, die kein Statut veröffentlicht, bleibt stets der Gründungshörsaal, und dies etwa acht- bis zehnmal im Jahr.
     Obwohl die Vereinigung in diesem Monat 129 Jahre besteht, ist sie bei weitem nicht die älteste medizinisch-wissenschaftliche Gesellschaft der Stadt.

Die wurde bereits 1764 von Friedrich Heinrich Wilhelm Martini (1729-1778) mit der Bezeichnung »Gelehrte Journalgesellschaft für Arzneikunde, Ökonomie und Naturgeschichte« gegründet. Von weitreichender Bedeutung die Hufelandsche »Medicinisch-Chirurgische Gesellschaft zu Berlin«, 1810 aus der Taufe gehoben. Ein Aufschwung der medizinisch-wissenschaftlichen Vereinsgründungen dann um die 48er Revolution, und wiederum in den 80ern und 90ern des vorigen Jahrhunderts. Sie alle waren Ausdruck des Aufschwungs der Wissenschaften, der Zunahme ihrer naturwissenschaftlichen Grundlagen.
     Im Februar eines jeden Jahres gönnten sich Vorstand und Mitglieder der Gesellschaft etwas Besonderes: Zu Rechenschaftsbericht und Kassenübersicht versammelte man sich im Savoy-Hotel, im Kaiserhof oder bei Kroll zu einem festlichen Essen. Bei einem derartigen Zusammensein gab man sich 1879 den Namen »Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten« und nahm 1933 den Namen Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie an. Die Vorstände der verschiedenen Jahrzehnte mußten sich mühen, einen Konsens zwischen akademischer Gelehrsamkeit der Hochschullehrer und praktischen Erwartungen der Krankenhausärzte zu finden. Dies gelang nicht immer, wobei der wissenschaftliche Vortrag überwog.
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1892 zählte die Gesellschaft 120 Mitglieder, 1913 immerhin 250. Wer nicht an den Sitzungen teilnehmen konnte, las die wörtlichen Protokolle im "Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten" nach.
     Vorerst befaßte sich die Gesellschaft neben medizinischen auch umfassend mit psychologischen Problemen. Dann rückten psychiatrische Fragestellungen in den Mittelpunkt, ebenso gutachterliche Belange vor Gerichten. Erklärte Haltung der Gesellschaft war es immer, zu sozialen Problemen und standespolitischen Forderungen keinerlei Meinung zu äußern; vielmehr wurde das Wissenschaftliche und Fachliche gepflegt. Die Auflistung der Vorträge (1400 bis 1933!) ist ein einzigartiges Spiegelbild der Entwicklung der Psychiatrie und der Etablierung der jungen Neurologie und des schließlichen Zusammenwachsens beider Disziplinen und beider Profilierung. Namen wie Griesinger, Karl Bonhoeffer (1868-1948), über 25 Jahre Vorsitzender, Emil Kraepelin (1856-1926), Ordinarius in München und Vortragender, die Ehrenmitglieder Rudolf Virchow (1821-1902) und Ernst von Leyden (1832-1910) stehen dafür.
     Zweifellos geriet die Gesellschaft während der Hitlerherrschaft in das Fahrwasser der nazistischen Ideologie der "Erb- und Rassenpflege", die ihren erschütternden Höhepunkt in der Ermordung behinderter und psychisch kranker Menschen ab 1939 fand.
Auch diese Thematik spiegelte sich, ohne daß wissenschaftlicher oder anderer Widerspruch laut wurde, im Leben der Gesellschaft wider. Die Protokolle verzeichnen für diesen antihumanistischen Mißbrauch der Medizin u. a. die Namen der faschistischen Parteigänger Max de Crinis (1889-1945), seit 1938 Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité und von 1941 bis 1944 Vorsitzender der Gesellschaft, des im Klinikum Buch tätigen Neuropathologen Julius Hallervorden (1887-1965) und des einflußreichen Erbbiologen und Direktors des Kaiser-Wilhelms-Instituts für Anthropologie Fritz Lenz (1887-1976).
     Nach dem Zweiten Weltkrieg versammelte sich die Gesellschaft wieder, als die Besatzungsmächte es 1947 zuließen. Die Spaltung Berlins trieb auch einen Keil in diese traditionsreiche Gesellschaft, die jetzt wieder zusammengeführt ist und 1992 mit einem wissenschaftlichen Symposium und einer Festveranstaltung das 125. Stiftungsfest beging.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/1996
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