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Siegfried Heimann
»Der Mann, der nach vorne ging«

Willy Brandt und Berlin

Am 8. Oktober 1992 starb Willy Brandt in Unkel bei Bonn. Immer wieder aber war der frühere langjährige Regierende Bürgermeister von Berlin und Ehrenvorsitzende der SPD auch nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler im Jahre 1974 in Berlin. In den Jahren 1989/90 sogar mehr als je zuvor; sein politischer Traum, die deutsche Einheit noch zu erleben, war - auch für ihn unverhofft - in Erfüllung gegangen. Er wollte in dieser Zeit so oft wie möglich in Berlin sein, wo nun wieder - wie er formulierte - zusammenwachsen sollte, was zusammen gehört.
     Auch die SPD entschied sich schon bald, in Berlin wieder den Sitz der Parteiführung zu errichten. Im alten Arbeiterbezirk Kreuzberg, wo nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 der SPD-Parteivorstand in der damaligen Luisenstadt im Haus Katzbachstraße 9, später in der Kreuzbergstraße 30 ein Büro bezogen hatte, entstand seit 1993 in der Wilhelmstraße/Ecke Stresemannstraße ein Neubau, der im Mai 1995 als künftiger Sitz des SPD-Parteivorstandes feierlich eingeweiht wurde.

Das Gebäude trägt mit großer Berechtigung den Namen »Willy-Brandt-Haus«.
     Der Name Willy Brandt ist wie kein zweiter mit der Geschichte der SPD nach 1945, vor allem aber mit der Geschichte Berlins verbunden. Hier erlebte er im August 1961 eine bittere Enttäuschung, hier feierte er aber auch seine großen Triumphe als Regierender Bürgermeister von Westberlin, der auch in Ostberlin bekannt und - nicht bei allen - beliebt war.
     Vergessen wird darüber, dass der politische Aufstieg Willy Brandts zwar in Berlin 1947 seinen Anfang nahm, aber keineswegs ohne Probleme und Widersprüche war. Davon soll im Folgenden die Rede sein.1)
     Seit 1957 war Willy Brandt Regierender Bürgermeister in Westberlin. Aufgrund seiner überlegten, mutigen, aber auch öffentlichkeitswirksamen Politik während der Zeit des Chruschtschowschen Berlin-Ultimatums 1958 und noch mehr nach dem Mauerbau in Berlin 1961 gewann er als Politiker binnen kurzer Zeit große Anerkennung. Die von ihm angeführte Berliner Sozialdemokratie errang 1958 und 1963 die absolute Mehrheit im Westberliner Abgeordnetenhaus. Im Jahre 1964 erreichte Brandts Ansehen in der Stadt einen Höhepunkt. Eine repräsentative Umfrage ergab damals, dass über 89 Prozent der Westberliner mit Willy Brandt und mit seiner Politik in und für Berlin zufrieden waren. Von dieser sicheren Bastion aus konnte er nun noch entschiedener daran denken, auch in der Bundespartei nach den Sternen zu greifen.
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Immer verbunden mit Berlin

1966 wechselte er vom Stuhl des Regierenden Bürgermeisters von Berlin auf den Sessel des Außenministers und Vizekanzlers und schließlich 1969 des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Bis dahin freilich musste Willy Brandt von seinen ersten Tagen an im Berlin der Nachkriegszeit Anfang 1947 einen weiten Weg zurücklegen. Die Entscheidung, aus der Emigration wieder nach Deutschland zurückzukehren, war für Brandt mit der Frage verbunden, wohin er gehen sollte. Als er gefragt wurde, ob er als Presseattaché bei der norwegischen Militärmission in Berlin arbeiten wolle, schlug er andere Angebote aus: Der Ort »Berlin« - so sagte er später - »das gab den Ausschlag ... Der Entschluß, mein Schicksal mit dem Berlins zu verknüpfen, war ebenso reiflich überlegt wie zwangsläufig.«2)
     Ein Jahr später war er Berlin-Beauftragter des in Hannover residierenden Parteivorstandes der Sozialdemokratischen Partei. Er begann, sich in der Berliner SPD zu engagieren, und er begann, sich in die Politik in Berlin einzumischen. Er galt bald als der »junge Mann« des Oberbürgermeisters, später Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter (1889-1953). Aber dennoch, oder besser: gerade deshalb wurde ihm die politische Karriere in der Berliner SPD nicht leicht gemacht.
     Willy Brandt wollte von Anfang an nicht nur Berliner Lokalpolitiker sein.

Sein Interesse galt, gerade weil er sich um Berlin - um die Freiheit Westberlins - sorgte, auch deutschland-politischen und außenpolitischen Fragen. Und er war von Anfang an ein Politiker, der Realitäten zur Kenntnis nahm und bereit war, eingefahrene Gleise der Politik zu verlassen, wenn deutlich war, dass sie nur im Kreise herum führten. Ein alter Gegner aus Berliner Tagen und späterer Verehrer Brandts brachte das sehr selbstkritisch m. E. auf den Punkt, als er - nämlich Harry Ristock (1928-1992) - Jahre später konstatierte: »Brandt selbst war - und es war sicher meine Fehlentscheidung, damals gegen ihn gewesen zu sein - historisch der Mann, der nach vorne ging.«3)
     Willy Brandt, der Mann, der nach vorne ging. Das gilt nicht erst seit 1961, und es gilt auch nicht nur bei der Formulierung von neuen Akzenten und später auch von Alternativen in der Deutschland- und Außenpolitik, sondern es gilt auch und gerade für die ersten Nachkriegsjahre vor allem für seine Politik in und für Berlin.
     Auch in Berlin wurde die SPD nach 1945 nicht neugegründet, sondern wiedergegründet. Sie hatte - nachdem sich die Berliner Sozialdemokratie gegen die SED-Gründung hatte behaupten können - mit Kurt Schumacher (1895-1952) zwar einen auch in Berlin vorbehaltlos anerkannten »neuen Kopf, aber keine neuen Glieder«4) erhalten, wie Wolf-Dieter Narr es formulierte.
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Franz Neumann (1904-1974), der Organisator der Urabstimmung gegen die Zwangsvereinigung, war der zunächst unumstrittene »volkstümliche« Vorsitzende, von dem Willy Brandt später in seinem Buch »Links und frei« schrieb: »Seine große Zeit kam, als es wichtig war, nein sagen zu können.« Aber Brandt fügte sofort hinzu: »Zwischen uns wuchs kein vertrauensvolles Verhältnis«5) und umriss so mit einem Satz einen über Jahre andauernden Konflikt zwischen beiden Berliner SPD-Politikern, der erst im Jahre 1958 weitgehend zugunsten von Brandt entschieden worden war.
     Es war ein Konflikt zwischen zwei Personen, die verschiedener im Charakter nicht hätten sein können, was zu immer schwerwiegenderen gegenseitigen Animositäten führte; es war der Konflikt zwischen dem in der Nazizeit verfolgten Arbeiterfunktionär Neumann, der 1945 am liebsten wieder da angefangen hätte, wo er 1933 aufhören musste, und dem von weit links kommenden jungen Emigranten, der im skandinavischen Exil viel dazu gelernt hatte und die SPD auch für neue Schichten öffnen wollte. Es war aber spätestens seit 1950 auch der Konflikt zwischen dem SPD-Traditionalisten, der sozialpolitische Reformen in Berlin der ersten Nachkriegszeit nicht ohne Widerstand einer Zugehörigkeit zur Bundesrepublik opfern wollte, und dem pragmatischen Realpolitiker Brandt, der wusste, dass es aufgrund der

Im Jahre 1962 verlieh Willy Brandt als Regierender Bürgermeister die Berliner Ehrenbürgerwürde an General Lucius D. Clay

finanziellen Abhängigkeit Berlins keine Alternative zu der vom Bund geforderten Übernahme von Bundesgesetzen gab.

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     Dieser spätere Konflikt spielte in der schwierigen Situation der vierziger Jahre allerdings noch keine Rolle. Willy Brandt war vom Programm der sozialen Reformen der norwegischen Arbeiterpartei beeindruckt und hatte sich vom radikalen Linkssozialisten zum - wie er sich selbst charakterisierte - »freiheitlichen Sozialisten und sozialen Demokraten skandinavischer Prägung« entwickelt. Und: »Ich hatte meine ursprüngliche linkssozialistische Position überwunden, nicht ihren willensmäßigen Antrieb, aber ihre dogmatische Enge.«6)

Bösartige Verleumdungen über die Zeit der Emigration

Aber Willy Brandt war auch skeptisch gegenüber dem, was ihn in Berlin erwartete. Er vor allem bekam von Beginn an - und es muss gesagt werden: auch von Berliner Sozialdemokraten - immer wieder Vorbehalte wegen seiner Zeit in der Emigration zu spüren. Bösartige Gerüchte wurden über ihn in Umlauf gebracht, als er Anfang 1948 als Nachfolger von Erich Brost (1903-1995)7) der »Berliner Verbindungsmann des Parteivorstandes der SPD« wurde, als solcher zuständig für Kontakte zur Berliner Parteiorganisation, noch mehr aber zu den obersten alliierten Dienststellen in Berlin. In einem Brief an seinen alten Freund im

Stockholmer Exil - Stefan Szende - klagte Brandt 1947 über miese Denunziationen seiner Person. Die ihm sonst eher fremde Wortwahl zeigt, wie sehr ihn die Anwürfe getroffen haben. Er schrieb: »Aber dann kam Schumachers, Ollenhauers und Neumanns Reise nach Skandinavien. In meiner Naivität hatte ich es unterlassen, Schumacher darauf aufmerksam zu machen, daß dort wahrscheinlich scharf gegen mich geschossen würde, ... ich soll ein richtiger illegaler Schieber sein, heute wahrscheinlich ein Agent der Kominform, ... Das ist nun das Argument der geistig Minderbemittelten ... Emigranten-Tratsch lebte auf mit absurden Verdächtigungen. Da gab es auch einige, die mich in Hannover als >nicht ganz zuverlässig< anschwärzen wollten.«8) Letzteres war eine Anspielung auf seine Freundschaft mit Jacob Walcher (1887-1970), der in die SED gegangen war und dort im übrigen seinerseits Probleme bis zum Parteiausschluß bekam wegen seiner Freundschaft mit Brandt.9)
     Dabei besaßen die Remigranten gerade für die schwierige Situation in Berlin einen Schatz an Erfahrung, der ihnen vor allem den Umgang mit den Alliierten erleichterte. Aus dieser Auslandserfahrung resultierte besonders auch bei Brandt eine Gelassenheit im Umgang mit den Amerikanern, die in den vierziger Jahren in der Berliner Sozialdemokratie bei weitem nicht alle hatten.
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Er hatte in der Emigration gelernt, die auch von ihm in den zwanziger Jahren noch mitvertretene »Politik, die zwischen unfruchtbaren Sektierertum und wirkungsloser Opposition schwankte«, kritisch zu sehen, und er wurde trotz Widerspruchs aus der Partei nicht müde, diese seine Erfahrungen seinen »unbeweglich« scheinenden Genossen zuzumuten.10) Nicht anders ist etwa Willy Brandts Rede auf dem Berliner Landesparteitag im Mai 1949 zu verstehen, in der er gleichermaßen gegen die dogmatischen Sektierer mit der »Zitatenbibel« zu Felde zog wie gegen diejenigen, die lieber in die Opposition gehen wollten, als zu Kompromissen bereit wären.11) Seiner Partei empfahl er später - in einer Rede auf einem Landesparteitag 1954 - auch einen anderen Umgang mit dem politischen Gegner. Es sei besser, »die kritische Haltung mit einem ja wenn zu begründen statt mit einem nein aber. Wir sollten bemüht sein, unsere Forderungen so positiv wie möglich zu erheben.«12)

Animositäten und unterschiedliche Sichten

Zu Beginn der fünfziger Jahre konnte Brandt nicht mehr vermeiden, auch innerparteilich politisch Farbe zu bekennen. Ein langjähriger Konflikt mit dem Berliner Landesvorsitzenden Neumann war damit programmiert. Der Konflikt hatte neben den persönlichen Animositäten vor allem seine Ursache darin, dass in der Berliner Partei die in der Stadt mögliche Politik unterschiedlich gesehen wurde. In den Wahlen von 1950 hatte die SPD ihre Mehrheit verloren,

eine Beteiligung an einer Koalitionsregierung oder gar die Oppositionsrolle standen auf der Tagesordnung. Brandt kritisierte die Einfallslosigkeit der Berliner SPD, die zwar ihre Verdienste aus der Zeit 1945/46 hatte, aber, so fügte er 1952 in einer Stellungnahme über die Ursachen der Berliner Krise hinzu: »In der politischen Praxis kann man vom Ruhm vergangener Zeiten allein nicht leben.« Er forderte, die Rahmenbedingungen Berliner Politik zur Kenntnis zu nehmen: »Sehen wir die Dinge, wie sie sind: Westberlin könnte nicht existieren ohne die Milliarde, die ihm jährlich nach dem jetzigen Stand aus Bundesmitteln zufließt.« Deshalb müsse Berlin, müsse die Berliner SPD ihr Verhältnis zum Bund klären, und da gebe es leider keine Alternative; die Bindung an den Bund dürfe nicht durch Vorbehalte bei der Übernahme von Bundesgesetzen gefährdet werden.13)
     Willy Brandt war auch im Interesse Berlins stets an außenpolitischen Fragen interessiert. Immer wieder fasste er in Vorträgen - oft im Ausland - seine deutschlandpolitischen Überlegungen zusammen und schickte die Manuskripte an den Parteivorstand in Bonn, der sich auch stets artig für die Zusendung bedankte. Im April 1956 stellte er die ketzerische Frage, ob denn »unter den übergeordneten Gesichtspunkten der europäischen Sicherheit und des Friedens die deutsche Wiedervereinigung wirklich so wichtig sei«, ließ es aber in seiner Antwort nicht an Eindeutigkeit fehlen: »Die Wiedervereinigung Deutschlands bleibt auf der Tagesordnung.«14)
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Bemerkenswert an dieser - im übrigen wenig bekannten - Ausarbeitung aber ist, dass er sich nicht nur Gedanken darüber machte, ob denn die Deutschen trotz aller Lippenbekenntnisse die Vereinigung noch wollten, sondern - für die spätere Zeit wichtiger - auch über die Interessen der Großmächte, die der Vereinigung zustimmen müssten, also auch über die Interessen der Sowjetunion.
     Zumindest bei Heinrich Albertz (1915-1993), der erst 1955 aus Niedersachsen als Senatsdirektor nach Berlin gekommen war und den Brandt in einem herzlichen Brief willkommen hieß, fand er für seine nachdenklichen Überlegungen ein offenes Ohr, da jener die Haltung einiger seiner neuen Berliner Parteifreunde in der Ost-West-Auseinandersetzung ebenfalls sehr unbeweglich fand. Albertz sah kurz nach seiner Ankunft in Berlin im Oktober 1955 vor allem Diskussionsbedarf - wie er in einem Brief schrieb - »mit den eigenen Freunden, denn gerade die Westberliner Situation ist ja in der Festungspsychose der letzten Jahre besonders verhärtet, und in einer geradezu unbegreiflichen Illusion meint man hier noch wie in den heroischen Zeiten der Blockade, mit einem bloßen Nein auskommen zu können.«15)
     Brandts Stimme in der Berliner Politik war auch deshalb in den fünfziger Jahren immer deutlicher zu hören.
Als Otto Suhr (1894-1957) 1955 zum Regierenden Bürgermeister gewählt wurde, folgte Brandt ihm in sein Amt als Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, und als Otto Suhr im August 1957 starb, gab es nur kurze Zeit Irritationen über die Nachfolge.
     Am 3. Oktober 1957 wählte das Berliner Abgeordnetenhaus Willy Brandt mit 43 Jahren zum Regierenden Bürgermeister von Berlin. Wieder musste sich Brandt in seiner Partei und gegenüber anderen Parteien gegen Diffamierungen zur Wehr setzen. Und erneut hatte er dabei nicht wenige Schläge unter die Gürtellinie auszuhalten. Anfang 1957 versuchten - wie er schrieb -, »haßerfüllte Widersacher, meine Emigrationszeit gegen mich auszuspielen. Eine veritable Kampagne der Ehrabschneidung setzte ein.«16)
     Vorbehalte gegen seine Person aber gab es nicht nur in den Reihen der Berliner SPD. Auch aus dem fernen Bonn, namentlich von Seiten des Bundeskanzlers Adenauer (1876-1967), gab es Signale, die auf Misstrauen gegenüber dem so ganz anderen Sozialdemokraten schließen ließen. Erich Brost , inzwischen Herausgeber der einflussreichen »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung«, der Brandt aus seiner Zeit als Berlin-Beauftragter freundschaftlich verbunden geblieben war, schrieb ihm kurz nach seiner Wahl von diesen Vorbehalten.
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Brandt erwiderte ihm Anfang Dezember 1957: »Daß Adenauer mir mit beträchtlichem Vorurteil begegnete, war mir aus verschiedenen Andeutungen und auch aus eigener Erfahrung bekannt. Ob sich das ändern wird, bleibt abzuwarten. Bei den beiden Gesprächen, die ich nach meiner Wahl mit ihm gehabt habe, war er verhältnismäßig aufgeschlossen. Lemmer sagte mir, der Alte habe mich schon vor einigen Jahren und auch kürzlich wieder als früheren Kommunisten bezeichnet«.17)

Die DDR machte Brandt zum feindlichen Agenten

Im Wahlkampf 1958 und in allen folgenden Wahlkämpfen kamen diese Vorbehalte immer wieder als wahre Schmutzkampagnen hoch. Bundeskanzler Adenauer spielte ohne Hemmungen auf Brandts nichteheliche Geburt an, Bundesminister Franz Josef Strauß (1915-1988) fragte scheinheilig danach, was denn Herr Brandt zwölf Jahre im Ausland getrieben habe, und die DDR setzte noch eins drauf und machte ihn zum englischen, wahlweise auch zum amerikanischen Agenten. Er galt der SED als Anführer des rechten Flügels in der SPD, als »Vertreter der amerikanischen Fraktion«, hinter ihm stünde der englische Geheimdienst, er heiße eigentlich Frahm und sei in fremder Uniform nach Deutschland zurückgekommen.18)
     Brandt setzte sich auf verschiedenste Weise - auch gerichtlich - zur Wehr;


Einer der ersten Besuche Willy Brandts als Außenminister der Bundesrepublik Deutschland galt Anfang 1967 Berlin und seinem Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz

oft überging er die Anwürfe mit Schweigen. Seine Zeit im Exil aber ließ er nie in den Schmutz ziehen. Er erklärte mehr als einmal: »Ich bin stolz auf meine Teilnahme am Widerstand gegen das Hitler-Regime in Deutschland und auch in Norwegen, das mir zur zweiten Heimat geworden war.

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Den Kampf gegen die Volksverderber und für die Freiheit habe ich mit den mir zur Verfügung stehenden politischen und publizistischen Mitteln geführt.«19)
     Sein Aufstieg in der Berliner SPD aber war nicht aufzuhalten. Auf einem außerordentlichen Landesparteitag im Januar 1958 löste Willy Brandt nach längerem innerparteilichen Streit den seit 1946 im Amt befindlichen Franz Neumann als Landesvorsitzenden der Berliner SPD ab.
     Tage nach seiner Wahl schrieb er in einem Brief an enge Freunde aus der Zeit der Emigration: »Es war unvermeidlich, die Dinge hier einmal zur Entscheidung zu bringen. Es wird noch eine Reihe von Schwierigkeiten geben, aber ich hoffe, daß wir damit fertig werden. Aus der westdeutschen Partei gibt es eine ganze Reihe positiver Äußerungen. Aber >die Baracke< scheint nicht begeistert zu sein.«20)
      Die mangelnde Begeisterung im Parteivorstand änderte sich auch nach dem Parteitag 1958 nur allmählich, obwohl der Parteitag einige sehr wichtige organisatorische Veränderungen brachte und Willy Brandt endlich auch den ersehnten Platz im Parteivorstand erhielt.
     Aus dem Ausland fehlte es auch weiterhin nicht an Lob für seine beeindruckende politische Karriere. Während seiner USA-Reise 1958 war Willy Brandt - von der Presse sorgsam registriert - für eine »bewegliche, möglichst unorthodoxe Politik« gegenüber dem Kommunismus eingetreten.
Diese von Brandt geforderte und auch gewollte »bewegliche Politik« musste sich freilich in Berlin immer noch in engen Bahnen bewegen, was kaum Aussicht auf Erfolg versprach.
     Die engen Grenzen zeigten sich besonders in einer Hinsicht. Es betraf das Problem, wie mit jemandem zu reden war, den man in seiner Funktion nicht anerkennen, geschweige denn anreden darf. Willy Brandt hatte am 16. Juni 1958 »Vorschläge zur Normalisierung des Verhältnisses in Berlin« bei der - wie es im Anschreiben hieß - »Verwaltung des Ostsektors von Berlin, zu Händen von Herrn Fritz Ebert« übergeben lassen. In dem Brief hatte er die Ostberliner Verwaltung aufgefordert, sich für die Freilassung der Verurteilten des 17. Juni 1953 einzusetzen, aber auch zehn Fragen gestellt, die auf eine Erleichterung der Situation der Berliner Bevölkerung zielten.
     Der Ostberliner Oberbürgermeister - ein Sohn des Reichspräsidenten Ebert - hatte es leicht, sich aus der Affäre zu ziehen. Er schickte den Brief als »in Form und Inhalt ungehörig« postwendend zurück. Brandt sah diese Zurückweisung öffentlich als Ausdruck der unbeweglich gebliebenen Haltung der »Verwaltung des Ostsektors«, wie er in einem Brief an seinen Koalitionspartner Franz Amrehm (1912-1981) schrieb. Dass durch eine andere Anrede die andere Seite vielleicht mehr in Verlegenheit zu bringen war, vielleicht aber sogar mehr zu erreichen war, hat Brandt damals noch nicht thematisiert, lag aber in der Logik seiner Überlegungen über eine »bewegliche Politik«.21)
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     Alle diese zaghaften Versuche, etwas Bewegung in die festgefahrenen Rituale deutschlandpolitischer Unbeweglichkeit zu bringen, schienen aber im Herbst 1958 durch einen Paukenschlag von sowjetischer Seite hinfällig zu werden. Chruschtschow (1894-1971) machte seine Drohungen war und ließ die Öffentlichkeit von seiner Absicht unterrichten, Berlin einseitig zu einer »Freien Stadt« zu erklären. Dieses als »Berlin-Ultimatum« in die Geschichtsschreibung eingegangene Ziel sowjetischer Politik, den Status von Westberlins nun endgültig einseitig zugunsten der sowjetischen Interessen zu klären, löste erneut eine internationale Berlin-Krise aus.

Das »Berlin-Ultimatum« und der Mann des Tages

Willy Brandt freilich, der in dieser Situation über sich selbst hinaus wuchs, wurde in dieser Zeit ein in der ganzen Welt bekannter Politiker, dem bald die Stadtgrenzen Berlins zu eng wurden. Dazu trug vor allem einer seiner größten politischen Erfolge in Berlin bei.
     Willy Brandt hatte - konfrontiert mit dem Berlin-Ultimatum - den anstehenden Wahlkampf Ende 1958 mit der Parole »Berlin bleibt frei« geführt. Bei einer Rekordwahlbeteiligung von über 93 Prozent hatte die SPD mit 52,6 Prozent die absolute Mehrheit erhalten.

Die CDU war mit 37 Prozent noch im Abgeordnetenhaus vertreten, alle anderen Parteien hatten die Fünf-Prozent-Hürde nicht übersprungen. Die SED hatte gar nur knapp 2 Prozent der Stimmen erhalten. Trotz dieser Mehrheit und trotz des Widerspruchs der Parteilinken bot die SPD wenige Tage nach der Wahl der CDU eine Koalition an. Willy Brandt nannte die Große Koalition ohne Opposition eine »Notgemeinschaft«, die angesichts der sowjetischen Drohung gegen den Status Berlins unumgänglich sei.
     Willy Brandt war ein begehrter Gesprächspartner auf internationalem Parkett und galt nach seinem Wahlerfolg in Berlin als »Mann des Tages«. Der Spielraum für deutschlandpolitische Offensiven war allerdings weiterhin für den Regierenden Bürgermeister Brandt noch geringer als für die oppositionelle SPD im Bund. Erich Ollenhauer (1901-1963) hatte am 10. März 1959 ein zweistündiges Gespräch mit Nikita Chruschtschow in der sowjetischen Botschaft in Ostberlin. Willy Brandt war ebenfalls eingeladen worden. Nach längeren Beratungen im Senat - Widerspruch kam vor allem von der CDU, aber auch von seiten der USA - hatte Brandt die Einladung ablehnen müssen.
     In der beginnenden innerparteilichen Diskussion um einen möglichen neuen Kanzlerkandidaten der SPD aber nützte Brandt diese vom Koalitionspartner erzwungene Absage.
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Die SPD schien nach den Landtagswahlen im April 1959 im Aufwind. Willy Brandt nutzte sein internationales Ansehen, um seine Kritik am deutschlandpolitischen Kurs der SPD zu formulieren. Nach dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows vom November 1958 wollte auch die SPD nicht tatenlos bleiben und hatte im März 1959 einen Deutschlandplan22) veröffentlicht, der nach gleichberechtigten Verhandlungen eine stufenweise Annäherung beider deutscher Staaten vorsah. Der Plan sollte der SPD bei der Genfer Außenministerkonferenz internationale Resonanz verschaffen. Da der Plan nach Gesprächen von Fritz Erler (1913-1967) und Carlo Schmid (1896-1979) in Moskau kaum realistisch schien, wuchs der Widerspruch in der Partei. Auf dem Berliner Landesparteitag am 23. Mai 1959 hatte Brandt in Anwesenheit von Ollenhauer diesem Widerspruch Ausdruck verliehen. Er erklärte, dass niemand daran denke, sich mit der SED an einen Tisch zu setzen. Die kritische Distanz Willy Brandts gegenüber dem Deutschlandplan der SPD war offensichtlich.
     Diese Distanz speiste sich bei Brandt einerseits aus der Rücksicht auf die besondere Situation Berlins, in der besonders unmissverständliche Formulierungen notwendig seien und die Brandt im Deutschlandplan vermisste. Andrerseits schienen ihm aber einige Passagen des Plans auch voller Illusionen zu sein. Die Vorschläge zur Entspannung seien, wie er meinte, vor allem Sache der Großmächte, bei der die Deutschen gar nicht mitreden dürften,
andere Teile des Plans lehnte er vor allem deshalb ab - allerdings nur in Briefen deutlich werdend -, weil sie - wie er in einem Brief an Waldemar von Knoeringen (1906-1971) im August 1959 leicht ironisch schrieb - von der Annahme ausgingen, »man könnte Ulbricht durch geschicktes Manövrieren oder durch Gutzureden zur Selbstliquidierung veranlassen. Den Gefallen wird er uns nicht tun.«
     Und danach wagte er in dem Brief eine Prognose über die Aussichten, die Einheit Deutschlands durchzusetzen, die bemerkenswert prophetisch war: »Er (Ulbricht) und seinesgleichen werden dranbleiben, bis die Sowjetunion aus Gründen, die heute leider weniger zu erkennen sind als vor einigen Jahren, einmal grünes Licht für die Wiederherstellung unserer staatlichen Einheit geben wird.« Deshalb dürfe man aber nicht verzagen, man müsse aber davon ausgehen, dass »die Sowjetunion in der gegenwärtigen Lage und für die jetzt vorausschaubare Zukunft nicht gewillt ist, an einer annehmbaren Lösung der Deutschlandfrage mitzuwirken«.23) Der Deutschlandplan der SPD war allerdings schon bald Makulatur: Im Juni 1960 bestätigte sich, was sich schon vorher angekündigt hatte: Die SPD veränderte ihre oppositionelle Haltung auch im Bund gegenüber der regierenden Koalition. Am 30. Juni 1960 hielt Herbert Wehner (1906-1990) in einer Rede im Bundestag sein »Plädoyer für eine gemeinsame Politik«, das auch den Beginn einer außen- und deutschland-politischen Wende bedeuten sollte.
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Das »Willy-Brandt-Haus«, die Parteizentrale der SPD in der Kreuzberger Wilhelmstraße/ Ecke Stresemannstraße, wurde 1995 eingeweiht. Damit kehrte der Parteivorstand der SPD nach 62 Jahren wieder nach Berlin zurück
     Der sozialdemokratische Politiker aber, der diese Wende am glaubwürdigsten verkörperte und der nach Meinung einer immer größer werdenden Zahl von Sozialdemokraten auch genügend internationales Ansehen besaß, um diese Wende auch erfolgreich zu betreiben, war Willy Brandt. In der SPD mehrten sich die Stimmen, die eine erneute Kanzlerkandidatur Erich Ollenhauers bei der Wahl 1961 nicht mehr für selbstverständlich hielten. Willy Brandt war mit seinen 47 Jahren fast so jung wie der amerikanische Präsidentschaftskandidat Kennedy und konnte zum Verdruss vieler Christdemokraten vom Bekanntheitsgrad her jeden Vergleich mit dem vierundachtzigjährigen Konrad Adenauer aushalten.
     Im November 1960 kürte der Parteitag in Hannover mit großer Mehrheit Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten der SPD für die Bundestagswahl 196124). In den Monaten bis zum Wahltag im September 1961 ergoss sich zwar erneut - wie Willy Brandt später schrieb - eine »Schmutzflut von Verdächtigungen und Verleumdungen« über ihn.25) Die SPD ließ sich aber im Wahlkampf dennoch nicht von ihren moderaten Tönen abbringen, die den neuen Oppositionsstil gegenüber der CDU »Anpassung durch Umarmung« dokumentieren sollten.
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     Der Bau der Mauer am 13. August machte den Urnengang zu einer Wahl unter anomalen Bedingungen. Willy Brandt brach seine Wahlkampfreise sofort ab. Konrad Adenauer setzte seinen Wahlkampf fort und kam erst neun Tage nach dem 13. August - und einige Tage nach dem Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Johnson - zu einem kurzen Besuch nach Berlin. Er hatte aber - oder gerade deswegen - noch einmal Erfolg - ein letztes Mal, wie sich zeigen sollte. Dennoch war das Ergebnis für die CDU alles andere als befriedigend, sie brauchte zum Weiterregieren einen Koalitionspartner. Die SPD rechnete sich Chancen aus, da sie mit rund 36 Prozent fast 5 Prozent dazu gewonnen hatte. Die Hoffnungen wurden erneut enttäuscht.
     In Berlin war Willy Brandt in der Partei nun in der Rolle des zwar noch nicht unumstrittenen, aber in seiner Machtausübung nicht mehr behinderten Parteiführers. Die in Berlin mitregierende CDU vermochte in der Landespolitik kaum noch Einfluss zu nehmen, und wenn sie es tat, dann mit verheerenden Folgen. Im Januar 1963 war Chruschtschow erneut in Ostberlin. Willy Brandt wollte auf Einladung Chruschtschows zu Gesprächen mit ihm nach Ostberlin fahren. Er musste das fest vereinbarte Treffen in letzter Minute absagen, da die Berliner CDU drohte, die Koalition aufzukündigen.
Willy Brandt fühlte sich erpresst und in der Öffentlichkeit brüskiert, hoffte aber - zu Recht - auf eine veränderte politische Landschaft nach den bevorstehenden Wahlen im Februar 1963 in Berlin.
     Bei dieser Wahl erhielt die CDU die Quittung für ihre Haltung. Die SPD konnte mit 61 Prozent ihre absolute Mehrheit noch weiter ausbauen. Da sie aber weiterhin nicht allein regieren wollte, bot sie diesmal der FDP eine Koalition an. Die CDU musste in die Opposition.

Außenminister und Vizekanzler

Im Dezember 1963 starb der SPD-Parteivorsitzende Erich Ollenhauer. Auf einem außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg am 16. Februar 1964 wurde Willy Brandt zu seinem Nachfolger gewählt. Es gab keinen Gegenkandidaten. Herbert Wehner und Fritz Erler wurden als stellvertretende Parteivorsitzende wieder bzw. neu gewählt. Willy Brandt ließ aber keinen Zweifel daran aufkommen, dass er der erste Mann in der Partei sein wollte.
     Mit Brandt als Wahlkampflokomotive sollte das Jahr 1965 der SPD erstmals zumindest eine Beteiligung an der Macht in Bonn bringen. Aber es reichte wieder nicht. Obwohl die SPD mit 39 Prozent ihr Stimmenergebnis erneut verbessert hatte, blieb sie von der Regierungsverantwortung ausgeschlossen.

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Willy Brandt wollte resignieren und für die Bundestagswahl 1969 nicht mehr als Kanzlerkandidat zur Verfügung stehen. Aber dann kam alles ganz anders.
     Nur ein Jahr später war endlich der lang ersehnte und ebenso berechtigte Wunsch in Erfüllung gegangen: Die SPD regierte erstmals nach dem Kriege auch im Bunde mit. Willy Brandt war Außenminister und Vizekanzler einer großen Koalition.
     Es hatte sich alles sehr schnell so gefügt: Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Juli 1966 hatte die SPD 49,5 Prozent der Stimmen erhalten. Der unerwartet hohe Wahlsieg der SPD brachte Bundeskanzler Ludwig Erhard (1897-1977) in seiner eigenen Partei in Schwierigkeiten, da seine Bedeutung als Wahllokomotive im Schwinden war. Im Oktober 1966 nominierte die CDU Kurt Georg Kiesinger (1904-1988) als Nachfolger für Erhard. Mitte November 1966 begannen Koalitionsgespräche zwischen CDU/CSU und der SPD, und Ende November 1966 stimmte die SPD-Bundestagsfraktion nach einer zehnstündigen und sehr kontrovers verlaufenden Diskussion dem Bericht der von Willy Brandt geleiteten SPD-Verhandlungskommission zu. Der Bericht empfahl eine Koalition mit CDU/CSU. Parteirat und Parteivorstand der SPD stimmten ebenso ab. Auch Willy Brandt gab schließlich seine großen Vorbehalte - nicht zuletzt gegen den designierten Kanzler Kiesinger - auf. Der Weg für eine nach 1949 erstmalige

Im lichtdurchfluteten Atrium des »Willy-Brandt-Hauses« steht die Skulptur von Willy Brandt, die der Künstler Rainer Fetting schuf

Regierungsbeteiligung der SPD auf Bundesebene war frei. Der Widerspruch in der Partei gegen eine als »Elefantenhochzeit« angesehene große Koalition war allerdings - auch bei Brandt - sehr groß.

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   52   Probleme/Projekte/Prozesse Willy Brandt und Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Dennoch: Am 1. Dezember 1966 wurde Kurt Georg Kiesinger - ein früheres Mitglied der NSDAP - zum Bundeskanzler einer großen Koalition von CDU/CSU und SPD gewählt. Der politische Emigrant und Widerstandskämpfer Willy Brandt wurde Vizekanzler und Außenminister und musste seinen geliebten Stuhl des Regierenden Bürgermeisters von Berlin aufgeben. Sein unmittelbares Wirken in und für Berlin war zu Ende, er blieb aber Berlin stets verbunden.
     In seiner denkwürdigen Rede am 10. November 1989 - nach der Nacht, in der die Mauer fiel - erinnerte sich Willy Brandt vor dem Rathaus Schöneberg auch an den 13. August 1961. Er sagte: »Damals, im August '61, haben wir nicht nur im Zorn gefordert: die Mauer muß weg. Wir haben uns auch sagen müssen, Berlin muß trotz der Mauer weiterleben ... Das zwang uns dann zum intensiven Nachdenken darüber, wie wir, auch als es schier hoffnungslos aussah, wie wir den besonders brutalen Auswirkungen der Trennung, wenn's irgend ginge, doch entgegen wirken könnten.« Es begann die Suche nach einem Weg, auf dem die Härten der Trennung gemildert werden konnten. Es galt, die Mauer durchlässig zu machen. Die Politik der kleinen Schritte in Berlin diente diesem Ziel: Im Dezember 1963 konnten Hunderttausende Westberliner - freilich nur an wenigen Tagen - ihre Verwandten in Ostberlin besuchen Für diese Politik war es notwendig, zu einem geregelten Verhältnis zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu kommen. Dafür war es notwendig miteinander zu reden.
Der durch den Mauerbau brüchiger gewordene Frieden in Mitteleuropa wurde sicherer. Das Berliner Passierscheinabkommen wurde so zu einem Modell für die später so erfolgreiche neue Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt.
     Willy Brandt sagte dazu im Rückblick zu Beginn der neunziger Jahre:
     »Das war schrecklich unzulänglich, das blieb schrecklich brüchig, aber wir haben uns nicht davon abbringen lassen, auch jeden möglichen kleinen Schritt zu tun, um den Kontakt zwischen den Menschen zu fördern und den Zusammenhalt der Nation nicht absterben zu lassen.«26)
     Mehr war nicht möglich, aber es ist - blicken wir heute, vierzig Jahre nach dem 13. August 1961, zurück - nicht wenig. Und gerade deshalb trägt das Willy-Brandt-Haus in Berlin mit großer Berechtigung seinen Namen.

Quellen und Anmerkungen:
1 Diese kurze Skizze fußt auf einem Vortrag des Autors auf der Tagung des Goethe-Instituts Oslo über Willy Brandt am 26. Mai 2000 im Nobel-Institut Oslo, der als Aufsatz in einem Sammelband im Herbst 2001 erscheint. Der Aufsatz faßt erste Überlegungen zusammen, mit denen der Band 3 der Berliner Ausgabe von Schriften und Reden Willy Brandts eingeleitet werden soll. Der Band trägt den Titel: Berlin bleibt frei. Politik in und für Berlin 1947-1966 und wird vom Verfasser dieses Beitrages bearbeitet. Die Schreibweise von Ost- und Westberlin entspricht der des Autors.

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   53   Probleme/Projekte/Prozesse Willy Brandt und Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
2 Vgl. Willy Brandt, Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania, München 1960, S. 25 und S. 204
3 Vgl. Siegfried Heimann/ Manfred Rexin (Hg.), Harry Ristock (1928-1992). Erinnerungen von Weggefährten, Berlin 1993, S. 69. Vgl. auch: Harry Ristock, Neben dem roten Teppich. Begegnungen, Erfahrungen und Visionen eines Politikers, Berlin 1991, S. 17 f.
4 Vgl. Wolf-Dieter Narr, CDU-SPD. Programm und Praxis seit 1945, Stuttgart u. a.1966, S. 105
5 Vgl. Willy Brandt, Links und frei. Mein Weg 1930-1950, Hamburg 1982, S. 432
6 Vgl. Willy Brandt, Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania, München 1960, S. 112
7 Erich Brost (1903-1995) war als Danziger Sozialdemokrat im Widerstand gegen die Nazis engagiert. Er mußte nach Großbritannien emigrieren und kehrte schon im Sommer 1945 nach Deutschland zurück. Nach seiner nur einjährigen Tätigkeit als Berlin-Beauftragter des SPD-Parteivorstandes im Jahre 1947 wurde er Chefredakteur und Verleger der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« . Vgl. zu seiner Biographie: Marek Andrzejewski/ Hubert Rinklage, Erich Brost, Bonn 1997
8 Vgl. den Brief von Willy Brandt an Stefan Szende vom 11. 12. 1947, in: Willy-Brandt-Archiv (WBA) im Archiv der sozialen Demokratie Bonn (AdsD), Beruflicher Werdegang, Allgemeine Korrespondenz 1947
9 Vgl. dazu: Siegfried Heimann, Politische Remigranten in Berlin, in: Rückkehr und Aufbau nach 1945, hg. von Claus-Dieter Krohn und Patrick von zur Mühlen, Hamburg 1997, S. 193 ff.
10Vgl. Willy Brandt, Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania, München 1960, S. 212
11Willy Brandt, Erinnerungen. Mit den »Notizen zum Fall G«, Berlin/ Frankfurt a. M. 1994, das Zitat vom Landesparteitag: S. 24
12Diese Formulierung auf dem Landesparteitag 1954 hatte Widerspruch ausgelöst. In einem Brief an Fritz Heine zitiert Brandt aus dem Protokoll und stellt klar, was er tatsächlich gesagt hat. Vgl. den Brief von Willy Brandt an Fritz Heine vom 17. Juli 1954, in: AdsD Bonn, SPD-PV 2/ PV AJ0000015, Korrespondenz mit Brandt 1946-1957
13Vgl. dazu, auch für die Zitate, das Manuskript einer für Kurt Schumacher bestimmten Ausarbeitung von Willy Brandt mit dem Titel: »Die Berliner Krise«, in: AdsD Bonn, Bestand Schumacher, Nr. 343
14Im Frühjahr 1956 hat Willy Brandt in Schweden einen Vortrag mit dem Titel: »Die Wiedervereinigung bleibt auf der Tagesordnung« gehalten. Das Manuskript des Vortrages hat Brandt Anfang Mai 1956 an Fritz Heine zur Information für den SPD-Parteivorstand geschickt, in: AdsD Bonn, SPD-PV 2/ PV AJ0000015, Korrespondenz mit Brandt 1946-1957; vgl dazu auch den Brief Brandts an Heine vom 2. 5. 1956, in: ebenda
15Vgl. den Brief von Heinrich Albertz an Tage Hind vom 4. 10. 1955, in: AdsD Bonn, N. Albertz, Nr. 166
16Vgl. Willy Brandt, Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania, München 1960, S. 322
17Vgl. den Brief Willy Brandts an Erich Brost vom 3. 12. 1957, in: AdsD, WBA, Berufl. Werdegang, Allgem.Korresp. 1957
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   54   Probleme/Projekte/Prozesse Willy Brandt und Berlin  Voriges BlattArtikelanfang
18Die Zeitung der DDR-Blockpartei NDPD nahm den Aufenthalt Brandts in den USA im Februar 1959 zum Anlaß für eine besonders infame Beschimpfung. In einem ganzseitigen Artikel werden Brandt Reisepläne nach Spanien unterstellt. General Franco wolle ihn auch auszeichnen, da Brandt 1937 in Spanien eine trotzkistische Partei unterstützt habe, die in Wahrheit eine Spionageorganisation Francos gewesen sei. Die aus angeblichen Geheimarchiven zusammengebastelte Geschichtsklitterung wird gekrönt durch Anspielungen auf die nichteheliche Geburt Brandts, wie sie schon immer zur Wahlkampfmunition der CDU/CSU gegen Willy Brandt gehörten. Vgl. dazu: »Nationalzeitung« vom 13. 2. 1959
19Vgl. dazu den Brief Brandts an das »Berliner Montagsecho«, in dem er empört den Tenor eines Artikel in dieser Zeitung moniert, in: AdsD, SPD-PV 2/PV AJ0000015, Korrespondenz mit Brandt 1946-1957
20Vgl. den Brief Willy Brandts an Irmgard Enderle vom 15. 1. 1958, in: AdsD Bonn ,WAB, Berufl.Werdegang, Allgem. Korresp. 1958
21Vgl. Willy Brandt »Vorschläge zur Normalisierung des Verhältnisses in Berlin« vom 16. Juni 1958, gerichtet an die »Verwaltung des Ostsektors von Berlin, zu Händen von Herrn Fritz Ebert«, in: AdsD,WAB, Berufl .Werdegang, Allgem. Korresp. 1958 A-F; der Brief an Franz Amrehn: ebenda
22Vgl. zur Entstehung, zum Inhalt und zur politischen Einordnung des Deutschlandplans: Siegfried Heimann, Die Sozialdemokratische Partei, in: Parteienhandbuch, hg. von Richard Stöß, Band 2, Opladen 1984, S. 2025 ff.; zum Wortlaut: Jahrbuch der SPD 1958/59, S. 397 ff.
23Vgl. den Brief Willy Brandts an Waldemar von Knoeringen vom 27. 8. 1959, in AdsD, Nl. W. von Knoeringen, Mappe 34
24Vgl. das Protokoll des SPD-Parteitages 1960
25So sprach Konrad Adenauer während einer Wahlrede in Regensburg einen Tag nach dem Beginn des Mauerbaus von »Herrn Brandt alias Frahm«, der mit seiner geplanten Außenpolitik Deutschland den Russen ausliefern wolle. Diese Verleumdung gerade in dieser politischen Situation stieß zwar im Ausland auf großes Unverständnis, erfüllte aber - wie das Wahlergebnis zeigen sollte - immer noch seinen innenpolitischen Zweck. Vgl. die Berichte darüber in »Westdeutsche Allgemeine Zeitung« vom 31. 8. 1961 und in »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 5. 9. 1961
26Vgl. dazu und für das vorhergehende Zitat: Rede Willy Brandts am 10. November 1998 vor dem Rathaus Schöneberg, in: Timothy Garton Ash, Wächst zusammen, was zusammen gehört?, Deutschland und Europa zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Heft 8, Berlin 2001, S. 37 f.

Bildquellen:
Fotos: LBV/ Rheden, Repros: LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
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