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Kurt Laser
Kinos schießen wie Pilze aus der Erde

Die Kinolandschaft in den Neunzigern

In den neunziger Jahren ändert sich die Berliner Kinolandschaft in Ost und West radikal, auch wenn eine Reihe von alten Standorten erhalten bleibt. Das hängt vor allem mit dem Vormarsch der Multiplex-Großkinos zusammen.
     Im August 1990 gibt es in Ost-Berlin noch 21 Kinos, die unter kommunaler Verwaltung stehen. Doch für zwölf davon meldet die Treuhand AG im November 1990 ihre Zuständigkeit an. Es kommt zum Streit zwischen der Treuhand und der nunmehr verantwortlichen Senatsverwaltung für Kultur, die befürchtet, dass diese Behörde unrentable Kinos oder solche, die keinen Käufer finden, an branchenfremde Unternehmen verscherbelt und zweckentfremdet. Die Treuhand würde einen »kulturellen Kahlschlag« verursachen. Solange die Rendite stimme, sei ihr alles andere egal. Die Reaktion des zuständigen Treuhandsachbearbeiters ist ein entsetztes »Um Gottes Willen«. Aber die zwölf Kinos im Ostteil der Stadt stehen trotzdem erst einmal zum Verkauf.

Zunächst sollen die großen westlichen Kinobetreiber beim Erwerb weitgehend unberücksichtigt bleiben und ostdeutsche Bewerber bevorzugt werden. Ausnahmen sind die Westberliner Klosten und Steenwerth, die in Kreuzberg das »York« betreiben, und der Westdeutsche Hans-Joachim Flebbe, Gründer und Hauptaktionär der Cinemaxx AG.
     Doch bald kommen auch andere zum Zuge. Deutschlands damaliges Kinounternehmen Nummer 1, die UFA, bemüht sich erfolgreich, im Zentrum der deutschen Hauptstadt Fuß zu fassen. Zunächst werden im Haus der sowjetischen Kultur und Wissenschaft in der Friedrichstraße zwei komplette Kinos übernommen. Die UFA mietet sich außerdem im Fernsehturm ein, und seit dem 15. Oktober 1992 ist sie Eigentümerin des am Helene-Weigel-Platz gelegene Kinos »Sojus«, das sie drei Jahre später um zwei Säle aufstockt. Am 18. Dezember 1997 eröffnet die UFA schließlich in der Karl-Marx-Allee das erste Berliner Multiplex-Großkino, den »UFA-Palast Kosmos« mit zehn Sälen und 3 400 Plätzen.
     Die United Cinemas International (UCI), eine Kinotochter von Universal und Paramount, will nicht zurückstehen. In rund 900 Meter Entfernung, an der Landsberger Allee, startet im Frühjahr 1998 das UCI-Multiplex mit acht Sälen und 2 100 Plätzen.
     Bei der UFA ärgert man sich darüber, dass das Bezirksamt die Genehmigung für das neue Großkino gegeben hatte.
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Friedrichshain, einer der kleinsten Berliner Stadtbezirke, gilt nunmehr als ein Paradebeispiel für einen »Overscreen-Standort«, wie es im schönsten Neudeutsch heißt.
     Die UCI ist auch an anderen Berliner Standorten präsent. Am 30. Oktober 1997 nimmt sie in den Gropiuspassagen in Neukölln die »UCI Kinowelt« mit sechs Sälen und 1 782 Plätzen in Betrieb. 1998 richtet sie im Freizeitkomplex am Marzahner Tor auf einer Fläche von 4 600 m2 die »UCI-Kinowelt Le Prom« mit acht Sälen für 1 500 Zuschauer ein. Damit verfügt UCI nun über mehr als zwei Dutzend Leinwände mit über 6 500 Plätzen und ist zu diesem Zeitpunkt in Berlin Branchenführer.
     Zum UCI-Imperium gehört seit dem 1. Januar 1994 auch als sichere Bank der Zoo-Palast, bis zur Eröffnung der neuen Kinopaläste am Potsdamer Platz Spielstätte für die Internationalen Filmfestspiele.
     Bei so viel Expansion muss natürlich gespart werden. Die Löhne im Zoo-Palast liegen am unteren Ende der Verdienstskala, und es passt der UCI-Führung nicht, wenn sich Mitarbeiter des Unternehmens für ihre Kollegen einsetzen und bessere Arbeitsbedingungen fordern.
     So werden im Februar 1998 vier Kollegen, davon drei langjährig Beschäftigte, mit fadenscheinigen Begründungen entlassen. Die UCI-Leitung stört es auch nicht, dass zwei der Entlassenen Betriebsräte waren.
Die Welle der Großkinoeröffnungen läuft weiter. »Die Warner übertrumpft die UFA, Kieft & Kieft botet Warner aus, die UCI lässt Artur Brauner aussteigen und baut dann woanders«, so Schlagzeilen des Jahres 1997.
     In Hellersdorf errichtet die Lübecker Filmtheater-Gruppe Kieft & Kieft ihren »CineStar« mit zehn Sälen und 2 650 Plätzen. Für Kieft & Kieft ist es das erste Engagement auf dem Berliner Markt und für Berlin zu diesem Zeitpunkt auch das größte Neubauprojekt auf dem Kinosektor. Bereits in den ersten beiden Wochen nach der Eröffnung im September 1997 werden 54 000 Besucher gezählt.
     Den unter Denkmalschutz stehenden Borsigturm im Bezirk Reinickendorf hätten alle großen Kinounternehmen gern gehabt. Die Warner-Gruppe gilt zunächst als chancenreich. Doch im November 1997 stellen auch hier Heiner und Marlies Kieft ihr zweites CineStar-Projekt mit neun Sälen und 2 400 Plätzen vor. Eröffnung ist am 25. März 1999.
     Die Kinowelt (Kinepolis, Village Cinemas) siedelt sich in den »Spreehöfen« in Oberschöneweide an, einem denkmalgeschützten ehemaligen Industriekomplex. Die reinen Baukosten des Kinos belaufen sich auf etwa 3,5 Millionen Mark. Die Kinotechnik liefert die Cine Projekt Hasso, die zahlreiche Kinos in der Region Berlin-Brandenburg ausstattete.
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Sie hatte sich in einem der Nachbarhöfe in Oberschöneweide niedergelassen. Wer will, kann auch mit dem Schiff ins Kino fahren, denn an dieser Stelle ist eine Anlegestelle eingerichtet worden.
     Um den Neubau eines Kinos in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg gibt es heftigen Streit. Für 104 Millionen Mark realisiert die Treuhand-Liegenschafts-Gesellschaft (TLG) hier ein Sanierungsprogramm für das denkmalgeschützte Areal der ehemaligen Schultheiss-Brauerei. Dazu gehört auch der Bau eines Multiplex-Kinos, das die Warner Village betreiben will. Doch die Bezirksverordneten von Prenzlauer Berg sprechen sich am 10. Dezember 1997 nach einer chaotisch-turbulenten Sitzung mit 20 zu 19 Stimmen gegen das Projekt aus. Zu dieser Entscheidung trägt auch Artur Brauner (geb. 1918) in einer emotionsgeladenen Rede vor dem Bezirksparlament bei. Er weist darauf hin, dass zwei so dicht beieinander liegende Multiplexe nicht lebensfähig seien. Im Dezember 1997 hatte er als Investor zusammen mit dem Betreiber Hans-Joachim Flebbe das Cinemaxx Colosseum eröffnet. Seine ganze Existenz, die er in 50 Jahren aufgebaut habe, stehe jetzt auf dem Spiel. Die TLG zeigt sich »tief betroffen«, äußert »Unverständnis« und stellt am nächsten Tag alle bauvorbereitenden Maßnahmen zunächst ein. Sie setzt die Baustadträtin mit Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe unter Druck. Brauners Antrag auf einstweilige Verfügung gegen die Baugenehmigung lehnt das Landgericht Berlin schließlich ab.
Die TLG setzt sich mit ihrer Auffassung durch, es könne keinen Konkurrenzschutz geben. Außerdem hätte Brauner, als er das Colosseum kaufte, gewusst, dass auch in der Kulturbrauerei ein Kino geplant sei. Brauner sei im Zusammenhang mit dem Colosseum nur zum Erhalt von 400 Sitzplätzen verpflichtet worden, nicht aber zum Bau von zehn Sälen, wie sie nun im Cinemaxx Colosseum vorhanden seien.
     Doch das hätte dem Expansionsdrang von Flebbes Cinemaxx widersprochen, die in Hohenschönhausen in Rekordzeit ein neues Kinozentrum erbaut. Am 15. Mai 1998 wird in der Wartenberger Straße der Grundstein gelegt, am 8. August der Rohbau amtlich abgenommen; am 28. August kann Richtfest gefeiert und am 11. Dezember das Kino eröffnet werden.

Der Wettlauf der Großen geht weiter

Spektakulären Kinoeröffnungen stehen zunehmend Schließungen von kleineren Filmtheatern gegenüber, die der Konkurrenz nicht mehr gewachsen sind. Im Wedding geht 1998 für das kleine Kino »Sputnik« mit 297 Plätzen die Spielzeit zur Ende, in Friedrichshagen scheitert der Versuch, das Kino »Union« wiederzueröffnen, in Köpenick wird das traditionsreiche »Forum« geschlossen. Das betrifft 1998 auch das Traditionskino »Gloria-Filmpalast« am Kurfürstendamm, obwohl in diesem Fall sogar die Cinemaxx AG der Betreiber ist.

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In die Räume zieht ein Textilkaufhaus ein. Andere klangvolle Namen wie »Filmbühne Wien«, oder »Olympia« verschwinden ebenso aus dem Stadtbild. Das berühmte, 1912 eröffnete »Marmorhaus« der UFA-Theater AG am Kurfürstendamm wird noch 1997 für 5 Millionen DM aufwändig saniert. Zu Beginn des Jahres 2001 kommt das Aus.
     Es gibt aber auch positive Beispiele, dass kleine Kinos überleben, so das »Rio« in Weißensee oder der »Blaue Stern« in Pankow. Im Berliner Südwesten bleibt der Titania-Palast in der Steglitzer Schloßstraße erhalten, in Treptow das seit 1929 existierende Filmtheater »Astra«. In Weißensee eröffnen Michael Verhoeven (geb. 1938) und seine Frau Senta Berger (geb. 1941) zusammen mit dem neuen kleinen »Tonino« wieder das historische »Toni«
     Doch der Wettlauf der Großunternehmen geht weiter. Im September 1998 eröffnet Hans-Joachim Flebbe am Potsdamer Platz ein weiteres Cinemaxx-Kino. Mit 19 Leinwänden, der höchsten Zahl unter einem Dach in Deutschland, ist es ein »Maximum-Mulitplex«, das ab 2000 offizielles Berlinade-Haus wird. Da der Potsdamer Platz für die Cinemaxx-Gruppe auch eine Prestigeangelegenheit, werden in die Innenausstattung rund 16 Millionen Mark investiert, etwa doppelt soviel wie in den anderen Kinos der Cinemaxx-Gruppe.
     Am 10. März 1999 feiert die UFA-Theater AG die Grundsteigung für ihr zweites Multiplexkino mit neun Sälen und 2 400 Plätzen in der Treptower Elsenstraße.
Am 20. August ist Richtfest. Für das dritte Multiplex der UFA beginnen im November 1999 die Abrissarbeiten auf dem Grundstück des ehemaligen Alex-Treffs.
     Im Februar 2000 können auch Marlis und Heiner Kieft stolz verkünden, nunmehr »ins Herz der City«, zum Potsdamer Platz, vorgestoßen zu sein. Im Sony Center bietet »CineStar« Filmvergnügen in acht Sälen mit 2 350 Plätzen, außerdem das IMAX-Kino, das zwei- und dreidimensionale Filme zeigt. Für die dreidimensionalen Filme stellt Sony spezielle Brillen und Kopfhörer zur Verfügung.
     So gibt es im Jahr 2000 am Potsdamer Platz 26 Multiplexsäle und das IMAX. Hinzu kommen noch zwei Leinwände der Stiftung Deutsche Kinemathek, die ihren Sitz hierher verlegt hat und ihre Schätze nunmehr auch in einer Ausstellung präsentieren kann. Insgesamt sind also rund 6 900 Kinoplätze vorhanden, eine in Europa unvergleichliche Kinodichte. Berlin verfügt deutschlandweit über die meisten Kinos. Auf dem Berliner Kinomarkt werden bis zu 20 Prozent des gesamten Geschäftes in Deutschland getätigt.

Berlin-Filme mit wenig Niveau

In den Filmen dieses Jahrzehnts spielt die Hauptstadt Berlin - soweit es sich nicht um Fernsehreisser handelt - eine eher untergeordnete Rolle. In den Kinos dominieren ohnehin Filme aus den USA, viele davon auf niedrigstem Niveau.

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Deutsche Beiträge haben nur einen bescheidenen Anteil.
     In Ost-Berlin werden 1990 die 1965/66 verbotenen DEFA-Filme gezeigt, von denen einige auch in Berlin spielen, wie »Berlin um die Ecke« und »Jahrgang 45«. In diesem Film aus dem Jahre 1966 spielen Monika Hildebrandt und Rolf Römer (1935-2000) das junge Ehepaar Lisa und Alfred, die beschlossen haben, sich zu trennen. Die Decke ihres kleinen Altbauzimmers im Prenzlauer Berg fällt ihnen auf den Kopf. Alfred nimmt ein paar Tage Urlaub, bummelt durch Berlin, trifft Freunde und Fremde, lässt sich treiben. Der Kaderleiter seines Betriebes stellt ihn zur Rede. Lisa, die als Säuglingsschwester arbeitet, leidet unter der bevorstehenden Trennung. Sie wartet darauf, dass Alfred sich mit ihr ausspricht. Vielleicht kommen sie ja doch noch zusammen.
     In West-Berlin kommt am 15. März 1990 der Streifen »Fünf Bier und ein Kaffee« in die Kinos. Fünf Berliner Szenetypen berichten aus ihrem Leben, wie man im Supermarkt eine Show abzieht und dabei ordentlich etwas mitgehen lässt, wie man Kleinbürgern im Waschsalon eins auswischt, wie man »Bullen verarscht« und dabei zu einem lustigen Kuraufenthalt in einer psychiatrischen Klinik kommt. Dort befreien sie eine alte Oma, »weil sei so gut drauf ist«. Diese steuert zu den fünf Bieren einen Kaffee bei. Noch schlimmer ist der Streifen »Bei mir liegen Sie richtig«, der am 13. Dezember 1990 startet.
Dieter Hallervorden spielt noch in diesem und anderen Blödelfilmen, bevor er sich wieder dem politischen Kabarett zuwendet. Didi ist hier als Nachtwächter in einem Ostberliner Klinikum beschäftigt, verdient sich als Schmuggler prominenter Innereien, unter anderem von Stalins Leber, ein paar Mark nebenbei, muss aber, weil erpressbar, die Intrigen einer Westberliner Ärztin unterstützen und steigt so zum Chef einer bankrotten Privatklinik auf. »Die überaus missglückte Köpenickiade, die den Film zu tragen hat, wirkt genau so läppisch wie all die Knallcharchen, die ihn bevölkern. Pointenlos und von einer kretinhaften Albernheit, die sich bissig gibt, watet das Werk durch eine Unzahl missglückter Gags«, lautet der Kommentar in der Zeitschrift »Filmecho/Filmwoche«.
     In Babelsberg dreht die noch existierende DEFA den Film »Die Architekten«, der am 27. Mai 1990 seine Uraufführung erlebt. Der Architekt Daniel, Ende dreißig, projektiert Wartehäuschen für Busstationen und Ähnliches. Plötzlich bekommt er den Auftrag, für eine Satellitenstadt Berlins ein kulturelles Zentrum zu projektieren. Als Mitarbeiter gewinnt er fünf ehemalige Kommilitonen und zwei junge Absolventen. Die Sieben verwirklichen in diesem Projekt ihre Vorstellungen von einem schönen Zentrum mit gastronomischen Einrichtungen, Geschäften, Kulturstätten, Spielplätzen und Grünanlagen.
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Aber Daniel steht vor zahllosen unüberwindlichen Hürden. Das Kollektiv zerbricht an den Eingriffen übergeordneter Stellen. Daniels Frau verlässt mit dem Kind die DDR. Als der Bau beginnt, ist von dem ursprünglichen Entwurf nicht mehr viel übrig.
     »Das Mädchen aus dem Fahrstuhl« hat am 10. Januar 1991 Premiere. Frank trifft das Mädchen Regine im Fahrstuhl seines Wohnhauses auf der Berliner Fischerinsel. Er ist Schüler der 10. Klasse, FDJ-Sekretär und mathematisch hochbegabt. Regine ist die Neue in der Klasse. Als sie unentschuldigt in der Schule fehlt, stellt Frank fest, dass Regine die drei kleinen Geschwister versorgt, weil die Mutter im Krankenhaus ist. Er hilft ihr bei persönlichen Dingen und bei den Schularbeiten. Doch ihre Leistungen sind schlecht. Für eine Ausbildung zur Kindergärtnerin kommt sie nicht in Frage, obwohl es ihr sehnlichster Wunsch ist und sie dafür auch Eignung besitzt. Frank opponiert in der Schule vergeblich gegen diese Entscheidung. Er wird wegen seiner Haltung aus der FDJ ausgeschlossen. Damit wäre seine Entwicklung gefährdet, wenn der Vater nicht als Betriebsdirektor seine guten Beziehungen genutzt hätte und ihm einen Platz an einer Spezialklasse der TU Dresden besorgt. Frank geht, Regine bleibt zurück.
     »Zwischen Pankow und Zehlendorf« ist der Titel einer Koproduktion der DEFA und der Allianz-Filmproduktion GmbH im Auftrag des WDR Köln und des SFB Berlin.
Premiere ist am 4. Dezember 1991 im »Tivoli«. Im Mittelpunkt der Handlung aus dem Jahre 1953 steht die elfjährige Susanne, die mit ihrer Mutter und der älteren Schwester in Pankow wohnt. Die schwer arbeitende Mutter hat wenig Zeit für ihre Kinder. Susanne geht in Zehlendorf, wo ihre Großmutter wohnt, zur Musikschule. Da kommt der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück und lässt den alten Konflikt zwischen der Familie und der Großmutter wieder aufbrechen. Susanne darf nicht mehr nach West-Berlin. Sie begeht daraufhin einen Diebstahl. Lieber will sie ins Gefängnis, als auf Zehlendorf verzichten. Der Vater wird in Schiebergeschäfte verwickelt und verlässt die Familie.
     Der Film »Banale Tage«, der am 24. Januar 1992 im »Babylon« uraufgeführt wird, spielt in den siebziger Jahren. Der sechzehnjährige Schüler Michael und der Werkzeugmacherlehrling Thomas sind befreundet. Sie wollen dem Trott in Elternhaus, Schule und Betrieb entfliehen. Das Aufbegehren äußert sich darin, dass Thomas eine leerstehende Wohnung aufbricht und sich dort einquartiert. Er verteilt Flugblätter, für die sich niemand außer der Staatssicherheit interessiert, die ihn mitnimmt. So muss Michael seinen Freund erst suchen, als er von einem Aufenthalt bei seinem Vater an der Ostsee zurückkommt.
     Mit den letzten Filmen begibt sich die DEFA auf das Niveau der üblichen Filme aus den USA, die die Berliner Kinos überschwemmen.
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»Die Tigerin«, eine Koproduktion der DEFA mit der Cine Vox Filmproduktion GmbH München und der Dieter Geissler Filmproduktion GmbH München, hat am 15. Oktober 1992 im »Filmpalast Berlin« am Kurfürstendamm Premiere. »Tierisch dilettantisch«, »Joan Collins trifft Pippi Langstrumpf« und »Zwanziger Jahre wie aus dem Bilderbuch« sind einige der Zeitungskritiken überschrieben. Im Berlin der zwanziger Jahre ist die hübsche Pauline der Star im Nachtclub »Exil«. Sie brüskiert den Unterweltboss Harry, der ihr nachstellt, und zieht mit Andrei, einem amerikanischen Hochstapler russischer Herkunft, ab. Harry verrät sie an die Polizei. Dann flüchten beide nach Karlovy Vary, wo sie sich als adliges russisches Ehepaar ausgeben. Hier planen sie einen Coup, um einen amerikanischen Ölbaron zur Kasse zu bitten. Doch Pauline hat inzwischen die Nase voll von ihm und flieht erneut, diesmal mit einem Rennfahrer. Auch Andrei muss flüchten, weil er die Hotelrechnung nicht bezahlen kann. Dann kreuzen sich ihre Wege noch einmal mit Harry, und dieser lässt seiner Rache freien Lauf.
     Im Berliner Unterweltmilieu, wenn auch des Jahres 1903, spielt auch »Rosen-Emil«. So wird der Hausierer Emil genannt, weil er die Rosen so liebt. Lissy, die »ungekrönte Königin der Berliner Vorstadtnutten«, schult ihn um zum Einbrecher, wobei er seine Kletterkünste ausprobieren kann.
Aber nicht nur Lissy verschafft ihm Liebe, Geld und »berufliche Anerkennung«. Auch Brillanten-Bertha, eine »alternde Oberschichtnutte«, will etwas von ihm. Als er von ihr weg ans Krankenbett seiner Lilly eilt, bringt sie ihn »wegen Zuhälterei« ins Gefängnis. Zwar zieht sie ihre Anzeige dann großzügig wieder zurück. Doch es ist zu spät. Lilly ist inzwischen verstorben, und Emil bleibt allein zurück.
     Schließlich heißt es zum Schluss noch bei der DEFA: »... und der Himmel steht still«. Es ist eine Koproduktion mit der Lakehand-Film London und der Chris Sievernich Filmproduktion Berlin. Es handelt sich um einen Tunnelfilm, allerdings nicht einen von der üblichen Art. 1955 nimmt der britische Techniker Leonard an der Operation »Gold« teil. Die Amerikaner bohren einen Tunnel von West- nach Ost-Berlin, um Telefongespräche der sowjetischen Behörden mitzuhören. Leonard lernt die Deutsche Maria kennen. Obwohl sein »Betreuer«, der US-Offizier Bob Glass, Einwände gegen diese Beziehung hat, bleibt Leonard bei Maria. Diese aber ist mit Otto verheiratet, der die Scheidungspapiere nur unterzeichnen will, wenn Maria ihm Geheimnisse über ihren Geliebten preisgibt. In einem Moment höchster Verzweiflung erschlägt Maria ihren Mann. Leonard bringt die zerstückelte Leiche in zwei Koffern in den unterirdischen Geheimgang.
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Dieser wird von sowjetischen Spezialisten entdeckt. Leonard bittet Maria, ihn nach London zu begleiten. Doch Maria bleibt in letzter Minute zurück. Erst als Leonard 1989 in den Tagen des Mauerfalls noch einmal nach Berlin zurückkehrt, erfährt er, dass sie Glass, der von dem Mord wusste, geheiratet hat aus Dankbarkeit dafür, dass er die Morduntersuchung unterdrücken half und damit auch Leonard rettete. Immerhin wird dem Film in der Kritik bescheinigt, dass selten zuvor Berlin eindrucksvoller fotografiert wurde. Wenigstens taucht die DEFA in der mit 750 000 DM dotierten Werbekampagne überhaupt nicht mehr auf, als der Streifen am 16. September 1993 im Verleih von Jugendfilm (!) Premiere hat.
     Besonders erfolgreich ist Detlev Bucks (geb. 1962) am 1. Februar 1996 gestartete Produktion »Männerpension«. Das in der ehemaligen Haftanstalt Rummelsburg gedrehte Spektakel zählt 1996 fast 3,2 Millionen Besucher. Buck selbst spielt den Hammer-Gerd, Til Schweiger (geb. 1963) den Steinbock. Beide sind Häftlinge in der gleichen Zelle. Sie kommen in den Genuss eines außergewöhnlichen Resozialisierungsprogramms. Sozial engagierte Frauen sollen sie für eine Woche lang bei sich aufnehmen und ihnen so den Weg zurück in die Gesellschaft ebnen. Während Steinbock sofort versucht, seine Gastgeberin ins Bett zu bekommen, beginnt der zurückhaltende Gerd vorsichtig, die naive Blondine Marlene zu umgarnen.
     Mit Sex hat auch der anderthalb Monate später am 14 März 1996 uraufgeführte Film »Happy Weekend« zu tun. Diesmal geht es um die andere Seite. Die Polizisten »Krippo« und Horst sind erfolglos im Beruf und bestechlich. Sie stehen auf Gruppensex und kümmern sich nur um den Großvater, wenn der eine hübsche Pflegerin mitbringt. Nach einem Alkoholexzess mit einer vermeintlichen Saft-Bowle kommen sie zur Gruppentherapie ins Polizeipräsidium.
     Im Film »Das Leben ist eine Baustelle«, der am 20. März 1997 startet, gerät der Pechvogel Jan Nebel eines Nachts unvermittelt in eine Straßenschlacht, wird von den Fahndern zu Boden gerissen und sieht in die großen dunklen Augen von Vera. Während die hübsche Unbekannte entkommen kann, wird Jan gefasst. Eines Tages begegnet er einem Dutzend singender Weihnachtsmänner. Einer von ihnen entpuppt sich als Vera, und so beginnt eine der schönsten Liebesgeschichten des jüngeren deutschen Films.
     Im Film »Engelchen«, der am 2. Oktober 1997 Premiere hat, wird Ramona auf den Treppenstufen des Bahnhofs Ostkreuz eines Tages plötzlich von dem jungen Polen Andrzej umarmt und geküsst. Dieser handelt in Berlin illegal mit Zigaretten. Als Polizei auftaucht, rettet er sich vor der drohenden Kontrolle und Verhaftung in die Umarmung. Für ihn ist es ein Trick, aber Ramonas Leben ändert sich durch diese unverhoffte Begegnung abrupt.
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   175   Geschichte und Geschichten Berliner Kinolandschaft  Voriges BlattNächstes Blatt
Sie erlebt zumindest für eine kurze Zeit , was Glück bedeutet. Als sich Andrzej jedoch an den Wochenenden nach einiger Zeit immer seltener blicken lässt, ist sie bereits schwanger.
     Mit Franka Potente in der Hauptrolle hat am 20. August 1998 »Lola rennt« Premiere. Lolas Partner Manni hat sich in einige kriminelle Sachen verwickeln lassen. Nun lässt er die Tüte für die Geldübergabe mit 100 000 Mark in der U-Bahn liegen. Verzweifelt ruft er seine Freundin an, und Lola rennt. Nach zwanzig Minuten ist sie tot. Für die Hauptdarstellerin Franka Potente ist der Film ein Durchbruch, Tom Tykwer wird als der vielleicht innovativste deutsche Nachwuchsregisseur angesehen.
     Die Produktion der Senator-Film »Aimée & Jaguar« ist im Berlin der Kriegsjahre 1943/44 angesiedelt. Erzählt wird die Geschichte einer Liebe zwischen der 21-jährigen Felice (Jaguar), einer Deutschen jüdischen Glaubens, und der Soldatenfrau Lilly (Aimée), die im Januar 1945 jäh endet. Lilly ist Ende zwanzig, mit dem Soldaten Günther verheiratet und Mutter von vier Kindern. Lillys Mann ist Nazi, Felice arbeitet für eine Untergrundorganisation. Eines Tages dann steht die Gestapo vor Lillys Tür, als Felice sie gerade besuchen will. Felices Spuren verlieren sich im KZ Groß Rosen.
     In dem von der NDF produzierten und von der Kinowelt am 2. April 1998 herausgebrachten
»Mambospiel« spielen Michael Gwisdek (geb. 1942) und seine Lebenspartnerin Corinna Harfouch (geb. 1954) das Schauspielerpaar Martin und Maria. Der unterbeschäftigte Martin träumt davon, in einem Film über die Zeit des Rock'n' Roll Regie zu führen. Doch niemand interessiert sich für das Unternehmen. Seine ehemalige Freundin Maria findet eines Tages zufällig in einem Mülleimer eine Papiertüte mit Geld, das Bankräuber hier versteckt hatten. Damit finanziert sie das Filmprojekt. Martin und Maria stellen fest, dass sie es weder mit noch ohne einander aushalten können. Schließlich bahnt sich ein Chaos an.
     In dem Film »Wege in die Nacht« spielt Hilmar Thate (geb. 1931) 1999 einen Mann, der zehn Jahre vorher im Osten noch ein angesehener Betriebsdirektor war. Nun ist er arbeitslos und wird nicht mehr gebraucht. Sein letzter Halt ist der Glaube an eine geordnete Welt. Er sucht sich selbst eine Aufgabe und schafft Ordnung im nächtlichen Berlin. Rowdytum, Vandalismus oder rassistische Übergriffe ahndet er mit aller Härte. Bei seinem Selbstjustizfeldzug wird er von den Jugendlichen Gina und René unterstützt, die in ihm die lange vermisste Autoritätsfigur sehen. Er verficht das Ideal der Gerechtigkeit, begeht aber selbst Ungerechtigkeiten.
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Der Film wird in Schwarzweiß gedreht. Das Budget liegt unter einer Million Mark. Dafür springen 28 Drehtage in Berlin und Brandenburg heraus. Gefilmt wird auch in der U-Bahn, bei der S-Bahn erhält das Team keine Drehgenehmigung, weil es dort nach Auffassung der Leitung keine Gewalt gibt.
     Am Ende des Jahres 1999 wird Zeitgeschichte in zwei kuriosen Filmen präsentiert. Mit einem Etat von 7,5 Millionen Mark drehen Claus Boje und Detlev Buck den Film »Sonnenallee«. Das ist eine Straße, die mit dem einen Ende im Osten, mit dem anderen im Westen Berlins liegt. Im Osten wohnt der 17-jährige Micha Ehrenreich. Sein Westonkel schmuggelt Nylons, der Nachbar ist bei der Stasi. Für Micha ist die blonde Miriam das Wichtigste. Es ist eine in den siebziger Jahren angesiedelte »Mauerkomödie«, bei der Regisseur und Mitautor Leander Haußmann (geb. 19..) die Momentaufnahmen des Alltags in der DDR maßlos überspitzt und übertreibt. Der Starttermin ist symbolträchtig: der 7. Oktober 1999. Die Filmschöpfer müssen sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, die Verhältnisse in der DDR zu verharmlosen. In einem Interview sagt Haußmann: »Jeder weiß doch, auf welch kuriose Weise die Mauer geöffnet worden ist. Es war nicht die große Revolution. Irgendwann wurde die Mauer einfach aufgeschlossen.«
     Doch rund einen Monat später, am 9. November 1999, erfahren die Besucher des Films »Helden wie wir«, dass es ganz anders gewesen ist.
Nachdem der verklemmte Klaus Ultzsch für Erich Honecker Blut gespendet hat, wächst sein Penis zu beachtlicher Größe, sodass er damit die Mauer zum Einsturz bringen kann.
     Schließlich kommt am 16. Dezember noch »Schnee in der Neujahrsnacht« in die Kinos. Es ist eine Vorschau auf die »Nacht der Nächte« vom 31. Dezember 1999 zum 1. Januar 2000. Am letzten Tag des alten Jahres wird Toto aus der Haft entlassen. Er will ein neues Leben beginnen, springt als Busfahrer ein und erlebt bei einer nächtlichen Odyssee durch Berlin die haarsträubendsten Geschichten.

Literatur:
- Film-Echo/ Filmwoche, Jg. 1990-1999
- Wolfgang Jacobsen, Die Stadt. Die Menschen, Berlin im Film, Berlin 1998
- Ralf Schenk (Hrsg.), Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg, DEFA-Spielfilme 1946-1992, Berlin 1994

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
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