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Berlins neue Mitte

Gabriele Lang, Wilfried Burkard und Bernd Hildebrandt über den neuen Zentrumsbezirk

Berlin hat sein Gesicht und auch seine Verwaltungsstruktur verändert. Aus dreiundzwanzig Stadtbezirken wurden zwölf. So sah es das Gebietsreformgesetz vom 10. Juni 1998 vor und so gewinnt es seit dem 1. Januar 2001 Realität.
     Was seit dem 1. Oktober 1920 der Stadt eine »innere Ordnung« gab, verändert in den Siebziger- und Achtzigerjahren nur durch die drei neuen Großsiedlungsbezirke Hohenschönhausen, Marzahn und Hellersdorf, ist nun perdu. Langjährige Leiter von Heimatmuseen der Stadtbezirke erleben diese Schnitte in die Berliner Seele ganz aus der Nähe mit. Allein Neukölln, Reinickendorf und auch Spandau bleiben in der bisherigen Gestalt.

Bekanntlich identifizieren sich die Berliner vor allem mit ihrem Kiez, erst in zweiter Linie mit dem Bezirk und der Gesamtstadt. In vielen Stadtbezirken gab es heftige Diskussionen um die amtlichen Zusammenlegungen mit bisherigen Nachbarn, mancherorts halten sie selbst nach Vollzug noch an. Wie war das in Mitte, Tiergarten, Wedding?

     Wilfried Burkard: Der alte Bezirk war die historische Mitte Berlins, von hier aus entstand die Stadt. Andere, außenliegende Stadtbezirke, egal ob alt oder neu, definieren sich teilweise gerade dadurch, dass sie etwas Eigenes waren bzw. sind - eben gerade nicht das Zentrum bilden. Insofern ist dort das Bewusstsein von der eigenen Identität wohl schon etwas anders. Eine lokale Identifikation mit dem unmittelbaren Umfeld gibt es aber natürlich auch in »Mitte«, auch hier gab und gibt es den Kiez. Denken Sie nur an die Spandauer Vorstadt oder - weniger bekannt - das Gebiet um Arkonaplatz und Veteranenberg oder früher den Fischerkiez.
     Aus meiner Sicht hätte es auch gute Gründe gegeben, für die neue Mitte etwa den Verlauf der alten Akzisemauer als neue Bezirksgrenze zu wählen, also Teile der Kreuzberger Friedrichstadt oder Luisenstadt einzubeziehen. Aber Mitte zusammen mit Tiergarten und Wedding ist auch logisch. Schließlich ist die Stadt schon früher durch Zusammenlegungen gewachsen - schon um 1860 kamen etwa Gesundbrunnen oder Moabit dazu, die jetzt wieder zur neuen Mitte gehören.
     Gabriele Lang: Im Wedding war die Resonanz nicht so erheblich, da gab es keine nachhaltige öffentliche Diskussion, weil: Wedding bleibt Wedding, auch wenn es jetzt verwaltungstechnisch auch Mitte ist. Sicher haben das viele alte Weddinger auch bedauert.
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Bernd Hildebrandt, Gabriele Lang und Wilfried Burkard vor dem Heimatmuseum Tiergarten in der Zwinglistraße (v. l. n. r.)
Natürlich kommt man nach wie vor auch aus Wedding, aber auch aus Gesundbrunnen, das gilt was Besseres, rund um die Badstraße, um die Bibliothek am Luisenbad. Eine Nachbildung des Brunnenhauses haben wir direkt neben unserem Museum, auf dem Hof der Knabenseite der ehemals zweigeteilten Volksschule
     Bernd Hildebrandt: Auch in Tiergarten hat man da keine Probleme. Der 1920 gebildete Stadtbezirk besteht aus mehreren Vierteln, die - historisch gesehen - jeweils für sich eine Stadterweiterung Berlins nach Westen gewesen sind und lokalhistorisch kaum etwas miteinander zu tun hatten und haben. Das südliche Tiergartenviertel (bebaut ab 1830) war zunächst eine sehr noble Vorstadt mit Landhäusern und Villen der reichsten und angesehensten Bürger Berlins, dann wurde es -
abgesehen von den Teilungszeiten - zur Citylage und zum Diplomatenviertel. Die anschließenden Mietshausquartiere rund um Lützowstraße und Magdeburger Platz, wo neuerdings sogar ein Quartiersmanagement im Einsatz ist, hätte man ebensogut zu Schöneberg schlagen können. Unser Großer Tiergarten, übrigens auch der Kleine Tiergarten, muss sowieso bleiben, was er ist, die grüne Lunge mitten in der großen Stadt. Moabit hätte verwaltungsseitig natürlich auch nach Wedding gepasst. Vor über einem Jahrhundert war es links und rechts der Spree ein Berliner Ausflugsviertel mit recht lockeren Sitten, dann eine Industrievorstadt, deren Kieze lange von der Arbeiterschaft geprägt wurden. Und das Hansaviertel war um 1870 als Wohnquartier für den betuchten Mittelstand errichtet worden.
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Tiergarten ist nie ein organisch gewachsener Stadtbezirk gewesen, insofern gibt es auch keinen Verlust an Identität. Eigentlich war es von Anfang an klar, dass wir mit den alten und neuen Staatsbauten an der Spree und den Kultur- und Kommerzbauten um Potsdamer Straße, Matthäikirchplatz und Potsdamer Platz Teil der neu erstehenden Mitte Berlins sind.

Was haben Ihre Bezirke im 20. Jahrhundert für die Entwicklung Berlins bedeutet, welche Traditionen sind mit ihnen verbunden?
     Wilfried Burkard: Die Schaltzentralen der Macht waren weitgehend immer in Mitte, kulturell erwuchs seit dem Ersten Weltkrieg auch die Konkurrenz des Neuen Westens. So bewegte sich die Avantgarde der Zwanzigerjahre eher rund um den Kurfürstendamm. Hier im Zentrum waren eher die etablierten Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen zu finden. Unter allen Systemen, bis zum Ende der NS-Zeit, saßen die Staatsgewalten in Mitte insbesondere im Gebiet an der Wilhelmstraße, wo nicht nur die Berliner, sondern seit 1871 auch die politischen Schaltstellen des ganzen Reiches versammelt waren. Auch die wirtschaftlichen Zentralen - Großunternehmen, Banken etc. - etablierten sich zunehmend möglichst im Zentrum, das war genauso wie in anderen Metropolen wie London und Paris.
     Mitte hatte 1920 über 200 000 Einwohner, jetzt bei der Fusion zum Großbezirk waren es gerade noch über 70 000.

Das heißt, hier ist wahnsinnig viel passiert, bei der Gründung von Groß-Berlin war Mitte einer der bevölkerungsstärksten Bezirke, jetzt einer der kleinsten. Der Krieg und die Nachkriegsentwicklung haben das grundlegend geändert. Das alte Zentrum hat zwei Drittel seiner ehemaligen Bevölkerung verloren - und damit natürlich auch diese unverwechselbare Atmosphäre früherer Zeiten. Es war wohl eine ganz andere Stadt damals, dicht bebaut, randvoll mit ganz unterschiedlichen Menschen und Milieus. Mitte war dabei keineswegs besonders aufgeputzt oder vornehm, die Friedrichstraße z. B. war wohl im Vergleich zu heute zwar sicher lebendiger, aber auch widersprüchlicher und alltäglicher. Manche frühere Bezeichnungen illustrieren das: Im Volksmund hießen damals die Linden, Leipziger und Friedrichstraße bei derselben Reihenfolge »Laufmeile«, »Kaufmeile« und «Saufmeile«.
     In der zweiten Jahrhunderthälfte saßen hier die höchsten DDR-Staatsorgane, es wurde beschlossen und regiert, bis 1989/90 alles verschwand - auch wieder in Mitte, die in den DDR-Jahren weg vom Kleinteiligen hin zur Repräsentation entwickelt wurde, zu Luft und Grün im Zentrum, was heute manchmal allerdings etwas zugig und überdimensioniert wirkt. Denken Sie nur an diese Riesenbreiten der Straßenschneisen, die durch den Bezirk gelegt worden sind. Erst in den achtziger Jahren, vor der 750-Jahr-Feier, entstand im Kontrast der synthetische Altstadtkiez Nikolaiviertel mit seiner künstlichen Enge.
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Logisch, dass es sofort touristisch angenommen wurde und immer noch wird.
     Bernd Hildebrandt: Tiergarten ist durch ein Nord-Süd-Gefälle geprägt. Noch bis in die Siebzigerjahre ist der Industriestandort Moabit bedeutend gewesen, ehe es im Gefolge der ersten Ölkrise damit zu Ende ging. Die »schmutzige Industrie« war schon Ende des 19. Jahrhunderts weggezogen, etwa Borsig 1897 nach Tegel. Auch die Porzellanindustrie ging; Schumann hatte schon vor 1880 Pleite gemacht; Schomburg lagerte 1904 die Produktion seines Elektroporzellans nach Teltow bei Berlin, Roßlau (Anhalt) und Großdubrau bei Bautzen (Sachsen) aus. Vorher hatte es wegen der qualmenden Schornsteine der Brennöfen jahrelang Bürgerproteste gegeben. Die Königliche Porzellanmanufaktur KPM schlug sich dabei auf die Seite ihrer privaten Konkurrenz: Als staatliche Musteranstalt, bei der es auf den Profit nicht ankam, hatte sie längere Zeit mit Gasbrand experimentiert und dabei nachgewiesen, dass so nur unverkäufliches gelbes Porzellan herzustellen war. Damals hätte es ohne Koks und rußende Flamme kein weißes Qualitätsprodukt gegeben. Bereits 1880 rückte mit Herrn Bolle und seiner Meierei die »weiche« Lebensmittelindustrie nach. In der Schütt-Mühle an der Lessingbrücke wurde Getreide verarbeitet, das Korn kam über die Spree. Borsigs eigene Mühle ist erstmals 1897 abgebrannt. Paech-Brot war eine Brotfabrik im Stephanskiez, wurde groß mit der Kommissbrot-Produktion im Ersten Weltkrieg.
Der alte Herr Paech erzählte mir noch, dass sein Vater anno 1917 zum Strecken Sägemehl ins Brot backen ließ. Der Betrieb gehört inzwischen zur Firma Wendeln. Sökeland, eine alte Bäckerfamilie aus Westfalen, brachte den westfälischen Pumpernickel schon 1853 in die preußische Residenz. Der Betrieb existierte bis 1984 unter diesem Namen und lieferte seine Brotspezialitäten in die ganze Welt, luftdicht und tropenfest in Büchsen verpackt. Seit 1916 gab es hier in der Zwinglistraße die Meiereizentrale, sie war von Berliner Milchgroßhändlern gegründet worden. Nach 1945 zog sie nach Neukölln, und heute besitzt sie überall in Berlin und Brandenburg eigene Betriebe. Auch Maggi und Knorr produzierten in Tiergarten; in der Kurfürstenstraße gibt es noch die gekachelten Gebäude von Knorrs früherer Fabrik. Zu der für die Eiserne Ration der Truppen erfundene »Erbswurst« soll der bekannte Kriegsheld Paul von Hindenburg in einem Dankschreiben geäußert haben: »Die Erbswurst, die ging hinten durch. Mit besten Grüßen Hindenburg.«
     An Spree und Charlottenburger Verbindungskanal, rund um die Huttenstraße, siedelte sich um die Jahrhundertwende der Maschinenbau an, etwa AEG Turbine mit der architektonisch wegweisenden Produktionshalle von Peter Behrens, die Gewehrfabrik von Ludwig Loewe (BM 2/2001) und Pintsch-BAMAG (Berlin-Anhaltische Maschinen AG), die Gasbeleuchtung und andere Gasgeräte herstellte.
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Im Westhafen montierte zeitweise Ford seine Automodelle (BM 6/2000). An der Gotzkowskybrücke fertigte die Firma ADREMA (heute Pitney-Bowes, ebenfalls ein US-Konzern) bis 1951 Präge- und Druckmaschinen, mit denen man Adressen für Kunden- und Personalverwaltung, Lochkarten, Stempelkarten und so weiter vervielfältigen konnte. Der Verein »Berliner Unterwelten« fand in Kreuzberg mehrere Tausend Prägeplättchen, unter anderen die Mitarbeiterkarteien von Schaub-Lorenz während des Krieges. Die Firma Alcatel, die Schaub-Lorenz übernommen hatte, informierte inzwischen, dass alle Zwangsarbeiter, deren Daten dort gefunden wurden, auch Entschädigung bekommen. Für unser Museum haben wir im holsteinischen Plön eine solche Adrema- Maschine gefunden.
     Emil Rathenau ließ 1897 das Telefunken-Röhrenwerk errichten. Diese Siemens-AEG-Gründung verwertete für die Großproduktion das erworbene Patent für Röntgenröhren des Erfinders Reinhold Burger (BM 4/2001). Hier wurden in der Nazizeit jegliche Röhren für die Wehrmacht gebaut, beispielsweise die für den »Würzburger Riesen«, ein Telefunken-Radargerät von über zwei Meter Durchmesser, das auf dem Zoobunker stand und den Anflug der alliierten Bomberflotten beobachtete. Erst 1995 zog die Produktion nach Ulm, wir bekamen von Thomson, dem neuen französischen Eigner, für unser Museum eine Sammlung Röntgenröhren als Abschiedsgeschenk.
     In der Nernst-Lampenfabrik war nach dem Prinzip des Physikers Nernst ab 1904 eine der ersten elektrischen Sparlampen mit Metallfaden produziert worden. Auf dem Gelände der Porzellanfabrik Schomburg fanden wir bei Grabungen eigens dafür entwickelte komplizierte Porzellansockel mit erstaunlich feinen Drahtkanälen. 1945 wurden von der Roten Armee noch vor dem Einzug der Amerikaner und Briten die Rüstungsbetriebe demontiert, bis Anfang der Fünfzigerjahre lagen am Westhafen inzwischen längst schrottreife Maschinen, die nicht mehr abtransportiert worden waren.
     Die Geschichte der Moabiter Großindustrie ist - mit Ausnahme der Turbinenfabrik an der Huttenstraße (jetzt Siemens) - Vergangenheit. Unser Großer Tiergarten aber, der ist Gegenwart; nach Kriegszerstörungen - anschließend Brennholzverwertung und Gemüseanbau - längst wieder der zentrale Park der Stadt. Hier kann man die Jahreszeiten wie sonst fast nirgendwo im Stadtzentrum erleben. Übrigens liegt auch der Zoologische Garten auf Tiergarten-Gebiet. Von der historischen Berliner Kämmereiheide - dem ehemaligen Hinteren oder auch Kleinen Tiergarten nördlich der Turmstraße - ist nicht mehr viel geblieben. Er zeigt sich nur noch als eine Grünanlage zwischen Alt-Moabit und Turmstraße. Aber auch am Großen Tiergarten ist zu allen Zeiten die Substanz und die Fläche angegriffen worden.
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Die Friedrichwerdersche Kirche in Mitte
Unter anderem für die Siegesallee Wilhelms II. mit den Statuen der brandenburgisch-preußischen Herrscher (»Puppenallee«) und in der Nazizeit für die immer breiter werdende Charlottenburger Chaussee - die heutige Straße des 17. Juni. Hitler/Speers Germania-Planungen kosteten indessen nicht nur Fläche des Tiergartens, auch das nördlich gelegene Alsenviertel wurde bis auf die österreichische Botschaft und die Schweizer Gesandtschaft für die geplante »Große Halle« abgerissen. Südlich des Tiergartens, an der Matthäikirchstraße beim Kemperplatz, blieb allein die Kirche stehen. Das war Stadtzerstörung schon vor dem Krieg.
     Andererseits funktionierten Krolloper und die Vergnügungslokale »In den Zelten« bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein, und letztere wurden auch danach schnell wieder belebt. Dort dirigierte Otto Kermbach, bekannt vom Sportpalast, das Berliner Polizeiorchester. Die 1951 gesprengte Krolloper wurde 1957 abgetragen, die 1981 wegen Baufehlern
eingestürzte und vereinfacht wiederaufgebaute Kongresshalle von 1957 wurde später zum Haus der Kulturen der Welt. Schloss Bellevue, einst erbaut für Prinz Ferdinand, den jüngsten Bruder Friedrichs II., diente nach 1918 als Regierungsgästehaus zunächst der Republik, dann auch dem »Dritten Reich«. Im Herbst 1939 empfing dort Naziaußenminister Ribbentrop den sowjetischen Außenminister Molotow, und die Engländer ließen zur Begrüßung demonstrativ eine einzelne Bombe auf den Spreeweg fallen. Tiergarten galt als »Brauner Bezirk« mit berüchtigten NS-Dienststellen wie dem Volksgerichtshof in der Bellevuestraße, der Euthanasiezentrale in der Tiergartenstraße 4 und in Alt Moabit 143 der Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidiums Berlin-Brandenburg. Letztere betrieb streng bürokratisch die Enteignung jüdischer Bürger und war damit wesentlich an der amtlichen Mordmaschinerie beteiligt.
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Unsere 1994 dort aufgestellte Gedenktafel konnte wegen eines Widerspruchs der Berliner Oberfinanzdirektion und des darum stattgefundenen Abbruchs erst nach öffentlichen Protesten an gleicher Stelle wieder der Öffentlichkeit übergeben werden. 1999 zerschlagen (Vandalismus), ist sie am jetzigen Spreeuferweg wieder aufgestellt worden.
     1957 entstand als Internationale Bauausstellung (IBA) das neue Hansaviertel, damals ein Mekka moderner Architektur, mit seinen Begegnungsstätten auch ein Ausdruck neuer Kommunikation. Die Akademie der Künste wurde hier angesiedelt. Das »Parkhaus im Englischen Garten«, eine Wiederaufbauspende der britischen Regierung, ist heute eine Einrichtung unseres Kulturamtes. Beim Hansa-Theater denkt man sofort an Inge Meysel oder Brigitte Mira. Und das Grips Theater machte mit seinen frischen Kinder- und Jugendstücken wie »Linie Eins« von sich reden.
     In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Tiergarten bereits schon einmal das Viertel der Botschaften und der Diplomaten, eine Tradition, die wieder aufgenommen wird. Die preußische Militärtradition mit den Kasernen an der Rathenower Straße, der Invalidenstraße und mit dem »Wachregiment Großdeutschland« endete unwiderruflich Anfang Mai 1945.
Wenige Wochen später spielte hier im Poststadion, gebaut in den Zwanzigerjahren auf dem einstigen Exerzierplatz der Garde-Ulanen, eine Auswahl des Bezirksamtes Tiergarten gegen eine Auswahl der Roten Armee Fußball.
     Das erste Bezirksamt Tiergartens nach dem Krieg hat Hans Mahle aufgebaut, der mit der »Gruppe Ulbricht« im April 1945 aus dem Moskauer Exil nach Berlin gekommen war. Aus dem Trümmerberg, der nach 1945 auf dem ehemaligen Kasernengelände entstanden war, wurde 1955 der »Fritz-Schloß-Park« die zweitgrößte Grünfläche des Bezirks. Ein kleinerer Park ist der Carl-von-Ossietzky-Park mit dem Gedenkstein. Dort stehen öfters Leute, die mit Spiegeln hantieren und zu den Zellenfenstern der Untersuchungshaftanstalt Moabit hochwinken. Es sind meist Angehörige der Häftlinge.
     Gabriele Lang: Der Wedding hat das Etikett Arbeiterbezirk, Mietskasernenbezirk, soziales Elend und natürlich: Industriebezirk. Schulklassen, die uns aus Westdeutschland besuchen, wollen stets den »Roten Wedding« erleben.
     Übersehen wird, dass der Wedding immer auch einen Mittelstand hatte, dem diese Charakterisierung als Proletenviertel gar nicht gefiel. Und frühzeitig bemühte sich Wedding auch um soziale Einrichtungen, die in Berlin vorbildlich waren.
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Das sind solche wie die Arbeitslosen- und Obdachlosenhilfe des Berliner Asylvereins, der ab 1869 das Asyl in der Büschingstraße, ab 1896 in der Wiesenstraße betrieb. Die so genannte »Wiesenburg« war damals nach modernsten Maßstäben ausgestattet, z. B. bei den Sanitäranlagen, und nach dem Grundsatz »für Menschen in Not« geführt. Die Polizei wurde - anders als in den städtischen Einrichtungen - nicht reingelassen, es gab hier keine Meldepflicht, und die Arbeitsangebote beruhten auf Freiwilligenbasis. Das Geld trugen liberale, darunter auch jüdische Bürger wie z. B. Paul Singer zusammen. Andererseits gab es die »Schrippenkirche« vom Verein »Dienst an Arbeitslosen« in der Ackerstraße. Dort mußte man, bevor es die »Schrippe« gab, erst mal den Gottesdienst besuchen. Und bei der von Pfarrer Bodelschwingh inspirierten ebenfalls kirchlichen »Arbeiterkolonie« in der Reinickendorfer Straße herrschte Arbeitszwang.
     Die Weddinger Struktur im 20. Jahrhundert ist ein typisches Ergebnis der Randwanderung der Großindustrie aus der Stadt hinaus. So saß der Apotheker Ernst Schering zunächst mit der Grünen Apotheke in der Chausseestraße 23 (Mitte), 1871 war er in die Müllerstraße 151, direkt an die Ringbahn, gezogen. Interessant waren nämlich die Verkehrsanbindungen - der eigene Gleisanschluss und nebenan der Spandauer Schiffahrtskanal. Der heutige Schering-Standort am Weddingplatz liegt genau dazwischen - ganze 500 Meter nördlich der damaligen Apotheke.
Auch für die Maschinenfabrik von Louis Schwartzkopff waren der Kanal und die Nähe der Stettiner Eisenbahn entscheidend. Gegenüber dem Gartenplatz an der Ackerstraße entstand aus der Weddingschen Maschinenfabrik (gegründet 1876) die Apparatefabrik, die dann 1887 an die Brunnenstraße zog. Der dortige Vieh- und Schlachthof des »Eisenbahnkönigs« Henry Bethel Strousberg hatte mit dessen Pleite geschlossen. Heute ist dieses frühere AEG-Gelände, auf dem im letzten Jahrhundert die Nutzung der Elektrizität mit der Entwicklung und Produktion von Straßenbeleuchtung, Großmaschinen und elektrischen Haushaltsgeräten vorangetrieben wurde, der Sitz des TIP, des Technischen Innovationsparks, auf dem neben Instituten der Technischen Universität eine Reihe von High-Tech-Betrieben arbeiten. Weitere große Namen aus dem Industriebereich waren Ashelm, der Papierverarbeiter, oder die Schokoladenfabriken Stollwerck und Hildebrand. Auch ganz kleine Betriebe wie DAIMON- Batterien und Taschenlampen in der Sellerstraße 13 (»Die helle Freude«) wurden sehr bekannt. Besitzer Paul Schmidt soll die Trockenbatterie erfunden haben und hat mit seiner Produktion in beiden Weltkriegen sehr gut verdient. Weltweit bekannt wurde auch die Arnheimsche Tresorfabrik in der Badstraße oder die noch bis in die Achtzigerjahre produzierende Zündholzmaschinenfabrik Roller in der Osloer Straße, heute Sitz eines Kulturzentrums (»Fabrik Osloer Straße«).
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Mit der Industrieansiedlung expandierte andererseits auch der Wohnungsbau. Die Arbeiterschaft musste sich in der fußläufigen Nachbarschaft der Großbetriebe ansiedeln, denn der städtische Nahverkehr war kaum entwickelt. Die aufkommenden Pferdebahnen fuhren vor allem in die »besseren Gegenden«, also etwa zum Ausflugsziel Gesundbrunnen oder in der Müllerstraße zu den Friedhöfen. Mit einem Groschen pro Fahrt war sie bei den damaligen Wochenlöhnen für die Arbeiter zu teuer. Die Mietskasernen galten als die schlechtesten von ganz Berlin. »Meiers Hof« etwa in der nördlichen Ackerstraße fand sich mit seinen sieben Hinterhöfen als Musterbeispiel für Brutstätten sozialer Not in vielen Veröffentlichungen der Zeit. Erwähnt wird auch das »Schlafburschenwesen«, das den ärmsten Mietern mit der Aufnahme von Fremden zwar ein Zubrot brachte, aber bei den üblichen Verhältnissen oft handfeste Folgen wie ungewollte Schwangerschaften und die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten hatte. Interessant ist, dass zunächst das Militär auf die verheerenden Wirkungen zu kleiner, feuchter, schlecht zu lüftender und völlig übervölkerter Wohnungen aufmerksam machte. Denn bei den alljährlichen Rekrutenmusterungen zeigten sich erschreckende gesundheitliche Folgen. Ganze Jahrgänge junger Männer aus diesen Wohnvierteln waren nicht wehrtauglich. Schon vor der Jahrhundertwende begannen Wohnreformprojekte, etwa mit der »Berliner Baugenossenschaft 1892«, die einen Ausweg aus der Misere suchten. An der Malplaquetstraße entstand so die Anlage Karl-Schrader-Haus, der »Vaterländische Bauverein« errichtete das Posadowskihaus. Die Wohnungen hatten Bäder, elektrisches Licht, Balkone, und man achtete bei der Belegung auf soziale Durchmischung. Schließlich war es ein Ziel, »die Klassen zu versöhnen«. Es gab Gemeinschaftseinrichtungen für Geselligkeit, sogar eine Bibliothek. Außerdem wurde eine Unterkunft für ledige Frauen und auch für Männer gebaut. Um 1914/15 baute der »Verein zur Verbesserung des Kleinwohnungswesens« an der Schönstedtstraße nahe dem Amtsgericht ein Ledigenheim.
     Nach 1920 beschäftigten sich berühmte Architekten mit dem Siedlungsbau, im Englischen Viertel an der Müllerstraße und an der Afrikanischen Straße bauten unter anderen Mies van der Rohe, Max Taut und Bruno Taut. Wedding verschrieb sich schnell der Schulreform, die Zahl neuer Schulen und Schulversuche war hier besonders groß. Es entstanden »Sammelschulen« ohne den bislang vorgeschriebenen Religionsunterricht, auch die »Lebensgemeinschaftsschulen« wie zum Beispiel die 308. Schule am Leopoldplatz sind da zu erwähnen.
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Ziel dieser Reformschulen war die Orientierung an den Bedürfnissen des Kindes und der Eltern. Auch das Gesundheitswesen wurde in diesen Jahren mit einer Vielzahl von Aufgaben oft besser als heute fertig. Es gab die Krüppelfürsorge, kosmetische Beratung und regelmäßige Untersuchungen der Kinder. Im »Sozialen Viertel« rund um den Nauener Platz gab es schon seit der Jahrhundertwende das Entbindungsheim der Heilsarmee im Gelände einer ehemaligen Klinik für Haut-Tuberkulose. Dort wurden, allerdings nur beim ersten Kind, ledige Mütter aufgenommen. Auch das Kinderkrankenhaus, das vor allem Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen herauszog, war eine wichtige soziale Einrichtung. Die Lange-Schucke-Stiftung betrieb ein Wohnheim für alleinstehende ältere Frauen namens »Heim für ehrbare evangelische Jungfrauen«. In Wedding gab es auch ein jüdisches Altersheim und das jüdische Krankenhaus, das in der letzten Phase der nazistischen Judenverfolgung zu einer Sammelstelle für die Transporte in die Vernichtungslager mißbraucht wurde. 1906 wurde das Virchow-Krankenhaus eröffnet. In der Nähe entstand mit dem Robert-Koch-Institut, der Hochschulbrauerei und dem Institut für Gärungsgewerke und mit weiteren Instituten ein Wissenschaftsviertel.
     Wedding hat viele schöne alte Parks, den Humboldthain von 1869, den Schillerpark von 1913, die Rehberge von 1929/30.

Der Schering-Konzern in der Müllerstraße im Wedding

Seit den fünfziger Jahren wurde der Panke-Grünzug mit Parks und Wegen ausgebaut. Die Panke ist Weddings Fluss, den bisherigen Stadtbezirk begrenzen zu Wasser außerdem der Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, Nordhafen und Hohenzollernkanal.
     Bekanntlich heißt es »Roter Wedding«. Der Wedding war seit 1878, als Wilhelm Hasenclever das Reichstagsmandat bekam, fast ungebrochen in sozialdemokratischer Hand. Aber hier gab es auch den »Blutmai 1929«, als der sozialdemokratische Polizeipräsident auf demonstrierende Arbeiter schießen ließ. 1929 fand in den Pharus-Sälen der letzte legale Parteitag der KPD statt. Wenig später wurde Wedding von den Nazis überrollt, man ging in Deckung, aber es gab auch Widerstand. Außen braun, innen rot, so hieß ein geflüstertes Weddinger Motto.

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1945 war dann vieles zerstört, auch Schering lag in Trümmern. Am Humboldthain-Flakbunker wurde nach dem Krieg soviel Trümmerschutt aufgetürmt, dass daraus die Humboldthöhe entstand. Die Badstraße wurde damals schnell zu einem Zentrum des Schwarzhandels; nach der Währungsreform hieß sie dann im Volksmund »Sachsendamm«, denn hier kauften die Leute aus dem Osten ein, hier drängten sich Wechselstuben und Grenzkinos. Es war eine Nahtstelle zwischen Ost und West.
     Mit dem Mauerbau wurde Wedding der Bezirk der Sackgassen, es blieb allein die Einkaufsmeile Müllerstraße. Für die Wirtschaftsstruktur im Bezirk war das verheerend, fast alle großen Industriebetriebe verlagerten ihren Standort nach Westdeutschland, nur Schering blieb. Dann kam die Sanierung. Zeitweise wurde die Gegend um die Brunnenstraße zur größten Flächenbaustelle Europas, ein Schaufenster über die Mauer nach Osten. Für die angestammten Mieter lief das aber nicht so glatt, die Alten blieben wohnen, Zwischennutzer bezogen die alten Häuser bis zum Abriß. In den Neubauten stiegen die Mieten, und der Charakter des Viertels veränderte sich total. Inzwischen ist längst Gras über diese Einschnitte gewachsen, neue Strukturen haben sich gebildet. Ende der Siebzigerjahre begann an der Ramler-, Rügener und Graunstraße die behutsame Stadterneuerung.
Was hat sich seit der Maueröffnung im Bezirk verändert?
     Bernd Hildebrandt: Plötzlich war Tiergartens Rand-Mauerdasein zu Ende. Plötzlich hatten wir im Stadtbezirk die größten Baustellen der Bundesrepublik. Die alte, eingefrorene Tunneldiskussion aus den sechziger Jahren kam wieder. Damals hatten sich von Wedding bis Kreuzberg, Moabit eingeschlossen, Bürger vor die Bäume gestellt und engagierte Leute die Bürgerinitiative gegen die Westtangente gegründet, die Basis unserer heutigen aktiven Betroffenenräte. Jetzt haben wir den Tunnel. Durch den neuen Lehrter Bahnhof (der alte Stadtbahnhof, vor 15 Jahren aufwändig saniert, wird abgerissen) wird Moabit seinen Charakter verändern. Früher war die Gegend durch das Militär wohlhabend und verarmte nach dem Krieg. Mit den Regierungsbauten kam im Umfeld eine Aufwertung der Immobilien, der Verdrängungsprozess schreitet voran. Dagegen wehrt sich der Bezirk mit Bestandschutzmaßnahmen. Dennoch leidet etwa der Kieztreff Arminius-Markthalle, eine der letzten alten Markthallen Berlins, wie auch der Kleinhandel durch den Kaufkraftabzug zum Gesundbrunnencenter und zum Potsdamer Platz. Die Stadtbezirke Tiergarten und Mitte (alt) trafen sich in der Diskussion um die Benennung des »Platzes des 18. März« bereits vor der Fusion, wo beide BVVs sich nach langen Kämpfen gegen den Senat durchsetzten. Das schweißt zusammen.
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Zu Westberliner Zeiten entstand rund um die Matthäikirche das Kulturforum, abgelegen an der Potsdamer Straße, nach dem Mauerfall wurde, nun in Zentrumslage, weitergebaut. Auf der Brache Potsdamer Platz entstanden Sony- und Debis-Center.
     Wenn Sie mich fragen, so hätte ich herzliche Sympathie für die Verlegung der Love-Parade nach Irgendwo. Das Grillen im Tiergarten, hauptsächlich türkisch, über das seit Jahrzehnten immer wieder mal gestritten wird, ist völlig harmlos gegenüber dem Schaden, den die Hunderttausenden Raver an unserem Grünbestand anrichten.
     Gabriele Lang: Als bald nach der Öffnung der Bornholmer Brücke alles offen war, fand sich der Wedding wieder »mittenmang«, war kein Randbezirk mehr. Ich selbst habe 1990 plötzlich erstmals bewusst den Fernsehturm gesehen und mit Verblüffung festgestellt, dass das Zentrum ja ganz nah ist. Vielleicht war am Wedding die Euphorie »Das Tor ist auf« am größten. Ein historischer Moment. Dann kam ein Sog zur Mitte hin. Die Müllerstraße wurde zur Durchgangsstraße, da hat es zunächst keine anhaltende Belebung gegeben. Schon seit den Achtzigern wurde das AEG-Gelände revitalisiert, danach die Bebauung an der Brunnenstraße erneuert. An der Voltastraße entstand ein Medienzentrum für Fernsehen und Rundfunk, dort arbeiten beispielsweise Deutsche Welle TV, der Offene Kanal Berlin. Am Gesundbrunnen entsteht erneut ein Verkehrsknotenpunkt, der Nordknoten, der S-Bahn-Ring wird bald wieder geschlossen.
Die sozialen Veränderungen tendieren eher zum Negativen, da viele Weddinger, die es sich leisten können, hinaus ins Grüne ziehen.
     Wilfried Burkard: Das ist, den alten Bezirk Mitte betreffend, eine gute Frage. Man könnte stundenlang über die wichtigsten Veränderungen reden und es fehlte doch immer noch ein wesentlicher Aspekt. Aber bleiben wir beim Offensichtlichen, dem äußerlichen Bild der Stadt. Da war zunächst der Friedrichstraßen-Bauboom vom Check-Point-Charlie (Zimmerstraße) bis zur Weidendammer Brücke. Aber auch an vielen anderen Stellen ist abgerissen, aufgebaut, umgebaut, restauriert worden. Kein Gebiet in der Stadt ist innerhalb des letzten Jahrzehnts derart hektisch und teils auch tiefgreifend umgewandelt worden wie Mitte. Unsere Sammlung von Zeitungsausschnitten der letzten Jahre im Museum platzt aus allen Nähten - teilweise belegten Meldungen aus Mitte den halben Berliner Lokalteil. Diese Umstrukturierung betrifft aber natürlich auch die Einwohnerschaft, von der sich innerhalb weniger Jahre fast die Hälfte ausgetauscht hat. Mitte ist momentan der angesagte Bezirk, alles will hier hin. Entsprechend läuft der Verdrängungsprozess: Die alten Einwohner wandern ab, neue Schichten drängen nach. Andererseits ist Mitte aber eben auch weiterhin der historische Kern, Geschichte findet sich hier buchstäblich »An jeder Ecke« (wie auch eine Ausstellung in unserem Museum hieß).
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Wenn Sie hier aus dem Palais sehen, haben Sie das Zeughaus im Blick, die einstmals Königliche, nachmals Staatsoper Unter den Linden, die traditionsreiche Humboldt-Universität und die Staatsbibliothek gleich nebenan, das 150-jährige Denkmal Friedrichs II., überhaupt das in den fünfziger und sechziger Jahren wiedererstandene Forum Fridericianum. Der Schloßplatz ist in seinem derzeitigen traurigen Zustand natürlich nicht eine angemessene Mitte Berlins. Aber es gibt - glaube ich - ein gewachsenes Interesse an dem Ursprung, der Entwicklung und Geschichte all dieser historischen Substanz hier um uns herum, die ja auch eine Bedeutung für die zukünftige Entwicklung der Stadt haben wird. Daneben entwickelt sich wieder eine quirlige Szene, etwa in der Spandauer Vorstadt, an der Oranienburger Straße und im Mikrokosmos der Straßen rund um den Hackeschen Markt. Das hat menschliches Maß und ist zu einer sehr urbanen Ecke geworden.

Wie geht es mit dem Heimatmuseum im neuen Großbezirk weiter?
     Gabriele Lang: Wir werden uns als einen von drei Standorten des Mitte-Museums zu begreifen haben. Wichtig ist, dass diese drei Standorte sich selbstständig profilieren. Wir haben eine Dauerausstellung zur Alltagsgeschichte, Industriegeschichte und Schulgeschichte, zeigen beispielsweise unser historisches Klassenzimmer und unsere Wohnung mit Küche und Wohnzimmer in der Ausstattung um 1900.

Damit sind wir vor allem für Weddinger Schulklassen interessant. In Sonderausstellungen greifen wir Themen mit aktuellem Bezug auf, über das Kriegsende 1945 war das eine Ausstellung zum Flakbunker Humboldthain, wo wir Kontakte mit ehemaligen Flakhelfern aufgenommen haben und aus ihren Erinnerungen berichteten. Anlässlich des 150. Jahrestages der 48er Revolution haben wir unter dem Titel »Die Rehberger kommen« eine Ausstellung zu den Notstandsarbeitern von 1848 gemacht. Die wurden beim Bau des Spandauer Schiffahrtskanals eingesetzt. Das waren die ersten »ABM-Arbeiter«. Gemeinsam mit der Volkshochschule haben wir die »Zukunftskonferenz Müllerstraße« dokumentiert und die Geschichte dieser Straße dargestellt.
     Bernd Hildebrandt: Das Heimatmuseum Tiergarten ist 1987 zur 750-Jahr-Feier Berlins auf ABM-Basis gegründet worden. Den Grundstock von Sammlung und Archiv bildete die Schenkung eines Heimatvereins. Das Besondere an unserer Arbeit ist die Orientierung an den Erfahrungen und den Erlebnissen der Einwohner. Dazu haben wir 1993 auch unser Projekt Geschichtswerkstatt Tiergarten gegründet. Die Arbeit des Museums wird durch einen eigenen Förderverein unterstützt. Wir veranstalten traditionell einmal im Monat eine Stadtführung. In unserem Kellerkino haben wir bis zum Ende eines ABM-Projekts ein anspruchsvolles Programm für Kinder und Erwachsene auch zur Stadt- und Stadtteilgeschichte angeboten.
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Ich freue mich, dass wir gerade in diesen Tagen unseren »Elch vom Hansaplatz«, der bisher im Museum für Vor- und Frühgeschichte in Charlottenburg zu sehen war, als Dauerleihgabe erhalten. Er war 1956 beim U-Bahn-Bau in neun Meter Tiefe gefunden worden und ist 12 000 Jahre alt. Das drei Meter lange, vorzüglich erhaltene Skelett mit dem 1,60 m breiten Schaufelgeweih erhält einen Ehrenplatz in unserem Museum. Der Elch war 1991 Namensgeber unserer ersten Baustein-Ausstellung über archäologische Funde in Tiergarten. Vorrangig ist für uns die Arbeit an unserer Dauerausstellung zur Stadtteilgeschichte, für die alle unsere folgenden Baustein-Ausstellungen das Material geliefert haben.
     Unser Tiergarten-Archiv besitzt über 10 000 Fotos. Jetzt sind wir gemeinsam dabei, die Archive aller drei Museen zusammenzuführen, um eine bessere Nutzung für die Öffentlichkeit zu schaffen, als es bisher möglich war.
     Wilfried Burkard: Wir heißen Museum Mitte von Berlin, und mit unserem Sitz im Palais am Festungsgraben, wo auch vielfältige politische und kulturelle Veranstaltungen unterschiedlichster Institutionen stattfinden, unterscheiden wir uns natürlich von anderen, eher kiezbezogenen Heimatmuseen. Ein Kiezmuseum im herkömmlichen Sinn kann man an diesem Standort kaum machen - das erwartet unser Publikum wohl auch nicht.

Die neuerbauten Nordischen Botschaften im Tiergarten

Wir werden hier eine Spielstätte des zukünftigen Museums des Gesamtbezirks haben, an der wie auch bisher in wechselnden thematischen Einzelausstellungen sozusagen »historische Nahaufnahmen« geboten werden - einer Straße, eines Platzes, eines Gebäudes. Gerade in Mitte ist durch den Krieg und die Nachkriegszeit soviel zerstört bzw. verändert worden, dass eine derartige Art »visueller Rekonstruktion« nicht nur wichtig für die Frage nach früheren und auch zukünftigen städtischen Strukturen ist, sondern auch auf großes Publikumsinteresse stößt. Man sieht nicht nur, was man weiß - man weiß manchmal auch nur, was man gesehen hat - zum Beispiel im Museum.

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     Daneben werden wir auch weiterhin versuchen, Themen historisch zu bearbeiten, die aktuell von Bedeutung sind - also das Gestern in Bezug zum Heute und Morgen setzen. Das ist eine uns gemäße Form, die bei unserem Besucherumfeld Aufmerksamkeit erregt und den genauen Blick fördert. Einige Beispiele: Als es 1993 mit den Planungen zum neuen Potsdamer Platz losging, haben wir eine Ausstellung zum historischen Platz gemacht. Als die Oranienburger Straße legendär wurde, die wiederhergestellte Neue Synagoge schwer bewacht, der Straßenstrich gleich davor und nebenan die Kunstruine Tacheles, da haben wir eine Ausstellung zur Geschichte dieser Straße gezeigt. So war es auch, als die Kolhoff-Hochhausprojekte zum Alex erschienen: Wir haben dort nebenan im Berolinahaus die Ausstellung »Am Alex« gezeigt, die die Entwicklung dieses Platzes von den Anfängen darstellte. Gerade eben hatten wir zum 150. Geburtstag des Rauchschen Denkmals Friedrichs II. - praktisch vor unserer Tür - eine Ausstellung zu dessen Geschichte. Wir sind kein Kunstmuseum und konnten darum mit einer erstaunlichen Vielfalt von schriftlichen Zeugnissen, Entwürfen auf Papier, Leinwand, dreidimensionalen Modellen und Fotos unterschiedlichster Wertigkeit und aus den verschiedensten Zeiten arbeiten. So erzählen wir die schon mit dem Tod Friedrichs des Zweiten beginnende und also über zweihundert Jahre andauernde verzwickte Historie dieses hochpolitischen Objekts als Spiegel der Geschichte Preußens und Deutschlands.

Was tun Sie, damit Ihr Heimatmuseum mithelfen kann, das Heimatgefühl im Kiez und Stadtviertel auch im neuen Großbezirk zu erhalten?
     Gabriele Lang: Oft geht es auch darum, bei Menschen, die erst seit kurzem hier im Wedding leben, ein neues Heimatgefühl zu befördern. Im Museum finden Deutschkurse der VHS für Eltern statt. Wir haben eine kleine Dokumentation dazu erarbeitet und sind im Internet mit der Homepage www.lernort-deutsch-im-Museum.de erreichbar. Bei uns lernen Eltern verschiedener Nationalität die Zielsprache Deutsch. Wenn ich mich dafür interessiere, wo ich wohne, komme ich fast zwangsläufig auf die Geschichte, und hier im Museum kann ich etwas über die Besonderheiten unseres Kiezes erfahren, warum etwa dieses Haus kleiner ist als jenes und warum gerade hier die Straße krumm ist. Denn Bebauungsgeschichte erleben, das überbrückt auch Fremdheit, egal ob ich hier meine Jugend verbracht habe, Zuwanderer oder Durchwanderer bin. Es geht uns darum, auch Verständnis für Veränderungen zu vermitteln, woher sie kommen und wohin sie führen. Wenn man sich für die Zukunft interessiert, sollte man auch das wissen.

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     Bernd Hildebrandt: Es geht darum, die Anwohner über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unseres Stadtteils Tiergarten zu informieren. Es geht um ein konkretes Dauerangebot zu unserer Lokalgeschichte hier, nur beiläufig um die überregionalen Einflüsse und Standorte, die in der Nähe unserer Wohngebiete angesiedelt sind. Kiezperspektive kann auch eine Welt erklären. Zunächst kamen Anfang des 18. Jahrhunderts einige französische Glaubensflüchtlinge hierher. Sie gaben in Anspielung auf die biblische Flucht der Kinder Israels und ihrer eigenen freundlichen Aufnahme in Preußen, das ihnen Heimat wurde, dieser Ansiedlung den Namen Moabit. Auch die heutigen Einwohner haben ein Interesse, sich mit ihrem Heimatwohnsitz vertraut zu machen, ob sie nun hier geboren oder zugewandert sind. Genau dies ist unser Arbeitsfeld.
     Wilfried Burkard: Wir wenden uns mit unseren Ausstellungsthemen an Bewohner von Mitte, von Groß-Mitte, aber auch an Leute von außen, egal wo sie wohnen. Andererseits machen wir nicht pausenlos Kiezkultur, denn in Mitte gibt es soviel Spannendes, was darüber hinaus reicht. Nehmen Sie nur die Geschichte der berühmt-berüchtigten Kaisergalerie in der Friedrichstraße oder eben die aktuelle Ausstellung zum Denkmal Unter den Linden - das sind Kiez-Themen, aber auch Berliner Themen allgemein und manchmal auch außerhalb Berlins von beträchtlichem Interesse.
Der Stadtbezirksname Mitte steht inzwischen fest. In manchen Bezirken wird ja noch immer gestritten. Gab es hier große Diskussionen?
     Gabriele Lang: Wir heißen jetzt Mitte von Berlin, das ist der Verwaltungsname, und wir sind damit zufrieden.
     Bernd Hildebrandt: Moabit ist nie selbstständig gewesen, wurde schon 1861 nach Berlin eingemeindet, klar, dass wir auch mit der neuen Zusammenlegung keine Probleme haben. Und Mitte von Berlin klingt ja gar nicht so schlecht.
     Wilfried Burkard: Na, wie hätte der Bezirk denn sonst heißen sollen?

Das Gespräch führte Bernd S. Meyer

Bilder: Bernd S. Meyer, LBV Christel

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7-2/2001
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