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Heiko Schützler
9. September 1998:
Grundsteinlegung für den neuen »Lehrter«

Am 9. September 1998 legt Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann in Anwesenheit von Bahnchef Johannes Ludewig und Berlins Regierendem Bürgermeister Eberhard Diepgen den Grundstein zum neuen Berliner Zentralbahnhof. Musikalisch untermalt, senkt ein Kran den einen Kubikmeter großen Grundstein in die 20 Meter tiefe Baugrube. Gleichzeitig zeigt ein sich langsam entrollendes Transparent, wie der fertige Bahnhof einmal aussehen soll. Blaue und weiße Luftballons steigen zum Himmel - Applaus von den zahlreichen geladenen Gästen und den Schaulustigen am Bauzaun. Am alten Lehrter Bahnhof rührt sich keine Hand. Dort protestieren Vertreter des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) gegen den Transrapid, der von hier nach Hamburg fahren soll.
     Für den Neubau muss der alte Lehrter Stadtbahnhof von 1882 weichen. 1986 für 10 Millionen Mark saniert, soll er 2002 abgerissen werden. Auf die 1999 erfolgte Anregung der Tiergartener Bezirksverordnetenversammlung, Teile der Anlage in den Neubau einzubeziehen, ist die Bahn nicht eingegangen.

Damit verschwindet der letzte Rest des großen Bahnhofskomplexes, den es seit 1871 an dieser Stelle gab. Von hier fuhr man über Stendal und Lehrte nach Hannover. Im Zweiten Weltkrieg beschädigt, wurde der Fernbahnhof 1950 stillgelegt und 1957-1959 gesprengt (BM 3/2001).
      Warum aber wird gerade der Lehrter zum Zentralbahnhof und nicht Friedrichstraße? Ganz einfach, weil dort die Bebauung zu eng und die Spree zu nahe ist. Am Lehrter lässt sich der wichtige europäische Eisenbahnknotenpunkt technisch einfacher und stadtverträglicher verwirklichen. Kompromisse sind aber auch hier nötig. Die Verbindung zum Nordkreuz mit einem »Fly Over« biegt an der Tegeler Straße haarscharf um ein Wohnhaus. Auf der Höhe des dritten Geschosses werden im Minutentakt die Bahnen vorbeirauschen. Als Lärmschutz installiert die Bahn auf 390 Metern bis zu 2,70 Meter hohe Wände. Auf dem früheren Güterbahnhof am Nordhafen soll in diesem Zusammenhang ein neuer S-Bahnhof entstehen, Planungsname »Perleberger Brücke«.
     Vom Lehrter Bahnhof aus werden nicht nur fast alle großen deutschen Städte angefahren, auch Russland, Südeuropa, Skandinavien, Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Länder wird man vom Lehrter Bahnhof erreichen. Wann, das steht allerdings noch nicht fest. Der ursprünglich für 2003 anvisierte Fertigstellungstermin lässt sich nicht halten. Wenigstens der Rohbau soll bis dahin stehen.
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Der schwierige Baugrund und immer wieder veränderte Planungen haben bewirkt, dass die Bahn nunmehr von 2005 ausgeht, pessimistische Schätzungen sprechen gar von 2010. Allein der Wassereinbruch in der Baustelle des Tiergartentunnels am 9. Juli 1997 kostete ein Jahr. Die geplanten 800 Millionen Mark Baukosten sind auf über eine Milliarde angewachsen, und sie werden wohl weiter steigen, wie der Pressesprecher der Deutschen Bahn AG anlässlich der Eröffnung des ersten fertig gestellten Teilbereiches unter der Invalidenstraße am 18. Mai 2000 andeutete.
     430 Meter wird die Halle messen, so lang wie ein ICE. Das entspricht etwa der Entfernung vom Berliner Dom zum Auswärtigen Amt. Damit und mit seinen unterirdischen Anlagen wird der zwei Hektar Fläche einnehmende Lehrter der größte Bahnhof in Europa. 382 Zugpaare sollen das vom Architektenbüro Gerkan, Marg und Partner entworfene Bauwerk täglich frequentieren. Zusätzlich noch 24 Zugpaare bei S- und U-Bahn. Doch ob die pro Tag erwarteten 240 000 Reisenden vermittels 53 Rolltreppen und 14 Aufzügen direkt ins Berliner U-Bahn-Netz umsteigen können, erscheint fraglich. Die »Kanzler-U-Bahn«, die die östlichen Stadtbezirke besser ans Zentrum angebunden hätte, wird in absehbarer Zeit nicht gebaut. Wohl aber werden Bauvorleistungen erbracht. Es sind nicht die einzigen in Berlin, und schon gar nicht an dieser Stelle:

So wie auf dem Baustellenschild soll der überirdische Teil des Lehrter Bahnhofs einmal aussehen

Bei den Gründungsarbeiten stieß man auf Hinterlassenschaften von »Germania«, der von Hitler geplanten Welthauptstadt. Im Zuge der Paul-Löbe-Straße fand sich ein 800 Tonnen schwerer Beton-Caisson zur Untersuchung des Baugrundes für die »Große Halle«.

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Die neue Ost-West-Achse entsteht unmittelbar neben der Stadtbahntrasse. Im Hintergrund der Lehrter Stadtbahnhof

Außerdem wurde das Fundament für den Spreetunnel unter der Halle entdeckt. In Ost-West-Richtung kreuzte das Gelände zudem ein doppelstöckiger U-Bahn-Tunnel.
     Oberirdisch ist nur die Hälfte des Bahnhofes zu sehen. Neun Meter über der Straße wird neben der S-Bahn viergleisig der Ost-West-Verkehr abgewickelt. Nach Norden und Süden fährt man im Keller: Vier Fernbahnsteige in 15 Meter Tiefe geben acht Gleisen Platz. Zusätzlich soll hier die neue S-Bahn-Linie 21 fahren. Und eigentlich auch die U-Bahn.
     Die große Tiefenlage ist notwendig, weil auf dem Weg nach Süden die Spree unterquert wird. Sogar Platz für Autos findet sich hier unten. 950 Wagen fasst die dreistöckige Tiefgarage, und außerdem verläuft neben den Bahnanlagen in einer eigenen Röhre die Bundesstraße 96.

Zwischen den Ebenen werden die betrieblichen Anlagen untergebracht. Direkt über den unterirdischen Bahnsteigen liegt die Bahnhofshalle mit Geschäften und Dienstleistungsangebot. Darüber, auf Straßenniveau, weitere Dienstleistungseinrichtungen und die Eingänge.
     Der Bahnhof soll mit seinen zwei großzügig ausgreifenden »Gebäudebügeln« Mittelpunkt eines völlig neu entstehenden Stadtquartiers werden. Ob die futuristischen Stahl-Glas-Konstruktionen, die den Kreuzungscharakter der Anlage verdeutlichen sollen, allerdings wirklich entstehen, ist mittlerweile zu bezweifeln. Sowohl das Stadtviertel als auch die »Bügel« will die Bahn, wie sie im Sommer 2000 angesichts der Kostenexplosion und der Terminverzögerung erklärt, doch nicht selbst bauen. Alle Vorhaben, die ohne große Verluste zu stoppen seien, sollen noch einmal auf den Prüfstand. Sollten sich keine privaten Investoren finden, wird am Lehrter Bahnhof nur ein 60 Meter hoher Abluftschacht in die Höhe ragen. Das mit so viel Vorschusslorbeer bedachte Projekt droht an der Berliner Realität zu scheitern.

Bildquelle: LBV/ Rheden

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
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