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Maria Curter
War Oststrom nicht gleich Weststrom?

Seit dem Jahr 2000 hat Berlin wieder ein gemeinsames Stromnetz

Gut zehn Jahre nach der Vereinigung verfügt Berlin seit dem 6. November 2000 wieder über eine einheitliche Stromversorgung. Die Zusammenführung der in beiden Teilen der Stadt seit März 1952 getrennt betriebenen und ausgebauten Netze musste in mehreren Phasen erfolgen. Zu unterschiedlich war die technische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten. Die Bewag war zwar seit 1948 gespalten, aber die Berliner Kraftwerke speisten noch etliche Jahre in ein gemeinsames Netz. Nachdem in der Nacht vom 4. zum 5. März 1952 die Stromverbindungen zwischen den Stadthälften und zum Umland durchtrennt wurden, war West-Berlin zur Strominsel geworden - ein Sonderfall der Nachkriegsentwicklung. Denn die Stromversorgungsunternehmen begannen sich ab Mitte der fünfziger Jahre über Landesgrenzen hinweg zu Verbundnetzen zusammenzuschließen. Wurde das Netz der DDR mit Ost-Berlin an das osteuropäische Verbundsystem angeschlossen, so erfolgte die Einbindung der BRD in das westeuropäische Netz.

Davon blieb West-Berlin jedoch ausgeschlossen und versorgte sich mit neun Kraftwerken selbst. Erst 1988 gelang es, den Bau einer Stromleitung von der Bundesrepublik durch die DDR nach West-Berlin durch Verträge zwischen der PreussenElektra AG, der staatlichen Außenhandelsgesellschaft INTRAC der DDR und der Bewag zu regeln. Damit sollte der technisch und wirtschaftlich nachteilige »Inselbetrieb« West-Berlins beendet werden. Doch bevor man dafür praktische Schritte einleiten konnte, fiel die Mauer.

Uhren tickten plötzlich anders

Mit der Vereinigung 1990 war man bestrebt, so schnell wie möglich die Stromverbindungen zwischen den beiden Teilen der Stadt wieder herzustellen. Da sich der 1988 geplante Verbund mit dem BRD-Netz noch hinzog, wurde in der ersten Phase eine 110-kV-Notleitung gelegt, die im Dezember 1992 in Betrieb ging. Nun wurde der Westteil der Stadt zunächst mit Strom aus dem Osten versorgt. Plötzlich schalteten sich Heizungen oder Videorecorder im Westteil jedoch nicht mehr pünktlich ein, tickten Schaltuhren falsch. Das verblüffte sogar die Fachleute. War Oststrom nicht gleich Weststrom?
     Auf Grund der Eigenschaft des Stromes, dass er nicht gespeichert werden kann, müssen seine Erzeugung und sein Verbrauch immer im Gleichgewicht sein.

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Jede »Gleichgewichtsstörung« wirkt sich auf die Frequenz und damit auf eine stabile Stromversorgung aus. Wird mehr Strom erzeugt als gerade gebraucht, erhöht sich die Frequenz, laufen Uhren schneller. Wird weniger Strom erzeugt als erforderlich, sinkt die Frequenz, ticken Uhren langsamer. Um die Frequenz von 50 Hertz möglichst konstant zu halten, wurde in West-Berlin während des »Inselbetriebes« die Stromerzeugung mit schnell regelfähigen Maschinen dem ständig wechselnden Verbrauch angepasst. Bei Ausfall einer Maschine in einem Kraftwerk sank die Frequenz ab. Damit im Augenblick der Störung die Frequenz trotzdem stabil blieb, wurden die Generatoren normalerweise nicht mit voller Leistung eingesetzt. Der in den damals neun Kraftwerken des Westteils der Stadt erzeugte Strom wurde über 110- und 30-kV-Leitungen auf die rund 100 Umspannwerke verteilt.
     Mit dem Parallelbetrieb des Westberliner und des osteuropäischen Netzes (VES-Netz) seit 1992, mit dem ja Ost-Berlin verbunden war, herrschte in West-Berlin die gleiche Frequenz wie im VES-Netz. In diesem Netz wurde die Frequenzschwankung jedoch nur grob ausgeglichen. Die Feinregelung erfolgte über spezielle Bauelemente in Maschinen, Aggregaten und Hausgeräten, mit denen die im Westteil nicht ausgestattet waren. Die elektrischen Synchronuhren, das sind in der Regel Schaltuhren in elektrischen Geräten, mussten somit nun von Zeit zu Zeit manuell nachgestellt werden.
Die »Stromwiege« stand in Berlin

Ausgerechnet in der Stadt, in der die Wiege der Elektrotechnik und Stromversorgung Deutschlands stand, dauerte es fast zehn Jahre, bis wieder ein einheitliches Stromnetz vorhanden war.
     Die Entwicklung begann vor knapp 120 Jahren. Nachdem Werner Siemens (1816-1892) im Jahre 1867 das elektrodynamische Prinzip - die Umwandlung von mechanischer Kraft in elektrische Energie - entdeckt, Thomas Edison (1847-1931) in Amerika 1880 die Glühlampe erfunden und der Berliner Maschinenfabrikant Emil Rathenau (1838-1915) im April 1883 die »Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität« (DEG) gegründet hatte, waren Voraussetzungen geschaffen, über elektrische Beleuchtung nachzudenken. Das technische Problem bestand darin, dass bisher für jede einzelne Lampe eine Maschine benötigt wurde - die Teilung des elektrischen Lichtes musste gefunden werden. Edison konstruierte die ersten Schalter und Verteilungssysteme.
     Um seine Stadtväter sowie die Öffentlichkeit von der elektrischen Beleuchtung zu überzeugen, lud Emil Rathenau Mitglieder zweier angesehener Klubs ein, um ihnen die Wirkung der Glühlampen vorzuführen. Er gründete am 8. Mai 1884 gemeinsam mit Oscar von Miller (1855-1934) die Aktiengesellschaft »Städtische Elektricitäts-Werke« (AG StEW).

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Nach der ersten Blockstation in der Friedrichstraße 85, die nur dieses Hausgeviert versorgte, wurde am 15. August 1885 das erste öffentliche deutsche Kraftwerk in der Markgrafenstraße (Mitte) mit einer Kapazität von 540 Kilowatt und 100 Volt Gleichstrom in Betrieb genommen.
     Der elektrische Strom eröffnete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine völlig neue Dimension der Technik, und um 1900 ist Berlin der modernste und größte Industriestandort in Europa. Technisch führende Unternehmen wie die AEG und Siemens haben Berlins Ruf als »Elektropolis« begründet. Die Stadt wurde einige Jahrzehnte technischer »Vorreiter« beim Aufbau einer flächendeckenden Stromversorgung. Daran hatte auch Georg Klingenberg (1870-1925) erheblichen Anteil. Er studierte ab 1890 an der Technischen Hochschule in Charlottenburg Maschinenwesen und Elektrotechnik und habilitierte sich 1895 mit einer Schrift über den Einfluss der Spannungshöhe auf die Fortleitungskosten bei elektrischen Fernleitungen. Fortan hielt er Vorlesungen an der TH Charlottenburg zur »Projektierung elektrischer Anlagen« oder über »Berechnung elektrischer Leitungsnetze« und baute beispielsweise das Kraftwerk Charlottenburg (1899-1900).
     Ab 1. Juli 1902 wurde Klingenberg Vorstandsmitglied der AEG und für das Arbeitsgebiet »Bau und Betrieb von Elektrizitätswerken« zuständig.
Hier entwickelte er Konzepte zur Zentralisierung der elektrischen Energieerzeugung. Das erste Kraftwerk nach diesen Plänen entstand im Jahr 1909 bei Eberswalde (Heegermühle der Märkischen Elektrizitätswerke - Leistung 20 000 kW). 1915 errichtete er das Großkraftwerk Golpa/ Zschornewitz (Lausitz) mit einer Leistung von 128 000 kW, das für die Berliner Stromversorgung wichtig wurde. Für sein letztes Werk, das Großkraftwerk Rummelsburg der Städtischen Elektrizitätswerke Berlin - heute Kraftwerk Klingenberg - erfolgte am 15. September 1925 der erste Spatenstich. Schon am 19. Dezember 1926 lieferte das Kraftwerk den ersten Strom für Berlin. Mit Turbineneinheiten von 80 000 kW und einer Leistung von 270 000 kW ging es ab Mai 1927 vollständig ans Netz. Es galt lange Zeit als eine der größten und modernsten Anlagen der Welt.

Erster »Fernstrom« aus der Lausitz

Der Stromverbrauch war in Berlin zwischen 1897 und 1904 von 425 000 kWh auf über zwei Millionen kWh gestiegen. Am 1. Oktober 1915 wurden die »Berliner Elektrizitätswerke« Eigentum der Stadt Berlin und nannten sich nun »Städtische Elektrizitätswerke Berlin« (StEW). Mit der Inbetriebnahme der 132 km langen 100-kV-Überlandleitung vom 1915 errichteten Großkraftwerk Golpa/ Zschornewitz begann im Juni 1918 die Fernstromversorgung Berlins.

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Das Ende der gemeinsamen Berliner Stromversorgung 1952
1921 war eine zweite 100-kV-Leitung vom Niederlausitzer Kraftwerk Trattendorf fertig gestellt.1) Mit der Bildung der Großgemeinde im Jahre 1920 gingen auch die Stromversorgungsbetriebe der bisher selbstständigen Städte und Gemeinden (Lichtenberg, Köpenick, Weißensee, Pankow, Neukölln und Steglitz) in den Besitz der Stadt über. Damit verfügte sie über das größte örtliche Energieversorgungsunternehmen Deutschlands. Drei Jahre später erfolgte die Umwandlung der StEW in eine städtische Aktiengesellschaft mit dem Namen »Berliner Städtische Elektrizitätswerke Aktiengesellschaft« (BEWAG).
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Zu ihren Betriebsanlagen gehörten die Kraftwerke Mauerstraße, Schiffbauerdamm/ Luisenstraße, Steglitz, Oberspree, Moabit, Charlottenburg und Rummelsburg (Gesamtleistung 206 300 kV), 23 Abspann- und Schaltwerke, 29 Umformwerke sowie etwa 10 500 km Kabelnetz und 120 km Freileitung. 1925 waren 25 Prozent und 1927 bereits 50 Prozent der Haushalte an das öffentliche Stromnetz angeschlossen. Mit der Inbetriebnahme der Großkraftwerke Klingenberg (1926/27) und West in Spandau (1929/30) stieg der Anteil der Eigenversorgung der Stadt auf 60 Prozent - 40 Prozent kamen von außerhalb. Zur Verringerung der Übertragungsverluste entstanden etwa 50 Verteilerstationen, Abspann-, Umspann- bzw. Gleichrichterwerke. Seit Ende der zwanziger Jahre existierte ein einheitlicher Stromtarif. Nach Verschmelzung der Elektrizitätswerk Süd-West AG mit der BEWAG am 1. Januar 1938 sowie mit Ablauf des Konzessionsvertrages zwischen Berlin und der Märkischen Elektrizitätswerke AG am 30. Juni 1938 war die BEWAG seit dem 1. Juli 1938 alleiniger Stromlieferant in der Stadt mit insgesamt neun Kohlekraftwerken.2) Mittlerweile wurden 92 Prozent der Haushalte mit Strom versorgt.

Die Bauphasen der 380-kV-Diagonalverbindung
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Die Vereinigung der Stromnetze

Als Folge der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Berliner Stromnetz - wie bereits dargelegt - 1952 getrennt und erst nach 48 Jahren wieder vereinigt. War in der ersten Phase zunächst der »Inselbetrieb« in der Westhälfte der Stadt ab 1992 beendet, folgten vier weitere Phasen. Das Berliner Netz sowie das der neuen Bundesländer musste nun aus dem Verbund mit dem osteuropäischen Netz gelöst und in einer weiteren Phase mit dem westeuropäischen Verbundnetz (UCPTE-Netz) verknüpft werden. Um die Stromversorgung der VEAG (Vereinigte Energiewerke AG) in den neuen Bundesländern aus dem VES-Netz auszukoppeln, mussten noch mehrere Verbindungsleitungen zwischen den ost- und den westdeutschen Netzen errichtet und zugeschaltet werden.3)
     Am 6. November 2000 war nach mehreren Bauphasen, während der weitere Umspannwerke und Verteilerstationen errichtet wurden, die schon 1988 einst nur für West-Berlin geplante 380-kV-Verbindung als Diagonalleitung fertiggestellt. Sie führt quer durch Berlin, teils unterirdisch, teils als Freileitung und verbindet den Teufelsbruch mit Neuenhagen über die Umspannwerke Reuter, Mitte, Friedrichshain und Marzahn.4) Somit hat Berlin wieder ein gemeinsames modernes Stromnetz und kann außerdem Elektrizität sowohl aus dem osteuropäischen wie aus dem westeuropäischen Verbund beziehen.

Quellen:
1 Hubert Staroste, Bau- und Technikdenkmale der Stromverteilung, in: Elektropolis Berlin, Bewag, S. 62
2 Heiko Schützler, Improvisation und Reglementierung, Die Stadttechnik Berlins 1945, in: »Berlinische Monatsschrift« 12/1999, S. 41-49
3 Strom für Berlin, Von der Inselversorgung zum Verbund, Bewag, März 1998, S. 2 ff.
4 Fachreport 380-kV-Diagonalverbindung, Bewag, Juli 2001, S. 26/27

Bildquellen: Bewag

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
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