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John Hendrik:
Mein merkwürdiges Leben

Extent Verlag, Berlin 1999

Über mehrere Jahrzehnte hinweg kam John Hendrik über RIAS Berlin allwöchentlich in die Wohnstuben einer großen Hörergemeinde in West und Ost: als Leiter der Jazzsendung »Club 18«, als Moderator beim »2. Frühstück« und als Sänger. Sein Lied vom rotnasigen Rentier Rudolf ist längst ein »Kultsong« in der Weihnachtszeit. Jetzt hat der hochbetagte Künstler seine Erinnerungen herausgebracht. Er nennt sie »Ein merkwürdiges Leben«, doch der Leser entdeckt viel Typisches, was jenen Künstlern, die die braunen Kulturbarbaren ins Exil trieben, widerfuhr.
     Es war der viel zitierte Zufall, der den in einem jüdischen Elternhaus in Berlin-Tiergarten aufgewachsenen, musikalisch begabten John Hendrik bald nach dem Abitur auf die Bretter half, die ihm fortan die Welt bedeuteten. Mit dem auf Wachsrolle gesungenen Schlager »Warum ist die Banane krumm« fing alles an. Bald schon feierte er am Berliner Theater des Westens und anschließend am Central Theater in Dresden seine ersten Erfolge mit Hauptrollen in Operetten wie »Dreimäderlhaus«, »Land des Lächelns« oder »Csárdásfürstin«.
     Der lyrische Tenor, auf den auch Richard Tauber aufmerksam wurde, stand am Beginn einer großen Karriere. Doch der Machtantritt der Nazis veränderte das Leben John Hendriks radikal. Er nutzte eine Einladung der BBC nach London, um Deutschland im März 1933 zu verlassen. So sehr die nun beginnende jahrelange Trennung von Familie und Freunden schmerzte, es glückte ihm, eine - wie er selbst meint - »reichlich traumhafte Karriere« zu starten: Aufnahmen in der BBC, Auftritte in London und sogar ein Diner mit dem Prinz of Wales. »Ich hatte richtiges Glück in dieser Zeit.«

In der Erwartung, diese Karriere auch jenseits des »großen Teiches« fortsetzen zu können, fuhr John Hendrik mit seiner Frau Mitte der Dreißigerjahre in die USA. Bald nach seiner Ankunft spürte er jedoch, dass hier ein anderer Wind blies. Die Wanderjahre zwischen New York und Hollywood waren eine schwere Zeit. Zwar lernte er viele Größen des Show-Business kennen, doch der Lebensunterhalt musste hart verdient werden. Dabei war ihm kein Job zu schade, wenn er nur ein paar Dollar brachte. Nach dem Eintritt der USA in den Krieg gegen Hitlerdeutschland fand John Hendrik, gerade amerikanischer Staatsbürger geworden, eine feste Anstellung als Radiosprecher beim Office of War Information (OWI), dem Kriegsinformationsdienst des US-Verteidigungsministeriums. Hier blieb er auch nach Kriegsende, als das OWI in »The Voice of America« umgetauft wurde. Auf Einladung der »Amerika-Häuser« unternahm er 1950 eine erfolgreiche Konzerttournee durch Westdeutschland. Sie bedeutete ihm eine innerliche Umkehr: »Eigentlich hatte ich ja geschworen, Deutschland nie wieder zu betreten.« 1957 ging John Hendrik zurück in seine Heimatstadt Berlin zum RIAS, einem Sender der US Information Agency. Hier begann seine zweite künstlerische Karriere, die ihn in Deutschland eigentlich erst bekannt machte. Sein Name ist engstens verbunden mit so erfolgreichen RIAS-Sendereihen wie »Club 18«, »Heute so beliebt wie damals«, »RIAS-Opernstammtisch« und vor allem »2. Frühstück mit John Hendrik«, der ersten Talkshow mit Musik in Deutschland, die jeden Montagmorgen zunächst aus dem »I-Punkt« im Europa-Center, dann aus dem »Bierpinsel« in Friedenau und zuletzt aus dem »Inter-Conti« kam. Auf diesem Lebensabschnitt begegneten John Hendrik über 30 Jahre hinweg nahezu alle Größen der E- und U-Musik, wovon auch der umfangreiche Bildtteil des Buches zeugt.
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Die lange Liste der Künstler, die er damals kennen lernte und mit denen ihn freundschaftliche Beziehungen verbinden, liest sich wie ein »Who's who« des modernen Entertainments: Komponisten, Bandleader, Sänger, Schauspieler, Filmregisseure, Theaterdramaturgen und so fort.
     So wird der Lebensbericht des John Hendrik auch zu einem Gang durch die Kultur-, Musik- und Rundfunkgeschichte Berlins in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Reizende daran ist, dass der Autor den Leser nicht mit Namen und Details überschüttet, sondern von den Stationen seines merkwürdigen Lebens, die er für mitteilenswert hält, in nachdenklich-vergnüglicher Weise erzählt und sie mit vielen Anekdoten anreichert. Es handelt sich also um einen Lebensbericht ohne Schnörkel, aber mit großer Lust geschrieben. Seine Lektüre sei aufs wärmste empfohlen.
     Gerhard Keiderling

 

Ekkehard Schwerk
Die Meisterdiebe von Berlin. Die Gebrüder Sass und die zwanziger Jahre.

Jaron-Verlag, Berlin 2001

Wilhelm Voigt, der zwei Millionen Goldmark erbeuten wollte, hat als »Hauptmann von Köpenick« Denkmal und Gedenktafel erhalten. Das von ihm auf nachdrücklichen Hinweis von interessierter Seite hin aufgebaute Image als armer Pass-Interessent hat mit Carl Zuckmayers Drama von 1931 und dessen Verfilmungen ein nicht mehr ausrottbares Legendenbild des Kriminellen Voigt geschaffen.
     Im Jahre 1984 hatte Ekkehard Schwerk es mit ähnlicher Absicht unternommen, einem Duo eine romantische Erinnerung zu widmen, das mit der Frechheit seiner kriminellen Taten sich als ebenbürtig neben Voigt einordnen lässt: die Brüder Franz (1904-1940) und Erich (1906-1940) Sass.

Das Ergebnis seiner Recherchen legt der Autor nun in erweiterter Fassung vor, und diese enthält tatsächlich die Anregung, den beiden Meistereinbrechern in ihrer Heimat Berlin-Moabit am dort noch vorhandenen Wohnhaus Birkenstraße 37 eine Gedenktafel zu widmen!
     Nun waren die Sass'schen Taten zwar schon 1935 romanhaft verarbeitet worden, und ein Spielfilm der fünfziger Jahre (»Banktresor 713« mit Hardy Krüger) hatte das Sass'sche Meisterstück zum Sujet gehabt. Aber an die literarische Qualität der »Hauptmann«-Legende von Zuckmayer (Untertitel - was immer vergessen wird - »Ein deutsches Märchen«) und an die schauspielerischen Leistungen der filmischen Voigt-Darsteller Max Adalbert (1931), Heinz Rühmann (1956) und Harald Juhnke (2000) reichte das alles bisher nicht in Richtung Publikumsgunst heran. Ob Schwerks Anregung dank der Schauspielkunst von Ben Becker in Carlos Rolas Film »Sass« (2001) größere Chancen zu ihrer Verwirklichung bekommen wird, bleibt momentan noch abzuwarten.
     Zudem erinnert die - zugegeben - spannend zu lesende Untersuchung nur allzu oft an die Abenteuer der Olsenbande. Die penibel planenden und listenreich agierenden Brüder müssen bei ihren kleineren Raubzügen zweifellos Erfolg gehabt haben. Wo kam sonst das Geld für ihre teure Kleidung und die nachgewiesenen Einkäufe von technischem Gerät her? Aber die ganz großen Tresorknacker-Coups, die auf Millionenbeute zielten, gingen ihnen wegen vorzeitiger Aufdeckung alle schief - mit der einen Ausnahme beim wahrhaft spektakulären Einbruch in die Depositen-Bank der Disconto-Gesellschaft am Wittenbergplatz Ende Januar 1929. Der liess auch manchen Berliner schadenfroh lachen. Die unermessliche Beute konnte nie beziffert werden, weil die in den Stahlfächern aufbewahrten Depositen am Finanzamt vorbei geschmuggeltes Vermögen waren und die Geschädigten sich hüteten, exakte Angaben über das Verschwundene zu machen.
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Aber 95 Prozent der anzunehmenden »Sore« tauchten nie wieder auf, denn deren »Verscherbeln« war viel zu gefährlich, und nach Kopenhagen - wo die Brüder sich 1933 einfanden, nur, um bei neuerlichen akribisch geplanten und exakt vorbereiteten riskanten Aktionen im großen Stil dort der Polizei ins Netz zu gehen - konnte sie ohnehin nicht mitgenommen werden.
     Die Sympathie des Autors liegt etwas unmotiviert bei den beiden ewig arbeitslosen Berlinern mit krimineller Jugendkarriere, die ohne Skrupel nur ihr Stück vom großen Gewinn-Kuchen der »goldenen« zwanziger Jahre wollten, aber nie jemandem etwas zu Leide taten. Stellt man in Betracht, dass in der Zeit, in der das Verbrecherpaar auf Raubzüge ging, viele Zehn-, ja sogar Hunderttausende nicht-krimineller Berliner ihr Leben knapp am Rande des Existenzminimums fristeten, dann hält sich die Sympathie des Lesers mit den Sass-Brüdern in Grenzen. Zumal man sich fragen sollte, welchen Gesellschaftskreisen wohl jene »Wintergarten«-Besucher zugehörig waren, die die Brüder nach ihrem großen Coup beim Auftauchen in dem bekannten Varieté mit Applaus bedachten und seither als Kronzeugen dafür fungieren, dass »ganz Berlin« den Namen Sass mit Hochachtung ausgesprochen habe.
     Sympathie mit dem Ganovenduo stellt sich erst bei dessen Ende ein, denn das Paar muss wirklich auch unter die Opfer des Faschismus eingereiht werden. Von Dänemark 1938 an die NS-Justiz ausgeliefert, wurden beide am 27. Januar 1940 von einer Moabiter Strafkammer zu langen Zuchthausstrafen verurteilt, aber entgegen diesem Urteil exakt zwei Monate später auf Hitlers Anordnung hin ins KZ Sachsenhausen geschafft und nach Verlesen eines »Erschießungsbefehls« dort exekutiert. Die frech publizierte Lüge, sie seien »bei Widerstand« erschossen worden, geistert bei alten Berlinern noch in der Form umher, die Brüder Sass seien »auf der Flucht erschossen« worden.
     Kurt Wernicke
Joachim Hoffmann
Berlin-Friedrichsfelde.
Ein deutscher Nationalfriedhof. Kulturhistorischer Reiseführer.

Das Neue Berlin, Berlin 2001

Seit einem Dreivierteljahrhundert - unterbrochen nur 1934 bis 1945 - strömen Berliner, die sich der politischen Linken zurechnen, jeweils an einem Sonntag in der Mitte des Januar zum Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde, um dort ruhende führende Repräsentanten und hingemordete Märtyrer ihrer Bewegung mit Kranz- und Blumenspenden zu ehren. So sorgten sie dafür, dass das Andenken an die Geehrten ebenso erhalten bleibt wie der Abscheu gegenüber den Mördern und den hinter diesen nur notdürftig verborgenen Verantwortlichen. Durch diese traditionellen Demonstrationen wird das Augenmerk immer wieder vordringlich auf den Charakter des Friedhofs als Begräbnisstätte prominenter Persönlichkeiten der sozialistischen Linken gelenkt. Eine 1982 in der DDR erschienene SED-amtliche Publikation von Heinz Voßke zu dem Friedhof beschränkte sich dann auch ganz auf diesen Aspekt. Joachim Hoffmann (geb. 1922), der sich seit dem Ausgang der Achtzigerjahre mit dem Friedhof beschäftigte und bereits vor fünf Jahren eine erste Übersicht zu diesem publizierte, nähert sich dem Ort seines Interesses dagegen unter dem Gesichtspunkt von dessen Gesamtgeschichte und seiner Bedeutung als deutschem Nationalfriedhof (so dann auch die Unterzeile des Buchtitels).
     Der Autor legt demnach die Geschichte des 1881 als Berliner Armenfriedhof eröffneten Begräbnisareals vor.

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Nachdem Berlin 1877 Millionenstadt geworden war, konnten Magistrat und Konsistorium angesichts der schon vorhandenen und der weiterhin erwarteten Masse an Einwohnern leicht absehen, dass mit den bestehenden Begräbnisarealen künftig nicht mehr auszukommen wäre. Neue größere Friedhöfe waren zu erschließen.
     Der Trend zu großen und ausbaufähigen Friedhöfen in erheblicher Entfernung von der Stadt begann mit dem 1881 eröffneten Berliner magistratseigenen Friedhof in Friedrichsfelde. Ihm folgten 1892 der Südwest-Friedhof des Stadtsynodalverbandes in Stahnsdorf und 1908 dessen Ost-Friedhof in Ahrensfelde. Die relativ bzw. tatsächlich weite Entfernung von der Stadt schreckte seit der Einführung des einheitlichen Tarifs für den Vorortverkehr (1891) nicht mehr: Alle drei großen Friedhofsareale waren bequem mit den Vorortlinien der Bahn zu erreichen. Der Zentralfriedhof Friedrichsfelde erhielt zudem schon im Jahr seiner Eröffnung einen eigenen Haltepunkt der Ostbahn mit Namen »Friedhof Friedrichsfelde« (später »Lichtenberg-Friedrichsfelde/ Zentralfriedhof« - die Wiege des heutigen Fern- und S-Bahnhofs »Berlin-Lichtenberg«).
     Durch seine von begnadeten Gartenarchitekten nach dem Muster des Hauptfriedhofs Ohlsdorf bei Hamburg (in Betrieb genommen 1877) geschaffene parkähnliche Anlage wurde Friedrichsfelde bald auch von bemittelten Berliner Familien als Friedhof entdeckt, auf dem zur Freude des Stadtkämmerers die »Zahlstellen« der Begüterten den »Freistellen« der Stadtarmen die Waage zu halten begannen und schließlich 1912 der Armenfriedhof ganz nach Marzahn verlegt werden konnte. Persönlichkeiten des Berliner öffentlichen Lebens wie Oberbürgermeister, Stadträte, Unternehmer, Schriftsteller, selbst Bankiers bestimmten den Friedhof zu ihrer bzw. ihrer Familie letzten Ruhestätte.
Zum Wallfahrtsort der Berliner proletarischen Linken wurde er jedoch erst seit der Beisetzung Wilhelm Liebknechts im August 1900 und den dieser in den Jahren bis 1933 dort im Kreis I folgenden Bestattungen weiterer prominenter Sozialdemokraten und Gewerkschafter der ersten Reihe. Das verschaffte diesem Ort im spottsüchtigen Berlin den gutmütig gemeinten Spitznamen »Feldherrnhügel«.
     Friedhof der Revolutionsopfer und der von Freikorps, paramilitärischen Banditen und schießwütiger Polizei gemordeten Anhänger der Linken wurde er dann ab Januar 1919, als die Behörden der aus der Novemberrevolution hervorgegangenen Republik die Beisetzung von Opfern der Januarkämpfe auf dem Friedhof der Märzgefallenen von 1848 im Friedrichshain verweigerten. Aus dem für die republikamtlich als »Aufrührer« Bezeichneten - an ihrer Spitze der angeblich »auf der Flucht erschossene«, tatsächlich mit Billigung allerhöchster sozialdemokratischer Politiker kaltblütig ermordete Karl Liebknecht - zugewiesenen Beisetzungsort in Feld 64 ging dann nach einem KPD-Beschluss von 1924 im Jahre 1926 das dort angesiedelte Revolutionsmonument von Mies van der Rohe hervor, das 1935 von den Nazis abgerissen wurde. Mit seiner genau recherchierten Nachzeichnung der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Monuments zerstört Hoffmann ganz nebenbei noch manche lange kolportierte KPD- und SED-Legende: Keineswegs wurde Mies van der Rohe von der KPD für den Entwurf »gewonnen«, sondern der damals wenig bekannte Architekt regte sich über den ihm per Zufall vor Augen geratenen Denkmalentwurf im gewohnten wilhelminischen Stil des »pompe funèbre« dermaßen auf, dass er dem Mäzen der Denkmalserrichtung einen Gegenentwurf auf den Tisch legte, und der war so davon beeindruckt, dass er mit der Kraft seiner Rolle als Finanzier dessen Annahme durchsetzte.
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Auch trat Thälmann ganze zweimal vor dem Monument als Redner auf - möglicherweise war ihm im Zuge der Stalinisierung der KPD eine Solidarisierung mit der dort bestatteten Rosa Luxemburg doch allzu gewagt.
     Mit überzeugender Folgerichtigkeit war das 1935 zerstörte Revolutionsmonument 1946 bei der ersten januarlichen Gedenkfeier nach dem Ende des »Dritten Reichs« in einer provisorischen Nachbildung wieder vorhanden, und der seit 1926 traditionelle Redner Wilhelm Pieck ließ es sich nicht nehmen, wieder die Gedenkrede zu halten. In ihr war anstelle der bis 1933 zu ehrenden rund tausend Opfer nun vorrangig zehntausender im antifaschistischen Widerstand Gefallener zu gedenken. Wilhelm Pieck war dann auch der Initiator eines schließlich 1948 von einer Kommission des Magistrats plus Vertretern von SPD und SED getragenen Projekts zur Schaffung einer Gesamt-Gedenkstätte für Sozialistenführer, Revolutionsopfer und Opfer des Faschismus durch Zusammenführung von »Feldherrnhügel« und den Grabstätten am Revolutionsdenkmal. Die 1948 vollzogene Spaltung Berlins verhinderte dessen Realisierung zunächst, aber die 1951 dann eingeweihte »Gedenkstätte der Sozialisten« hatte dank Piecks persönlichem Engagement die wichtigsten Grundgedanken von 1948 aufgenommen und berücksichtigt.
     Mit dem seither unmittelbar hinter der Gedenkstätte entstandenen Urnenfeld am Pergolenweg und dem weiter ab gelegenen besonderen Gräberfeld für in Berlin verstorbene Verfolgte des Naziregimes ist der Zentralfriedhof seither zu der bedeutendsten Berliner Begräbnisstätte von antifaschistischen Widerstandskämpfern geworden. Nur ein ganz kleiner Teil von diesen wird vom Autor auch biografisch vorgestellt, u. a. auch solche dort ruhenden Aktivisten der Arbeiterbewegung, die nicht nur Verfolgung durch den Nazismus, sondern auch durch den Stalinismus erlebten.
Nach 1990 im damaligen Zeitgeist von haßschäumenden Fundamentalisten gepredigte und z. T. mit amtlicher Weihe in die Öffentlichkeit gestreute Wutausbrüche über den »kommunistischen Wallfahrtsort« und dessen nötigen Abbruch (welch schöne Parallele zu 1935!) konnten von der Berliner Vereinigung ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener (BVVdN) abgewehrt werden, wobei auch die Stimmen besonnener Sozialdemokraten Gewicht erlangten. So kann sich Berlin auch heute noch und zukünftig in Gestalt des Zentralfriedhofs Berlin-Friedrichsfelde einer historischen Gedenkstätte zur Arbeiterbewegung und zum Antifaschismus rühmen, wie sie in dieser Dichte ihresgleichen in Deutschland sucht.
     Leider wimmelt die schöne und dank mehrerer beigefügter thematischer Grablisten auch übersichtliche Publikation von Satzfehlern, die selbst von der zweiseitigen (!) Errata-Beilage bei weitem nicht alle erfaßt sind.
     Kurt Wernicke
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Berliner Ur- und Frühgeschichte neu dargebracht

Am 20. Mai hat die Stiftung Stadtmuseum Berlin im Märkischen Museum die dort für einige Zeit fehlende Abteilung regionaler Ur- und Frühgeschichte wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wer an den im Februar 1990 eröffneten Museumsabschnitt denkt, mit dem damals eine neue museale Dauerausstellung zur Berliner Kulturgeschichte eingeleitet wurde, wird mit hoher Befriedigung feststellen können, dass die neue Ausstellung auch eine neue Qualität repräsentiert. Im Gegensatz zu anderen musealen Einrichtungen Berlins (über deren jahrelange Diskussionen hinsichtlich schlüssiger Konzeptionen für die Zusammenführung der durch Zweiten Welt- wie Kalten Krieg getrennten Bestände hier nicht geurteilt und schon gar nicht gerichtet werden soll ...) hat die Stiftung Stadtmuseum ohne viel Aufhebens pragmatisch daran gearbeitet, aus der unnormalen Situation im Gefolge der deutschen Teilung entstandene Rechtslagen einer Korrektur zuzuführen. Sie hat beharrlich und erfolgreich darauf bestanden, dass die einst im Märkischen Museum deponierten Sammlungsgüter aus archäologischen Funden, die der Region Berlin-Brandenburg entstammen, ungeachtet ihrer während der Existenz zweier Berlins vorgenommenen Zuordnung wieder dorthin zurückkehren, von wo sie bei der Verlagerungsaktion 1947/48 zum Schutz gegen drohende Verluste durch Wasser- und Klimaschäden im arg von Bomben mitgenommenen Museumsgebäude am Köllnischen Park ihren Ausgang genommen hatten: in das Märkische Museum! Dem waren durch diese Verlagerung in das Museum für Vor- und Frühgeschichte in dessen damaligen Standort Dahlem praktisch alle Altbestände der Prähistorischen Sammlung, die das Museum seit seiner Gründung begleitet hatte, abhanden gekommen -

was allerdings durch die Ergebnisse einer engagierten Grabungstätigkeit seitens hoch motivierter Archäologen im Ostberliner Gebiet seit den fünfziger Jahren recht erfolgreich aufgewogen wurde und zu einem reichen Bestand an Exponaten aus Neufunden führte. In West-Berlin waren die Altbestände des Märkischen Museums vom Senat in gesetzgeberischer Fortführung der Regelung von 1947/48 treuhänderisch dem Museum für Vor- und Frühgeschichte (seit 1957 eine der Einrichtungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) zugeschlagen worden, und in Konsequenz dieser Entscheidung waren dann 1963 per Beschluss des Abgeordnetenhauses auch die in West-Berlin ergrabenen Neufunde unentgeltlich als Eigentum in die Depots bzw. Ausstellungsvitrinen des Museums für Vor- und Frühgeschichte (nun im Langhans-Bau des Charlottenburger Schlosses) gelangt. Unabhängig vom Aufbewahrungsort der archäologischen Stücke und der rechtlichen Konstruktion eines vom Gesetzgeber initiierten Verzichts auf Landeseigentum an Bodenfunden zugunsten einer Stiftung (»Preußischer Kulturbesitz«), zu deren Kosten das Land Berlin kaum etwas beitragen musste, blieb das - allerdings nur den kleinen Kreis von Fachleuten involvierende - moralische Problem, dass damit aus der traditionellen deutschen Gesetzgebung hinsichtlich des Eigentums an Bodenfunden, die auch in BRD wie DDR in legislatorische Akte gegossen worden war, bewusst ausgebrochen wurde. Die Ursache für den ungewöhnlichen Schritt lag für den Kenner allerdings auf der Hand: Im Vorfeld der in Konsequenz des Mauerbaus beabsichtigten Gründung eines Berlin-Museums für Stadtgeschichte im wieder aufzubauenden Kollegienhaus in der Kreuzberger Lindenstraße wurde aus räumlichen Gründen konzeptionell auf eine dort anzusiedelnde Darstellung der Prähistorie der Berliner Region verzichtet. Und wo eine pragmatische zwingende Notwendigkeit vorhanden ist, stellt sich bekanntlich auch bald eine wasserdicht scheinende theoretische Begründung ein.
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Berlin (konkret: West-Berlin) hatte ja - so konnte man argumentieren - mit dem Museum für Vor- und Frühgeschichte einen passenden Ort auch für die Darstellung seiner eigenen an archäologischen Exponaten festzumachenden Vergangenheit. Bei solcher Beweisführung blieb allerdings die simple Logik der gesunden Vernunft auf der Strecke, dass Stadtgeschichte nach allgemeinem Verständnis dort beginnt, wo ihre Anfänge festzustellen sind.
     Die Stiftung Stadtmuseum hat die mit der Wiedervereinigung Berlins in dieser Gesamtproblematik noch deutlicher sich ausprägende Bedenklichkeit aufgegriffen und bereits im Zusammenhang mit der Diskussion um ihre Gründung und ihr Statut argumentativ an den der Vernunft entsprechenden einheitlichen Besitzstand angeknüpft. Sie kann den Erfolg ihrer Überzeugungsarbeit nunmehr in der neuen Ausstellung präsentieren. Jetzt ist dort sowohl - wieder - der auf das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zurückgehende Fund aus dem berühmten bronzezeitlichen »Königsgrab« im Grabhügel von Seddin in der Prignitz wie - erstmals - der der Völkerwanderungszeit entstammende germanische Grabfund von Berlin-Britz zu sehen, der 1951 geborgen wurde. Erstmals in der mehr als 125-jährigen Geschichte des Märkischen Museums sind nun in der neuen Exposition z. B. alle spektakulären bronzezeitlichen Fundstücke versammelt, die im weiteren Berliner Raum sich der Boden hat bislang entreißen lassen!
     Ein eigener Abschnitt der Ausstellung würdigt das seit der Gründung des Märkischen Museums dieses stets begleitende Forschungsfeld Archäologie und dessen herausragende Köpfe: Rudolf Virchow (1821-1902), Ernst Friedel (1837-1918), Albert Kiekebusch (1870-1935) und Otto-Friedrich Gandert (1898-1983). Wie es einer Gesellschaft ohne Personenkult ansteht, ist der bis dato letzte in dieser Reihe von Persönlichkeiten, die sich um den archäologischen Bereich im Märkischen Museum hoch verdient gemacht haben, als Lebender ausgespart -
aber der Direktor der Stiftung Stadtmuseum, Prof. Güntzer, hat in seiner Eröffnungsrede dankenswerter Weise darauf hingewiesen, dass die ganze Ausstellung eigentlich auch eine Ehrung für deren Inspirator und wissenschaftlichen Leiter darstellen soll, nämlich für Heinz Seyer. Er ist in wechselnden Funktionen seit 35 Jahren im Märkischen Museum für dessen archäologische Bestände und Forschungen zuständig, leitete bis 1994 - als die Verantwortung für Grabungen in Berlin auf das Landesamt für Denkmalpflege, Referat Archäologie, überging - als verantwortlicher Ostberliner Bodendenkmalpfleger auch die archäologische Feldforschung und konnte sich durch seine Leistungen und zahllosen Publikationen hohe internationale Reputation erwerben. Er ist in diesem Jahr nach Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand getreten!
     Heinz Seyer wird allerdings ganz offensichtlich auch als Rentner Rat und Tat auf dem Gebiet der Stadtarchäologie nicht verweigern und sein Interesse an seinem Fachgebiet nicht beiseite legen: Bei der Presseführung durch die Ausstellung gab er auf eine skeptische Frage bezüglich einer möglichen Antwort der Archäologen auf die nach wie vor ungelöste Frage, warum an den Flussmündungen in Köpenick und Spandau slawische Burgwälle existierten und gegenüber Stralau an der Kratzbruch-Enge ein slawischer Posten ausgemacht wurde, aber an der zur Anlage von Berlin und Cölln führenden Spree-Furt kein slawischer Sicherungsort nachzuweisen sei - Berlin und Cölln demzufolge nach landläufiger Auffassung auf jungfräulichem Boden gegründet sein müssen - statt einer Antwort seiner sicheren Hoffnung Ausdruck, dass nach dem erstmaligen Auffinden frühslawischer Keramik im Nikolaiviertel (an der Poststraße) er es auch noch erleben werde, dass im Umfeld beiderseits des Mühlendamms auch spätslawische Funde aus der Zeit unmittelbar vor der deutschen Erstansiedlung ans Licht kämen!
     Kurt Wernicke
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7-2/2001
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