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Gerhard Keiderling
»Es wird berichtet...«

Interne Berichte aus dem Jahre 1952 über die politische Stimmung und die soziale Lage in Ostberlin

In der DDR hatten die SED und ihre Organisationen eine Berichts- und Informationspraxis entwickelt, die schließlich in ihrer Perfektion nicht mehr zu übertreffen war. Bevor das Ministerium für Staatssicherheit diesen Sektor monopolisierte, spielte das im November 1949 geschaffene Amt für Information bei der Regierung der DDR eine wichtige Rolle bei der Ergründung der Stimmungslage in der Bevölkerung und bei der Festlegung der Agitation und Propaganda. In der DDR-Hauptstadt - damals als »demokratisches Berlin« bezeichnet - gab es gleichfalls eine Abteilung, die über Jahre hinweg »Stimmungsberichte über Diskussionen und Meinungen der Bevölkerung« anfertigte. Die Bezirksämter, die Parteien und Massenorganisationen, die Nationale Front, die Haus- und Straßenvertrauensleute, Schulleiter usw. lieferten das Material. Alle wichtigen politischen und sozialen Bereiche waren erfaßt. Gemäß dem internen Verwendungszweck gaben die Berichte, die heute im Landesarchiv Berlin liegen, ein ungeschminktes Bild von der Stimmungslage, den Alltagsnöten.

Dem heutigen Leser entgeht nicht die Machart der Berichte, die kritische, ja negative Stimmen immer »positiv« umzudeuten suchte. Dieser Berichtsstil war typisch für den stalinistischen Herrschaftsapparat der SED.
     In zwangloser Folge bringt die »Berlinische Monatsschrift« zu interessanten Themen Auszüge aus diesen Berichten. Heute:

Der Beginn des Nationalen Aufbauprogramms Berlin 1952

Am 25. November 1951 rief das ZK der SED zu einem »Nationalen Aufbauprogramm Berlin« (ab 1. Februar 1953 als »Nationales Aufbauwerk - NAW« für die gesamte DDR weitergeführt) auf. Die Ostberliner sollten in freiwilliger, unbezahlter Arbeit die Ruinen und Trümmerberge in den Stadtbzirken Mitte und Friedrichshain beseitigen helfen, damit entlang der Stalinallee (seit 1961 Karl-Marx-Allee) eine sozialistische Musterallee geschaffen werden konnte. Darüber hinaus waren Betriebe und Bevölkerung in allen Teilen der DDR aufgerufen, durch Sonderschichten, Zusatzproduktionen und Geldspenden mitzuhelfen. In damals üblicher Manier wurde ein riesiger Apparat aufgezogen: Zentraler Aufbaustab mit Aufbaustäben in den Stadtbezirken, Aufbaukomitees in den Betrieben, Einrichtungen, Schulen und schließlich sogar in jedem Haus. Jeder sollte angesprochen, überzeugt und zu Selbstverpflichtungen gedrängt werden.

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     Der Aufruf fand in der Bevölkerung ein zustimmendes Echo. Am 2. Januar 1952, am ersten »Aufbautag«, waren über 50 000 Ostberliner zum Strausberger Platz gekommen, um Schutt wegzukarren und Ziegelsteine zu putzen. Die Begeisterung der ersten Tage ließ bald nach, wie immer bei Kampagnen. Die Stimmungsberichte veranschaulichten, welche Schwierigkeiten im ersten Halbjahr 1952 auftraten.

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Stellungnahme der Bevölkerung zum Nationalen Aufbauprogramm: Bei dieser Frage wurde festgestellt, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung von diesem Vorschlag am Montagnachmittag noch nichts wußte. Als Argumentation wurde von dem größten Teil angegeben, daß die Menschen den demokratischen Rundfunk nicht hörten, weil angeblich am Totensonntag zu viel Trauermusik gesendet wurde. Diese Argumentation dürfte im allgemeinen nicht zutreffend sein, denn der Vorschlag des ZK der SED wurde ja auch während der Nachrichtensendungen durchgegeben. Es besteht aber die Möglichkeit, daß größere Teile der Bevölkerung viel stärker den RIAS hören. Außerdem wurde festgestellt, daß die Aufklärung über das Nationale Aufbauprogramm gerade in den Privatbetrieben zu wünschen übrig läßt.
     (Aus dem Stimmungsbericht vom 7. Dezember 1951)

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Neben der bei vielen Menschen herrschenden Begeisterung zum Nationalen Aufbauprogramm gibt es auch viele negative Stimmen in den Betrieben, die zu einem Teil aus den Unklarheiten über den Vorschlag des ZK der SED hervorgehen. Im Gegensatz zu den anderen politischen Problemen wird das Nationale Aufbauprogramm in den Betrieben stärker diskutiert. Sowohl die Parteiorganisationen als auch die Betriebsgewerkschaftsleitungen haben bisher nicht verstanden, die große politische Bedeutung des Nationalen Aufbauprogramms im Kampf um die Erhaltung des Friedens aufzuzeigen. Aus diesem Grunde bewegen sich die Diskussionen hauptsächlich auf der persönlichen Ebene (wie: 3 Prozent ist zuviel, 100 Halbschichten kann man nicht leisten).1) Es gibt viele Vorschläge, statt der 3 Prozent auch die Möglichkeit zur Abgabe kleinerer Beträge (1 Prozent) zu schaffen. [...] Außerdem wurde vielfach die Frage gestellt: »Was geschieht mit den noch beschädigten Wohnungen? Die können nicht fertiggestellt werden, weil es an Holz, Nägeln und anderen Materialien mangelt, doch könnten tausende von Wohnungen durch diese Reparaturen geschaffen werden.« Die Menschen stoßen sich daran, wenn nicht einmal diese kleinen Bauvorhaben ausgeführt werden, wie sollte dann das gewaltige Programm des nationalen Aufbaus durchgeführt werden.
     (Aus dem Stimmungsbericht vom 17. Dezember 1951)

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Bei einer breiten Agitation und Aufklärung könnte ein erheblicher Teil von neuen Mitarbeitern am Nationalen Aufbau-Programm gewonnen werden. [...] Außerdem tritt in einigen Fällen immer wieder das Argument in Erscheinung, daß man die Garantie haben müßte, daß in die neu gebauten Wohnungen nicht nur Sachsen und Thüringer kommen, sondern Berliner.
     (Aus dem Stimmungsbericht für die Zeit vom 1. Januar-15. Januar 1952)

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Es wird immer wieder, gerade von den Hausfrauen und den Rentnern der Wunsch vorgetragen, daß der Einsatz zum Nationalen Aufbau (resp. Enttrümmerung) in der unmittelbaren Nähe des Wohnortes erfolgt. Einen wesentlichen Punkt spielen auch die Diskussionen über die Rückerstattung des verauslagten Fahrgeldes bei Rentnern und Jugendlichen. Es wurden hier einige Vorschläge gemacht, daß man diesen Personenkreis eventuell auf Grund ihrer Aufbaukarten auf den Berliner Verkehrsmitteln unentgeltlich fahren läßt.
     (Aus dem Stimmungsbericht für die Zeit vom 16. Januar - 31. Januar 1952)

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Die Gründung von Hauskomitees in den Bezirken ist zwar in der letzten Zeit etwas stärker vorangetrieben worden, aber in Wirklichkeit stehen diese nur auf dem Papier. Dafür einige Beispiele: Im Bezirk Friedrichshain wurden dem Bezirks-Aufbaustab 130 Hauskomitees gemeldet, von denen in Wirklichkeit bisher jedoch nur 2 bei der praktischen Arbeit in Erscheinung treten. Im Bezirk Weißensee von ca. 100 gemeldeten Komitees sind es ungefähr 10, die wirklich arbeiten. [...]
     Vom Bezirk Prenzlauer Berg wird mitgeteilt, daß es in einer Versammlung der Kleingartenbesitzer der Kolonie Kapland und Wilhelmshöhe, wegen der dort aufzustellenden Brechanlage die Kolonie kurzfristig zu räumen, unter den empörten Kleingärtnern zu Tumultszenen kam, in denen Bürgermeister Hensel gefragt wurde, ob er sich den Film »Das verurteilte Dorf«2) angesehen hat. Außerdem wurden feindliche Äußerungen gegen die Partei getan. Die Versammlung konnte nicht ordnungsgemäß zu Ende geführt werden. [...]
     Gleichfalls wurde darauf aufmerksam gemacht, daß sich in letzter Zeit verdächtig viel Ordner vor den einzelnen Enttrümmerungsstellen sehen lassen. Es wird vorgeschlagen, diese Ordner, die ja durch eine Armbinde gekennzeichnet sind, ebenfalls an der Arbeit teilnehmen zu lassen. [...]

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     Bei der Agitation für das Nationale Aufbauprogramm wurden wiederum Stimmen laut, in welchen dagegen Stellung genommen wird, daß für die geschaffenen Wohnungen ja in erster Linie nur Aktivisten und dann die aus der DDR nach Berlin geholten Fachkräfte und außerdem Angehörige der techn. Intelligenz berücksichtigt werden. (Es besteht bei der Bevölkerung noch immer keine Klarheit, daß gerade die Aktivisten und die techn. Intelligenz einer besonderen Förderung bedarf.)
     (Aus dem Stimmungsbericht für die Zeit vom 16. Februar-29. Februar 1952)

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Auch die Bildung von Hauskomitees kommt nicht vorwärts. In einigen Bezirken stehen die Hauskomitees nur auf dem Papier. Von den Hausfrauen und Rentnern wird immer wieder erklärt, daß die Anfahrt zu lang sei und sie außerdem das Fahrgeld nicht aufbringen können. So wird die Frage gestellt bei 100 Halbschichten: 200 mal 0,20 DM = 40,- DM. Sie wünschen Enttrümmerungsstellen in der Nähe ihres Wohnbezirkes. [...]
     Sowohl vom Bezirksaufbaukomitee Prenzlauer Berg als auch vom Bezirk Friedrichshain wird mitgeteilt, daß das Transportproblem noch immer nicht gelöst ist.

Die größte Schwäche ist die Arbeit an den Kippen.3) Die Kollegen der BVG arbeiten freiwillig mit ihren Bahnen und würden auch abends fahren, aber die Kippe in der Burgstraße entladet nach 18.00 nichts mehr. [...] Weitere Schwierigkeiten entstehen auch bei der Kippe Oderbruchstraße und zwar dadurch, daß nach Beginn der freiwilligen Aufbauschichten fast gleichzeitig nach Beladen der Fahrzeuge ca. 80 Stück die Kippe anfahren, so daß das Entladen bis zu einer Stunde Verzögerung mit sich bringt; dadurch können die Fahrzeuge meist nur einmal beladen werden. [...]
     Die Bartholomäus-Kirchengemeinde4) in der Brendicke Straße beklagte sich, daß während ihrer Andacht immer der Lautsprecher zur Unterhaltung der freiwilligen Helfer spielt, es störe die Andacht der Gläubigen, man sollte den Lautsprecher doch während dieser Zeit ausschalten. Das Bezirksaufbaukomitee machte dem Pfarrer den Vorschlag, dabei zu helfen, daß die Stelle recht schnell enttrümmert wird, worauf die Teilnahme von 100 Konfirmanden am Aufbau zugesagt wurde.
     (Aus dem Stimmungsbericht für die Zeit vom 1. April-30. April 1952)

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Die Berliner Volkseigene Wohnungsverwaltung Friedrichshain hat sich in Bezug auf die Popularisierung und Werbung für das Nationale Aufbauprogramm besonders unter den Westberlinern bereits einen Namen gemacht und über 20 Besichtigungsfahrten mit Westberlinern durchgeführt. Neuerdings wurde eine Selbstverpflichtung übernommen, bis zum 31. Mai dieses Jahres die 25. Besichtigungsfahrt durchzuführen und dann den 7 000. Westberliner Besucher die Bauten an der Stalinallee und andere Stellen im demokratischen Sektor zu zeigen. An die Fahrten haben sich jeweils in freundschaftlicher Form durchgeführte Aussprachen angeschlossen, auf welchen viel Unklarheiten über den demokratischen Sektor beseitigt werden konnten.
     (Aus dem Stimmungsbericht für die Zeit vom 1. Mai-15. Mai 1952)

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Bei Bergmann-Borsig hat das Betriebsaufbaukomitee schon 4mal den Vorsitzenden gewechselt, der Erfolg ist, daß täglich nur noch 13 bis 20 Kollegen auf der Baustelle erscheinen. Die Unterstützung durch die BGL, aber auch durch die Gewerkschaften selbst, ist meist mangelhaft; aus diesem Grunde hat die intensive Agitation für das Nationale Aufbauprogramm überall nachgelassen ... Von den Bezirksaufbaustäben wird erklärt, daß am Tage nicht genügend Aufbauhelfer zur Verfügung stehen, um die Fahrzeuge restlos auszunutzen. Die Trümmerbahn hat z. B. eine Kapazität von 800 cbm Schutt pro Tag, ausgenutzt wird sie aber zur Zeit nur mit täglich 200 bis 250 cbm.
     (Aus dem Stimmungsbericht für die Zeit vom 16. Mai-31. Mai 1952)

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Anmerkungen:
1 Zur Finanzierung des NAP sollte eine »Aufbaulotterie« geschaffen werden: Wer 3 Prozentseines Monatseinkommens für die Dauer des Jahres 1952 zeichnete, sollte die gesamte eingezahlte Summe plus 3 Prozent Zinsen in drei Jahresraten bis 1958 zurückerhalten und außerdem mit einem Los an der Auslosung von 1 000 Wohnungen in der Stalinallee teilnehmen können. - Eine Halbschicht waren drei Aufbaustunden.
2 Der DEFA-Spielfilm »Das verurteilte Dorf« handelte vom Widerstand eines westdeutschenDorfes gegen den Bau eines US-Truppenübungsplatzes; er wurde in der DDR als Beitrag im »Kampf gegen die westdeutsche Remilitarisierung und Kriegsgefahr« hochgelobt.
3 Die Trümmermengen wurden von kleinen Dampfbahnen oder Fahrzeugen zur Verkippung in den Volkspark Friedrichshain und auf ein Gelände an der Oderbruchstraße (heute Volkspark Prenzlauer Berg) bzw. zur Verladung auf Spreekähne gebracht.
4 Die Brendickestraße existierte bis 1963. Sie verlief von der Mollzur Barnimstraße und fiel Baumaßnahmen zum Opfer.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/1996
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