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Eberhard Fromm
Abschied vom 20. Jahrhundert?

Es ist ein Zufall, dass das Ende unserer Betrachtungen zum Thema »Berlin im 20. Jahrhundert«, die wir mit Heft 4/2000 begonnen haben, mit dem Ende unserer Zeitschrift zusammenfällt. Vielleicht ist es aber auch ein wenig symptomatisch für unsere Zeit, dass der Abschied von einer sich der Geschichte widmenden Zeitschrift mit der Verabschiedung eines großen, eines schrecklichen, eines dynamischen Jahrhunderts einhergeht. Denn wir müssen mit Erstaunen feststellen, dass es - kaum war die Jahrhundert- und Jahrtausendwende vollzogen - zu einem schnellen Nachlassen des Interesses an einer komplexen Jahrhundertschau gekommen ist. Es scheint, als sei »der Markt gesättigt« und damit die Neugier erloschen.
     Und eine ganz ähnliche Haltung findet man gegenüber solchen Zeitschriften wie der »Berlinischen Monatsschrift«, dem einzigen Journal, das sich der so facettenreichen Berlin-Geschichte gewidmet hat. Dabei täte es uns allen gut, wenn über die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland nicht nur wegen der Finanzen gejammert, wegen der Korruption gewettert, wegen der Politik gestritten wird,

sondern wenn das große und widersprüchliche geschichtliche Erbe dieser Stadt - von der Wirtschafts- bis zur Kulturgeschichte, von ihrer Architektur bis zu ihren vielen interessanten Persönlichkeiten - stärker im öffentlichen Bewusstsein seinen Platz finden würde.
     Natürlich existiert über Berlin eine riesige Literatur. Aber erstens sind die darin enthaltenen Erkenntnisse längst nicht Allgemeingut - und das betrifft nicht nur die Neu-Berliner -, und zweitens finden sich immer wieder weiße Flecken in der Geschichte Berlins, ob es sich nun um verdrängte Zeiten, um vergessene Persönlichkeiten, um bisher ausgesparte Probleme handelt. Und genau so verhält es sich mit unserem Jahrhundert. Sicher haben darüber Wissenschaftler der verschiedenen Richtungen geforscht, haben Künstler ihr Zeitalter gestaltet, sind in tausenden Erinnerungsbüchern, Memoiren, Briefbänden und Autobiografien wichtige Details des vergangenen Jahrhunderts aufgehoben.
     Allerdings muss man feststellen, dass die in den neunziger Jahren erschienenen Jahrhundertbetrachtungen, die ja das eigentliche Resümee darstellen sollten, die auch vom Zeitpunkt ihres Entstehens her tatsächliche Zeitalterbesichtigungen hätten werden können, dass diese Arbeiten in ihrer Mehrzahl den Erwartungen nicht gerecht wurden.
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Die meisten Autoren waren offensichtlich damit überfordert, das in ihren Köpfen relativ festgefügte Weltbild vom 20. Jahrhundert mit den Ereignissen im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts - den Zusammenbrüchen und Neugestaltungen, dem Zerfall großer Staaten und neuen regionalen Konflikten - zu verbinden und zu ganz neuen Einsichten zu gelangen. Statt dessen findet man viel alten Wein, aber nicht einmal in neuen, sondern in nur notdürftig übertünchten alten Schläuchen. Es scheint sich bestätigt zu haben, was der österreichische Schriftsteller Robert Menasse 1995 in seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse feststellte: »Haben wir nicht nach 1989 erkannt, wie stark die Zustimmung zu der Idee wurde, ein Ende der Geschichte sei vorstellbar, wünschenswert? ... Nicht die Einsicht, dass Geschichte der Versuch war, dem Sinnlosen Sinn zu geben, prägt den heutigen Diskurs über das >Ende der Geschichte<, sondern wieder einmal der Glaube, sie jetzt erst wirklich zu vollenden.«
     Ich muss gestehen, dass nach meiner Meinung von all den Büchern, die ich in den letzten zehn Jahren zum komplexen Thema 20. Jahrhundert gelesen habe, allein die Arbeit »Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts« des britischen Historikers Eric Hobsbawm dem Anspruch einer Jahrhundertbetrachtung gerecht geworden ist und zugleich Ansätze einer nüchternen Jahrhundertanalyse aufweist. In drei großen Teilen untersucht er das 20. Jahrhundert sowohl als »Katastrophenzeitalter« als auch als das
»Goldene Zeitalter«, um mit dem »Erdrutsch« abzuschließen. Was an diesem Buch besticht, sind nicht allein die sachlichen Analysen, sondern auch das Sichtbarmachen von Problemen, Widersprüchen, von noch zu beantwortenden Fragen. In gewissem Sinne lässt Hobsbawm die einleitend zitierten Meinungen von zwölf Persönlichkeiten in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit gelten: Der eine sieht die »Vermehrung der Weltbevölkerung« als das wesentlichste Merkmal des Jahrhunderts an, das ein anderer für das gewalttätigste in der Menschheitsgeschichte hält. Für den Philosophen Isaiah Berlin war es »das schrecklichste Jahrhundert in der Geschichte des Westens«, und der Musiker Yehudi Menuhin fasst das Jahrhundert mit dem Satz zusammen, »dass es die größten Hoffnungen hervorrief, die die Menschheit jemals gehegt hat, und alle Illusionen und Ideale zerstörte«. Legt man Hobsbawms Untersuchung aus der Hand, versteht man, warum er von einem Zeitalter der Extreme spricht.
     Viele andere Titel, die eine komplexe Sicht auf das 20. Jahrhundert versprachen, konnten das nicht einlösen: Es wurden Sammelbände wie »Spiegel des 20. Jahrhunderts« oder Sammlungen von Biografien allein aus dem politischen Bereich wie »Das Gesicht des Jahrhunderts« von Hans-Peter Schwarz; es kamen eingeschränkte Aspekte zur Sprache wie in Mark Mazowers »Der dunkle Kontinent«, der sich auf die Rolle Europas im 20. Jahrhundert konzentriert.
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Blick vom Kulturforum auf die Sony-City am Potsdamer Platz. Im Hintergrund das Sony-Center, Neue Potsdamer Straße, April 2000
Oder es wurden Arbeiten, bei denen man den Eindruck gewinnen musste, dass sie nur auf der Welle der Jahrhunderttitel mitschwimmen wollten, wie zum Beispiel das »Jahrhundert der Obszönität« von Henscheid/ Hentschel. Insgesamt muss man wohl feststellen, dass trotz einer Vielzahl von Titeln inhaltlich über das 20. Jahrhundert noch längst nicht alles, ja eigentlich viel zu wenig Gründliches und Tiefergehendes gesagt worden ist.
     Dabei haben Zeitalterbesichtigungen von hoher Qualität eigentlich eine gute und lange Tradition. Es war immer wieder eine spannende Sache, einen ganzen Zeitabschnitt der Geschichte komplex zu erfassen.
Denn wie im individuellen Leben bestimmte Daten, die eigentlich willkürlich von der Zeit gesetzt sind - wie die runden Geburtstage oder auch die Jahreswenden -, so besteht im gesellschaftlichen Leben eine gewisse Neugier auf die Inventur von überschaubaren, aber eben auch durch die Zeit mehr willkürlich entstandenen Etappen wie ein Jahrhundert. Darauf reagierten im vergangenen Jahrhundert ebenso bekannte wie auch verschiedenartige Arbeiten, man denke nur an »Die geistige Situation der Zeit« des Philosophen Karl Jaspers oder »Ein Zeitalter wird besichtigt« des Schriftstellers Heinrich Mann.
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Auch wenn man in der Geschichte weiter zurückgeht, findet man viele treffsichere Jahrhundertanalysen und andere Versuche, das eigene Jahrhundert in Gedanken zu fassen. Dabei standen so manche Zeitalter im Mittelpunkt des Interesses, die von der Bewegtheit, von den Höhen und Tiefen, eben von den Extremen des 20. Jahrhunderts weit entfernt waren. So lässt schon der oberflächliche Vergleich mit dem relativ ruhigen, von scheinbar kontinuierlichem Fortschritt bewegten 19. Jahrhundert den Unterschied deutlich hervortreten.
     Überschaut man gar das vergangene Jahrtausend, dann wird besonders auffällig, welchen besonderen Platz das letzte Jahrhundert einnimmt. Das betrifft Tempo und Brüche der Entwicklung auf den verschiedensten Gebieten, so dass man mit dem Begriff der Revolution geradezu inflationär umzugehen begann; man denke nur an die wissenschaftlich-technische Revolution, die politischen Revolutionen, die »Kultur« revolution u. a. Die Weltkriege mit ihren beinahe unfassbaren Verlusten an Menschenleben und materiellen Werten sowie die Masse der vielen »kleinen« Kriege prägen ebenso das Gesicht des Jahrhunderts wie ein bisher nicht gekannter Völkermord in Gestalt des Holocaust. Spätestens seit der Mitte des Jahrhunderts musste man mit der Erkenntnis leben, dass die Menschheit zum erstenmal in ihrer Geschichte
über die Mittel verfügt, sich selbst zu vernichten - sei es durch atomare Waffen, durch atomare Unfälle oder durch die allmähliche Vernichtung der ökologischen Existenzbedingungen. In den gleichen Zeiträumen verbesserten sich aber auch die Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen Menschen, stieg ihre Lebenserwartung, setzten sich in immer mehr Staaten demokratische Verhältnisse durch. So erscheint denn das vergangene 20. Jahrhundert bereits bei oberflächlichem Hinschauen als besonders widersprüchlich; viele der bisher von den Menschen akzeptierten gültigen Grenzen wurden überschritten.
     Wenn ich diesem Jahrhundert einen treffenden Namen geben sollte, so wüsste ich keinen besseren als »Jahrhundert des verlorenen Maßes«. Im philosophischen Denken spielt das rechte Maß seit den Vorsokratikern eine besondere Rolle, wenn von der menschlichen Persönlichkeit und der Gesellschaft die Rede ist. Dabei geht es weniger um ein Maßhalten im Sinne von Einschränken, sondern um das Finden und Einhalten eines rechten Maßes, um einen Weg zwischen den Extremen. »Übermaß und Untermaß mag ich nicht«, sagt schon Demokrit. Doch welche Lebensbereiche waren im 20. Jahrhundert nicht von einem »Übermaß« gekennzeichnet? Es ist hier nicht der Platz zu untersuchen, wo und wie überall das Maßlose zum Typischen wurde.
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Doch es gibt wohl niemanden, der diese Tendenz nicht nachvollziehen kann, das muss gar nicht im Bereich der sogenannten »höheren« Werte sein, das spürt man auch in der ganz alltäglichen Moral.
     Es ist also noch viel zu tun bei der Untersuchung des 20. Jahrhunderts. Und es ist zu hoffen, dass es dabei viele interessante Einsichten und treffende Charakteristiken geben wird. Nicht zuletzt unter dem Aspekt, dass man begreift, was im 21. Jahrhundert zu verändern ist, was man fortsetzen sollte und wogegen man energisch ankämpfen müsste. So gehört denn eine Zeitaltersichtung zu den Aufgaben der Wissenschaften, aber auch der Kunst und des vielgeschmähten »gesunden Menschenverstandes«.
     Dass in einem derart dynamischen und widersprüchlichen Jahrhundert eine Stadt wie Berlin eine ganz besondere Rolle gespielt hat, ist durch die in diesem Heft beendete Betrachtung über »Berlin im 20. Jahrhundert« wohl an vielen Beispielen belegt. Der wirtschaftliche Aufschwung der Stadt zu Beginn des Jahrhunderts, die geistigen Höhenflüge in den zwanziger Jahren, die erstaunliche Konzentration von Nobelpreisträgern gehören ebenso dazu wie die revolutionären Umbrüche von 1918 und 1989. Berlin ist aber auch eng verbunden mit zwei Weltkriegen, von hier aus wurde der Vernichtungsfeldzug gegen die Juden in ganz Europa gelenkt. Und nicht zuletzt war Berlin das wohl umkämpfteste Territorium des jahrzehntelangen Kalten Krieges, war als gespaltene Stadt Spiegelbild einer gespaltenen Welt - und wurde im letzten Jahrzehnt zum intensivsten Experimentierfeld für eine neue Einheit.
     Walter Benjamin hat einmal von Paris als der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« gesprochen, weil alle wichtigen politischen, kulturellen, gesellschaftlichen Entwicklungen dieses Jahrhunderts auf ganz spezifische Art in Paris mitgelebt, reflektiert und mitgestaltet worden sind. Wenn man nach einer Stadt suchen würde, in der sich das 20. Jahrhundert mit all seinen Extremen ausgeprägt hat, käme da nicht zu allererst Berlin in Frage? Ob man diese Stadt mit all ihren Höhenflügen und Abstürzen, mit ihrer so widersprüchlichen Rolle in der Geschichte des Jahrhunderts die »Hauptstadt des 20. Jahrhunderts« nennen sollte, ist mehr als fraglich. Aber eines bleibt wohl unumstritten: Keine andere der vergleichbaren Städte von London bis Moskau, von Washington bis Tokio hat alle Wendungen des 20. Jahrhunderts so direkt und in einem solchen Ausmaß durchlebt wie Berlin.

Bildquelle: LBV/ Rheden

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
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