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Jürgen Kuczynski
Diebe in Berlin vor 150 Jahren

Der Verfasser C. W. Zimmermann hat mit »Die Diebe in Berlin«, erschienen 1847, wohl das bedeutendste Buch über Kriminalität vor Paul Lafargue geschrieben. Er war ein ehemaliger Kriminalkommissar in Berlin, der dies zweibändige Werk in den Jahren 1844 bis 1846 verfaßt hatte.
     C. W. Zimmermann war eine einzigartige Erscheinung in der preußischen Polizei des 19. Jahrhunderts. Er war ein aufgeklärter Humanist, der im Vorwort zum Zweiten Band feststellte und forderte: »Das Proletariat ist die Quelle jenes, namentlich in diesem Winter so furchtbaren Wachsthums der Eigenthumsverbrechen, und wenn dieses Uebel nicht in der Wurzel angefaßt und geheilt wird, was ich im 3. Capitel näher gezeigt habe, so können wir auch niemals auf eine Verminderung jener Verbrechen rechnen, selbst wenn Draco's Blutgesetze gegen den Diebstahl wieder in's Leben gerufen würden.
     Hebung der äußeren Lage des Proletarier, Hebung ihrer moralischen Kräfte und Herbeiführung einer edleren Gesittung und Jugenderziehung, Anerkennung der Humanität, auch gegen den Verbrecher, Heraufziehen der Gefallenen in die Gemeinschaft der Besseren und Unterstützung

der Sinkenden, strenge, aber dem Zeitgeist entsprechende, nicht entehrende, sondern zur Arbeit, zum redlichen Erwerbe, zur Wiederherstellung des Charakters und des Vertrauens zur bürgerlichen Gesellschaft führende Strafgefängnisse - das sind die Hauptmittel, durch welche das erkrankte Gemeinwesen geheilt und materielle und moralische Wohlfahrt des Volkes, und namentlich der niederen Klassen, wieder hergestellt werden kann.«
     Die Informationen, die wir über die Diebe in Berlin erhalten, sind wahrlich umfassend und ins einzelne gehend. Zugleich sind sie vielfach auch den Kennern jener Zeit unbekannt. Zum Beispiel hatte ich keine Ahnung von folgendem (erste Sätze des 4. Kapitels): »Es ist bisher immer üblich gewesen, daß die criminalistischen oder polizeilichen Schriftsteller, bei der Betrachtung der verschiedenen Verbrecherklassen in Deutschland, von dem Unterschiede zwischen christlichen und jüdischen Gaunern und Dieben ausgingen oder wenigstens das Prävaliren eines jener beiden Elemente in der Verbrecherwelt voraussetzten - eine Unterscheidung, welche sich bei den englischen, amerikanischen und französischen Schriftstellern nie findet, obschon in jenen Ländern ebenso viele jüdische Bestandtheile in den unteren Stadien der Gesellschaft angetroffen werden, und eben die strenge und bizarre Absonderung von den übrigen Confessionen beibehalten.«
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Das 7. Kapitel ist speziell den Taschendieben gewidmet, die auch »Drücker« oder »Orfdrücker oder Cheilefzieher, d. h. Lichtzieher« oder »Seifensieder« in der Kriminalsprache genannt wurden. Ja, das ganze 13. Kapitel, fast 30 Seiten, ist der »Diebessprache in Berlin« gewidmet. Manche Ausdrücke sind auch heute noch bekannt wie »Dalles gleich Geldmangel, Armuth«, andere sind auch den gebildeten Dieben von heute unbekannt wie »Flanellwache stehen, oder Flanellwache halten, sagt man nur von verheirateten Dieben, wenn sie sich durch die Flitterwochen abhalten lassen, ihren alten Verkehr zu frequentiren« oder »Tauben haben, i. e. Glück haben. Wenn nehmlich über die nach dem Masematten gehenden Diebe eine Taube zufällig wegfliegt, glauben sie gewöhnlich, daß ihr Plan gelingt.«
     Der erste Band konnte nur heftig zensuriert und befeindet, unter anderem von, wie Engels ihn nannte, »einem der elendsten Polizeilumpen des Jahrhunderts«, W. Stieber, erscheinen. Aber Zimmermann setzte sich erfolgreich zur Wehr, und nach dem Vorwort zum zweiten Band finden wir einen »Nachtrag zum ersten Band >Diebe in Berlin<«, dessen erste Sätze lauten: »Durch Erkenntniß des Königlichen Hohen Ober-Censurgerichts vom 15. Dezember 1846 sind nachfolgende, durch den Bezirks-Censor, Regierungs-Assessor Piper, gestrichene Stellen zum Druck verstattet worden.« Die Streichungen sind natürlich überaus interessant.
So heißt es zum Beispiel im ersten Band auf Seite 25 über einen kleinen jungen Dieb: »Nachdem er nunmehr wegen großen gemeinen Diebstahls im Zuchthause gesessen, kam er nach Berlin zurück.« Der ursprüngliche Text aber hieß, wie wir im zweiten Band (S. XI) erfahren: »Nachdem er - im Zuchthaus gesessen, und dort die Weihe zum Verbrechen, wenn ich es so nennen soll, empfangen hatte, kam er als ausgebildeter Dieb nach Berlin zurück.« Wie kennzeichnend die Streichung für die Zensur! Wie kennzeichnend der volle Text für die Verhältnisse in den preußischen Strafanstalten.
     Schlimm auch die Streichung auf Seite 141. Zimmermann bemerkt (S. XIII f.): »Seite 141, Zeile 19 von unten, anstatt: >Wenn daher nicht bald mit den materiellen Hebeln zugleich sittliche Veredelung und Verbesserung der sozialen Zustände verbunden wird<: Wenn daher nicht bald dem Nothstande, der die unteren Klassen darnieder hält, durch die jetzt abermals angekündigte Erhebung der Gesammtheit der Staats- und Gesellschaftskräfte abgeholfen, der Theuerung der Lebensmittel durch eine gerechte Besteuerung vorgebeugt, durch umfangreiche, öffentliche Arbeiten für den Verdienst gesorgt, das Armenwesen revidirt, der im öffentlichen Verkehr verschwundene Credit und das wechselseitige Vertrauen wieder hergestellt, und mit den materiellen Hebeln zugleich u.s.w.
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     Ferner auf derselben Seite sind am Schlusse des Capitels noch die Worte einzuschalten: Möchte es mir und Allen, die den jetzigen trüben Zustand so genau kennen zu lernen Gelegenheit hatten, bald vergönnt zu sein, die neuen Sonnenstrahlen über dem Nebeldunst der Gegenwart wahrzunehmen.«
     Überaus interessant auch die gesetzlich verankerte (!) verschiedene Bestrafung von arm und reich. Auf Seite 332 lesen wir: »Man sollte nun meinen, daß, da die körperliche Züchtigung als ein integrirender Theil der Strafe besteht, sie auch jeden gerichtlich verurtheilten Dieb, ohne Unterschied seines Standes oder persönlichen Herkommens, treffen müsse, nach dem philosophisch richtigen Grundsatz: >le crime fait la honte, et non pas l'échafaud.<(Das Verbrechen bringt Schande, nicht das Schafott. - d. Red.)
     Dessenungeachtet ist die bürgerliche Züchtigung, nach dem Rescr. vom 23. Mai 1812, nur >auf Personen der untersten Volksklasse< beschränkt, und wird auch heut nur an diesen vollstreckt. Daher werden nur die armen, oder ungebildeten, oder erziehungslosen, von Jugend auf in Verwilderung auferwachsener Diebe, die oft nicht das siebente Gebot in der Schule gelernt haben; diese - zuweilen weniger moralisch schuldigen - werden mit Prügeln gestraft, wogegen der Dieb von Stande, der nicht aus Noth oder in Folge rohgebliebener Begriffe von Recht und Unrecht, sondern aus Gewinnsucht gestohlen hat, mit bloßem Gefängniß - wenigstens das erste Mal - davon kommt. Vergl. auch das Rescr. vom 7. Decbr. 1827.» Zum Schluß ein Seufzer.

Ach hätte ich doch dieses Buch gekannt, als ich meine »Geschichte des Alltags des Deutschen Volkes« schrieb. Und mit mir meine klugen Kollegen seufzen. Wir alle haben uns viel zu wenig um die Verbrecher aus Not oder aus bösem Willen, die doch zusammen einen beachtlichen Teil unseres Volkes ausmachten, gekümmert!
     Doch noch eine letzte Schlußbemerkung. Von diesem Buch gibt es einen »fotomechanischen Neudruck der Originalausgabe«, erschienen in der »so kulturlosen DDR« im Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1979.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/1996
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