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Erich Nickel
Der Streit um die deutsche Hauptstadt

Die öffentliche Debatte um die Neubestimmung der deutschen Hauptstadt war bereits Anfang des Jahres 1990, also nur wenige Wochen nach dem Fall der Mauer in Berlin und in zunehmender Erwartung einer zeitnahen staatlichen Wiedervereinigung, voll aufgeflammt. Sie widerspiegelte eine politische und gesellschaftliche Entwicklung, die erkennen ließ, dass frühere politische Bekenntnisse und parlamentarische Beschlüsse zu Berlin als der traditionellen Hauptstadt Deutschlands in der Bundesrepublik längst nicht mehr einhellig akzeptiert wurden.
     Die langanhaltende Teilung Deutschlands sowie der dynamische Prozess der Westintegration der Bundesrepublik hatten dazu geführt, dass bei einem nicht kleinen Teil der Bevölkerung die Vorstellung von Berlin als Hauptstadt eines einheitlichen deutschen Staates (an dessen Verwirklichung man häufig schon nicht mehr glaubte) immer mehr verblasst war. Im gleichen Maße fand die mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 gegen die damalige Mitbewerberin Frankfurt am Main durchgesetzte und eingerichtete provisorische Hauptstadt Bonn (als Stellvertreterin Berlins), als die sie sich bis zum Frühsommer 1989 formal immer noch verstand, ihre hauptstädtische Aufwertung.

Das Ende der DDR, die plötzliche und völlig unverhoffte Aussicht auf die Wiedervereinigung wies gleichzeitig auf veränderte, in den vergangenen Jahrzehnten neu herangewachsene Interessenlagen in der politisch-ökonomischen Gewichtung innerhalb des Bundes hin.

Mehr als ein Streit über den Standort

In dem nun entstehenden Hauptstadtstreit ging es somit nicht nur um einen Standortstreit Berlin oder Bonn. In den Argumentationen von Gegnern der traditionellen Hauptstadt Berlin, deren nationaler Symbolwert immer wieder betont worden war, spielten jetzt zunehmend und z. T. weit hergeholt, berlinkritische Reminiszenzen eine Rolle. Berlin wurde in dieser eskalierenden Auseinandersetzung plötzlich als Ort verteufelt, in dem »preußisch-deutsche Mystik« wiedererstehen könne, in dem ein neuer politischer Zentralismus das gewachsene und sorgfältig austarierte föderative Gleichgewicht in Deutschland gefährde, in dem die international seit langem gewürdigte Bescheidenheit der Bonner Republik durch deutsche Großmannssucht alten Stils ersetzt werde u.s.w. Ein inzwischen verstorbener Wissenschaftler der älteren Generation (Golo Mann, ein Sohn Thomas Manns) vertrat in der Öffentlichkeit die allerdings extreme Meinung, das wiedervereinigte Deutschland brauche gar keine Hauptstadt, da sich ja doch alles nach Europa hin entwickele.

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Andere Berlin-Gegner lobten Berlin als die Stadt, die alle Chancen besitze, als völkerverbindende Metropole ihr gemäße Aufgaben auf vielen Gebieten zu finden, aber nicht als Hauptstadt.
     In der Endphase des Streites spielten die Kosten eines möglichen Umzuges nach Berlin eine immer größer werdende Rolle. Dabei wurden finanzielle Hochrechnungen bis zu 100 Milliarden Mark vorgelegt, die sich keineswegs sachlich begründen ließen. Der bald auf die Alternativen Bonn-Berlin verdichtete Hauptstadtstreit stand schließlich bis zur entscheidenden Abstimmung um den Parlaments- und Regierungssitz am 20. Juni 1991 mehr oder weniger im Mittelpunkt politischer Kontroversen auch um die Gestaltung des Vereinigungsprozesses.
     Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der NS-Diktatur richteten die Hauptsiegermächte über Deutschland (Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion und USA) einen Alliierten Kontrollrat für Deutschland ein, der zunächst quasi die Funktion einer Regierung »für Deutschland als Ganzes« ausübte. Sitz des Kontrollrates wurde Berlin. Die ehemalige Reichshauptstadt wurde von den Alliierten als ein Sondergebiet betrachtet, das zu keiner der vier Besatzungszonen gehörte und das eine eigens geschaffene vierseitige Kommandantur erhielt, »um gemeinsam die Verwaltung des Gebietes von Groß-Berlin zu leiten«.
     Natürlich hatte die Ansiedlung der alliierten Regierung in Berlin, der bisherigen Hauptstadt des Deutschen Reiches, auch einen hervorgehobenen Symbolwert. Die Alliierten stützten sich bei ihren Maßnahmen auf das Londoner Dreimächteprotokoll vom 12. September 1944 in der Fassung des Dreimächteabkommens vom 12. November 1944 und - nach dem Hinzutreten Frankreichs - auf das Viermächteabkommen vom 26. Juli 1945. Der bald hervortretende Ost-West-Gegensatz zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion beendete sehr rasch die gemeinsame Kontrollperiode mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Funktionsfähigkeit sowohl des Kontrollrats als auch der in Berlin eingerichteten Kommandantur. Beide Institutionen bestanden aber auf unterschiedliche Weise bis zum 2. Oktober 1990 weiter. Alle ehemaligen Kriegsalliierten hielten trotz der entgegenstehenden Entwicklung der Machtverhältnisse in Ost und West an ihren Kontrollrechten bis zu den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen als Voraussetzung für die Herstellung der deutschen Einheit im Jahre 1990 fest. Bis zu diesem Zeitpunkt galten auch bestimmte Regelungen der Westalliierten für die Übernahme von Bundesgesetzen in West-Berlin, das nicht als Land der Bundesrepublik akzeptiert wurde.
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Lange Zeit respektierte auch die Regierung der DDR auf sowjetische Weisung in wichtigen Elementen den Viermächtestatus Berlins im Ostteil der Stadt, in dem sich die Hauptstadt der DDR etabliert hatte.

1949: Bekenntnis zu Berlin als Hauptstadt

Auf dem Höhepunkt der Ost-West-Auseinandersetzungen während der Berlin-Krise der Jahre 1948/49 ( Blockade der Zufahrtswege nach West-Berlin durch die Sowjetunion) war Berlin in eine komplizierte Situation geraten, die so oder so die Wahrnehmung der traditionellen Hauptstadtfunktion für ganz Deutschland auf kaum absehbare Zeit nicht möglich erscheinen ließ. Dennoch gab es bald nach den Wahlen zum Ersten Deutschen Bundestag (August 1949) Initiativen der Parteien im neuen Parlament zur Festschreibung Berlins als deutsche Hauptstadt. Am 30. September 1949 beschloss das Parlament in seiner 11. Sitzung auf der Grundlage eines Antrages des SPD -Abgeordneten Zinn: »Der Bundestag bekennt sich zu Berlin als dem demokratischen Vorposten Deutschlands. Er erklärt feierlich vor aller Welt, dass nach dem Willen des deutschen Volkes Groß-Berlin Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland und ihre Hauptstadt sein soll.« Dagegen trat für die CDU/CSU der Abgeordnete Franz Josef Strauß auf,

der eine Abstimmung über die künftige Hauptstadt erst am Tage der realen Wiedervereinigung forderte. In der 14. Sitzung des Bundestages, am 3. November 1949, brachte die KPD ihren Antrag ein: »Die leitenden Bundesorgane verlegen ihren Sitz in die Hauptstadt Deutschlands Berlin. Der Bundestag versammelt sich alsbald in Berlin.« Daraufhin schlug die SPD in der selben Sitzung in einem Änderungsantrag vor, die leitenden Bundesorgane seien nach Berlin zu verlegen, »sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind«. Der so formulierte Antrag wurde angenommen und erst durch den »Berlin-Antrag« vom 20. Juni 1991 ersetzt.
     Bis weit in die fünfziger Jahre hinein gab es verschiedene parlamentarische Initiativen zur Verfestigung des politischen Bewusstseins der Öffentlichkeit über Berlin als der Hauptstadt Deutschlands »im Wartestand«. Zur gleichen Zeit gewöhnten sich die Länder der Bundesrepublik und die internationale Politik an die »Bonner Republik«, während Ost-Berlin als Machtzentrale der DDR fungierte und dieser Teil Berlins somit allmählich in die DDR integriert wurde. Dem standen, trotz der Krisen um Berlin infolge des sowjetischen Berlin-Ultimatums von 1958 und des Mauerbaus 1961, die Realitäten der alliierten Abkommen von 1944/45 gegenüber, an denen die Westmächte und die Sowjetunion festhielten.
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Unter all diesen Umständen verlor Berlin seit dem Ende der fünfziger Jahre für lange Zeit jede Möglichkeit, sich als alte und neue Hauptstadt für ganz Deutschland zu profilieren. Jedoch erst im Jahre 1975 wurde zwischen der provisorischen Hauptstadt Bonn und der Bundesregierung eine »Hauptstadtvereinbarung« abgeschlossen, die den Auf- und Ausbau eines Parlaments- und Regierungsviertels vorsah.
     Im Laufe der Zeit war die »Region Bonn« zu einem bedeutenden Siedlungs- und Wirtschaftsfaktor geworden, an dem in erster Linie das Land Nordrhein-Westfalen, aber auch Rheinland-Pfalz partizipierten. Es war kein Wunder, dass Berlin und Bonn in der Hauptstadtfrage zu Antipoden wurden. Am 29. Juni 1990 verlieh die formal noch nicht wiedervereinigte Stadt Berlin durch den Regierenden Bürgermeister des Landes West-Berlin und den Oberbürgermeister von Ost-Berlin dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker die Ehrenbürgerschaft. Aus diesem Anlass setzte sich das Staatsoberhaupt dezidiert mit wesentlichen Argumenten auseinander, die den Hauptstadtstreit pro und kontra Berlin bestimmten.
     Zu Bonn - dessen Ehrenbürgerschaft er ebenfalls erhalten hatte - stellte der Bundespräsident fest, dass die Politik der Bundesrepublik, von hier ausgehend, jahrzehntelang besonders in zwei
Grundentscheidungen ihren überzeugenden Ausdruck fand: «Unser Föderalismus und unsere Bindung an den Westen. Ohne Zweifel wird das vereinigte Deutschland an beidem festhalten.« Gleichzeitig wies er Befürchtungen zurück, die Wahl Berlins zum politischen Zentrum des geeinten Deutschland würde im Hinblick auf die dunklen Seiten deutscher Geschichte, insbesondere der NS-Vergangenheit, mit übergreifenden zentralistischen Tendenzen den gewachsenen und ausgewogenen Föderalismus der Bundesrepublik beschädigen und die Westbindung Deutschlands schließlich gefährden. Dazu warf er in seiner Rede, wie uns scheint völlig berechtigt, u. a. folgende Fragen auf. »... Ist unser Föderalismus denn nur so gut gediehen, weil sich die Bundesländer mit ihren Hauptstädten durch das bescheidenere Bonn nicht beeinträchtigt fühlen? Müsste er so viel Angst vor einer großen, eigenständigen Metropole als Hauptstadt haben, dass er auf die verfassungsrechtliche Schlüsselstellung, die er den Ländern in Bundesangelegenheiten gibt, nicht vertrauen dürfte? Und wenn es an Befugnissen der Länder fehlen sollte, wäre dies dann eine Frage der Hauptstadt und nicht viel mehr der Verfassung? Können München und Hamburg, Stuttgart, Köln und Frankfurt nur deshalb so selbstbewusst auftreten, weil sie in der Zentrale keinen Rivalen sehen? Wäre es wirklich so, dann stünde dieser Föderalismus bei uns auf schwachen Beinen.
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Unsere Geschichte lehrt uns in Wahrheit etwas ganz anderes ... Seine Argumente wären furchtsam, und sie wären auch historisch ebenso falsch wie die Behauptung, Berlin sei auf Grund geschichtlicher Erfahrung gleichbedeutend mit Macht, Übermacht, Machtmissbrauch ...«

Festlegung im Einigungsvertrag

Die Rede des Bundespräsidenten verstärkte die Auseinandersetzung um die Hauptstadt. Sie fand, wie sich denken lässt, nicht nur Befürworter. Die in ihr enthaltenen Ansichten fanden aber auch nachdrückliche Unterstützung in öffentlichen Stellungnahmen von vielen Politikern, Diplomaten und Publizisten. Sie beeinflussten in den folgenden Wochen und Monaten nicht wenig die Vorbereitungen zur Hauptstadtdebatte im Bundestag. Der im Spätsommer 1990 unterzeichnete Einigungsvertrag enthielt auf Druck der DDR-Seite, insbesondere durch die Haltung des Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, die Festlegung der Regierungen auf Berlin als nominelle Hauptstadt Deutschlands. Die eigentliche Frage musste noch durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber nach den ersten gemeinsamen Wahlen zum Bundestag entschieden werden.
     Am 11. Oktober 1990 veröffentlichte die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« eine repräsentative Umfrage des Allensbacher

Instituts für Demoskopie unter Wählern in Ost und West: »Die Antworten zeigen, wie uneins die Nation darüber ist: In den neuen Bundesländern wünscht eine große Mehrheit den Umzug von Bundestag und Bundesregierung nach Berlin - im Norden freilich mehr als etwa in Sachsen. Doch die Westdeutschen sind mehrheitlich für Bonn als Sitz von Regierung und Parlament. Rechnet man diese Zahlen (etwa im Verhältnis zwei zu acht) zu einem gesamtdeutschen Ergebnis um, so sind 40 Prozent aller Deutschen für einen Umzug nach Berlin, 42 Prozent aber für einen Verbleib von Regierung und Parlament in Bonn.«
     Bis zum Juni 1991 sollte es noch viele solcher Umfragen geben. Aus ihnen ging insgesamt hervor, dass das Ergebnis der Abstimmung im Bundestag offen blieb. Als am 20. Juni 1991 um 21.49 Uhr die Abstimmungsrunden zum künftigen Parlaments- und Regierungssitz nach einem langen Debattentag beendet waren, hatten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages 107 Reden zu fünf unterschiedlichen Anträgen gehört.
     In den nachfolgenden drei Abstimmungen, zu denen die Anträge zusammengefasst worden waren, ging es, wie bereits gesagt, längst nicht mehr um die Frage, ob Berlin den formalen Status der Hauptstadt des politisch wiedervereinigten Deutschland erhalten sollte oder nicht.
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Ab 1. September 1999 ist Berlin wieder Regierungssitz und der Berliner Reichstag Sitz des Deutschen Bundestages
Dies war, gegen erhebliche Widerstände vor allem aus den südlichen und westlichen Bundesländern, bereits im »Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands« (»Einigungsvertrag«) vom 31. August 1990 zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben worden. Es ging nunmehr um die Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes, um die Bestimmung des Ortes, an dem das politische Machtzentrum der Bundesrepublik künftig bleiben oder angesiedelt werden sollte, also entweder in Bonn oder Berlin. Es handelte sich um einen Vorgang, der nicht nur im Ausland vielfach nicht verstanden wurde, weil man sich, wenn die Entscheidung für Bonn ausgefallen wäre, eine Bundeshauptstadt Berlin ohne oder mit einem sehr begrenzten politischen Aufgabenfeld nur schlecht oder gar nicht vorstellen konnte.
     Zum Zeitpunkt der Verhandlungen über den Einigungsvertrag erlebte der Streit um die deutsche Hauptstadt bereits erste Höhepunkte.
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Deshalb konnte sich die DDR-Seite mit ihrem nachdrücklich vorgebrachten Verlangen, Berlin ohne Wenn und Aber mit allen legislativen und exekutiven Einrichtungen auszustatten, nicht durchsetzen. Zwischen den Vereinbarungen des Einigungsvertrages und der Hauptstadtdebatte des Bundestages fand der offizielle Akt der Wiedervereinigung (3. Oktober 1990) und die erste Wahl zu einem gesamtdeutschen Bundestag statt (2. Dezember 1990). Daneben heizte sich der Hauptstadtstreit weiter auf, der mit der Bundestagsdebatte und -abstimmung vom 20. Juni 1991 seinen vorläufigen Abschluss fand.

Eine Mehrheit von nur 17 Stimmen für Berlin

Die Frage der Implementation, der Verwirklichung des Umzuges, für den viele Jahre eingeplant wurden, blieb noch offen. Mit 337 zu 320 Stimmen entschied sich der Bundestag nach zum Teil leidenschaftlichen Auseinandersetzungen denkbar knapp für den sogenannten »Berlin-Antrag«, der die Überschrift »Vollendung der Einheit Deutschlands« trug. Der Abgeordnete Willy Brandt und eine parteiübergreifende Gruppe von Parlamentariern (zu ihr gehörten u. a. Burkhard Hirsch, Günther Krause, Wolfgang Schäuble, Wolfgang Thierse, Wolfgang Uhlmann und Hans Jochen Vogel) hatten ihn eingebracht. Wie die Mehrheit der übrigen Anträge enthielt er

Vorschläge für die politische und verwaltungstechnische Wahrnehmung von parlamentarischen und Regierungsaufgaben durch die Standorte »Bundesstadt Bonn« (eine neue Bezeichnung für die bisherige, wenn auch provisorische Hauptstadt) und »Bundeshauptstadt Berlin«. Die parlamentarischen Kontrahenten hatten einsehen müssen, dass jeder Antrag, der nicht gleichzeitig weitgehende Kompromisse entweder für den einen oder anderen Ort anbot, kaum Chancen auf die parlamentarische Zustimmung erhalten konnte. Die wichtigsten Aussagen des Berlin-Antrages bestanden in der Feststellung, der »Sitz des Deutschen Bundestages ist Berlin«, und: »der Bundestag erwartet von der Bundesregierung geeignete Maßnahmen, um ihrer Verantwortung gegenüber dem Parlament in Berlin nachzukommen und in entsprechender Weise in Berlin ihre politische Präsenz dadurch sichert, dass der Kernbereich der Regierungsfunktionen in Berlin angesiedelt wird.« Weiterhin sah der Antrag einen erheblichen finanziellen Ausgleich für die Stadt und Region Bonn vor, um den Sonderbelastungen durch die Funktionsänderung entgegenzuwirken und um »die Übernahme und Ansiedlung neuer Funktionen und Institutionen von nationaler und internationaler Bedeutung im politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Bereich« zu ermöglichen.
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Schließlich sollte im Regierungsbereich zwischen Berlin und Bonn »eine faire Arbeitsteilung vereinbart werden, sodass Bonn auch nach dem Umzug des Parlaments nach Berlin Verwaltungszentrum der Bundesrepublik Deutschland bleibt, indem insbesondere die Bereiche in den Ministerien und die Teile der Regierung, die primär verwaltenden Charakter haben, ihren Sitz in Bonn behalten; dadurch bleibt der größte Teil der Arbeitsplätze in Bonn erhalten.«
     Der Antrag ging davon aus, »dass der Bundespräsident seinen 1. Sitz in Berlin nimmt«. Im Schlussabsatz wurde formuliert: »Der Deutsche Bundestag empfiehlt dem Bundesrat (als der nach dem Grundgesetz selbstständigen Verfassungsinstitution des deutschen Länderföderalismus) in Wahrnehmung seiner föderalen Tradition seinen Sitz in Bonn zu belassen.« Wie man weiß, hat sich der Bundesrat inzwischen anders entschieden.

Bonn-Antrag gab Berlin Repräsentationsfunktion

Der wichtigste konkurrierende Antrag zum Berlin-Antrag war ebenfalls von einer parteiübergreifenden Abgeordnetengruppe eingebracht worden, zu der vornehmlich die Abgeordneten Norbert Blüm, Wolfgang Bötsch, Horst Ehmke, Ingrid Mathäus Maier, Irmgard Adam-Schwätzer, Franz Müntefering und andere gehörten.

Bereits aus der ausführlichen Überschrift konnte man entnehmen, dass dieser Antrag ähnliche und zum Teil gleichartige Anliegen enthielt, nur dass es sich diesmal um den Pro-Bonn-Antrag handelte.
     Die Überschrift lautete: »Bundesstaatslösung für eine Aufgabenteilung zwischen der Hauptstadt Berlin, dem Parlaments- und Regierungssitz Bonn und den neuen Bundesländern (Bonn-Antrag)«. Danach sollte Berlin einen finanziellen Ausgleich zur Wahrnehmung repräsentativer Hauptstadtfunktionen erhalten, durch Bundesgesetz sollte festgelegt werden, dass der erste Amtssitz des Bundespräsidenten Berlin, der Sitz des Deutschen Bundestages Bonn bleiben und der des Bundesrates Berlin sein sollte. Der Bundeskanzler und »weitere Mitglieder der Bundesregierung« sollten einen zusätzlichen Dienstsitz in Berlin erhalten. Die damalige Bundestagspräsidentin, Rita Süßmuth, sprach am Ende der Sitzung von einem »großen Tag für das Parlament«, dessen Entscheidung alle Beteiligten bindet und die zu respektieren sei.

Bildquelle: LBV/ Christel

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
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