51 Probleme/Projekte/Prozesse | Spandauer Zitadelle zur NS-Zeit |
Gebhard Schultz
Militärisches Sperrgebiet Die Zitadelle Spandau im Nationalsozialismus Fast in der Mitte des Bezirks Spandau, am Zusammenfluss von Havel und Spree, liegt die im wesentlichen im 16. Jahrhundert entstandene Zitadelle Spandau. Die einzig erhaltene Renaissance-Festung in Nordeuropa ist heute vor allem ein Ort für kulturelle Aktivitäten. Hier befindet sich u. a. das Stadtgeschichtliche Museum des Bezirks Spandau.1)
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Im Rahmen des Gasschutzes und der Kampfstoffentwicklung der Wehrmacht erfüllten die HGL eine Teilfunktion: Während die in Charlottenburg ansässige Gasschutzabteilung des Heereswaffenamtes (Amtskürzel: »Wa Prüf 9«) die theoretischen Vorgaben lieferte, fand auf der Zitadelle Spandau die labortechnische Erprobung statt. Für Feldversuche war die Heeresversuchsstelle Raubkammer (Munsterlager) in der Lüneburger Heide zuständig, die ebenfalls der »Wa Prüf 9« unterstellt war.
Geheimhaltung Die HGL arbeiteten unter strengster Geheimhaltung. Die Beschäftigten waren zur Verschwiegenheit verpflichtet und durften nur über ihren eigenen Arbeitsbereich Bescheid wissen. Ein ehemaliger Chemotechniker der HGL erinnert sich z. B. an ein Code-System zur Bezeichnung der auf der Zitadelle verwendeten chemischen Kampfstoffe:4)
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Tierversuche
Eine wesentliche Aufgabe der Spandauer Laboratorien bestand darin, chemische Kampfstoffe im Tierversuch zu testen. Zuständig für sämtliche Tierversuche auf der Zitadelle waren die im »Haus 15 a« untergebrachten Mitarbeiter des Toxikologischen Instituts (Abteilung »VII L«). Das Gebäude auf der Bastion Brandenburg wurde Ende der dreißiger Jahre errichtet und ist noch heute erhalten.
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Da der Wert jeweils für verschiedene Tierarten ermittelt werden musste, gehörten derartige Zeitmessungen für die beteiligten Laborbeschäftigten zum Arbeitsalltag.
Auf der Zitadelle wurden auch Experimente mit Pferden unternommen, um verbesserte Gasmasken für diese Tiere zu entwickeln. Hierüber berichtet ein ehemaliger Feinmechaniker der HGL: »Die Pferde trugen speziell für sie angefertigte Gasmasken und waren an ein Drehgestell geschirrt, an dem sie im Kreis gehen mußten. Damit die Tiere in Bewegung blieben, haben wir sie an Leinen geführt. Wir trugen bei dieser Tätigkeit Gasmasken und gummierte Schutzanzüge. Welche Art von Giftstoff dabei verwendet wurde, ist mir nicht bekannt. Die zeitliche Dauer dieser Versuche war verschieden und wurde jeweils von der Laboratoriumsleitung angeordnet. Die Tiere kamen bei den Versuchen nicht zu Schaden, sie wurden versorgt und anschließend abgeholt. Über den weiteren Verbleib der Tiere ist mir nichts bekannt geworden.«6) Des weiteren wurde auf der Zitadelle an Affen, Hühnern, Hunden, Kaninchen, Katzen, Mäusen, Meerschweinchen, Ratten, Schafen, Schweinen, Ziegen sowie Insekten experimentiert. Ein ehemaliger Pförtner erinnerte sich, dass etwa einmal im Monat ein Tierhändler erschien, der die bestellten Tiere lieferte. |
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Menschenversuche
Die Tätigkeit des Toxikologischen Instituts der HGL beschränkte sich jedoch nicht auf Tierexperimente. Ebenfalls auf der Bastion Brandenburg, im »Haus 15«, waren die für Humanexperimente verantwortlichen Mitarbeiter der »Abteilung VII L« untergebracht. Auch dieses Gebäude war Ende der Dreißigerjahre errichtet worden; es wurde in der Nachkriegszeit abgerissen.
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mit 50,- bis 100,- Reichsmark honoriert wurden. Normalerweise zeigten sich an den betroffenen Hautstellen Bläschen, die bei der Nachuntersuchung geöffnet wurden. Die entnommene Flüssigkeit wurde analysiert und erwies sich allgemein als ungiftig. Offenbar zielten solche Versuche darauf hin, zu ermitteln, welche Menge eines chemischen Kampfstoffes vom menschlichen Körper abgebaut werden könnte. (...)
Die Prüfung von Schutzanzügen fand in den Gasräumen ... statt. Es wurde die Durchlässigkeit bzw. die Undurchlässigkeit des verwendeten Materials geprüft. Die Versuchspersonen begaben sich, bekleidet mit Schutzanzügen, in die mit Kampfstoff angefüllten Räume, wobei sie mit Atemschutzmasken versehen waren. (...) Nachdem Kampfstoffe über den Boden gesprüht (als Flüssigkeit) oder gestreut (als Pulver) waren, krochen Testpersonen über das verseuchte Gelände. Eine andere Methode bestand in der Erprobung der Giftwirkung insgesamt auf den menschlichen Organismus. In die bereits bezeichneten Versuchsräume ... wurden Kampfstoffe eingeleitet. Versuchspersonen betraten diese Räume - je nach körperlicher Konstitution - kurz- oder längerfristig. Die Stoffe bewirkten in der Regel Atemnot, Erbrechen und Übelkeit, schmerzhafte Reizung der Schleimhäute und der Augen.«7) |
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Einer der erwähnten Versuchsräume wurde nach dem Kriege lediglich technisch demontiert und ist noch heute in den »Italienischen Höfen« unterhalb der Bastion Brandenburg zu besichtigen.
In der Aussage eines früheren Feinmechanikers heißt es: »Es ist vorgekommen, daß ich und auch andere Mitarbeiter bei der Arbeit eine Schutzkleidung tragen mußten. Ich erinnere mich, daß es Lost-Schutzkleidung war, die für die Verwendung bei der Wehrmacht vorgesehen war und von uns probegetragen werden mußte. Das Probetragen erstreckte sich über den gesamten Arbeitstag. Ich nehme an, daß es sich dabei um einen Hautverträglichkeitstest handelte. Mit dieser Schutzkleidung bin ich keiner Giftstoffeinwirkung ausgesetzt worden.«8) Nach Berichten von Zeitzeugen wurden ab etwa 1943 auch Soldaten einer Genesungskompanie zu Menschenversuchen herangezogen. Nähere Informationen liegen bislang nicht vor; insbesondere ist nicht bekannt, ob die Versuchsteilnehmer angemessen informiert wurden und ob die Teilnahme freiwillig war. Unabhängig voneinander berichteten mehrere Zeitzeugen, das HGL-Personal hätte gelegentlich ohne nähere Begründung für einige Tage arbeitsfrei gehabt. Von dieser Anordnung seien die meisten Beschäftigten betroffen gewesen, nicht jedoch die leitenden Wissenschaftler. |
Im Kollegenkreis habe es Gerüchte gegeben, dass an diesen Tagen Häftlinge zu Versuchen in die HGL gebracht wurden. Geschlossene Wagen sollen in die Zitadelle gefahren sein.
Die Beweislage ist schwierig: Schriftliche Unterlagen sind nicht erhalten; umfangreiche Aktenbestände wurden kurz vor Kriegsende vernichtet. Keiner der befragten Zeitzeugen hat die Experimente persönlich beobachtet oder die Transportwagen selbst gesehen. Dass es die arbeitsfreien Tage in der beschriebenen Form gab, kann aufgrund der vorliegenden Aussagen als gesicherte Erkenntnis gelten. Die Vermutung, dass diese Arbeitsbefreiung die Funktion hatte, etwas vor den Augen des Personals zu verbergen, ist zumindest plausibel. In seinem 1997 veröffentlichten Buch »Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer« beschäftigt sich Ernst Klee mit den HGL und insbesondere mit den »Gas-Versuchskammern« auf der Zitadelle Spandau. Er verweist in diesem Kontext auf eine Aussage des ehemaligen Rechtspflegers Walter Strelow, der von 1936 bis 1945 für die Anstalten Tegel und Plötzensee zuständig war:9) »Aus meiner ... Tätigkeit bei dem Strafgefängnis Plötzensee ist mir ... bekannt, daß an zu Tode Verurteilten, die hingerichtet werden sollten, Versuche mit Giftgasen vorgenommen wurden. (...) Meiner Erinnerung nach begannen diese Versuche bald nach Beginn des Krieges.« |
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Versuche an Häftlingen
Strelow erinnert sich an den konkreten Fall eines zum Tode verurteilten Gefangenen: »Der Verurteilte war eines Tages zum Direktor der Anstalt gerufen worden, der ihm bekannt gab, daß sein Gnadengesuch abgelehnt war und daß seine Hinrichtung in Kürze erfolge. Man gab ihm aber eine Chance zur Freiheit, wenn er sich einem Versuch unterwerfe, der nicht unbedingt tödlich verlaufe. Falls er am Leben bliebe, würde er frei sein, falls er aber mit diesem Experiment nicht einverstanden sei, müsse seine Hinrichtung erfolgen. Dieses Verfahren, das, soweit ich erfahren konnte, nur mit Kriminellen, also nicht mit Politischen, vorgenommen wurde, wiederholte sich auch in den späteren Fällen. Die Verurteilten, die mit dem Versuch einverstanden waren, wurden dann in Begleitung des in Plötzensee tätig gewesenen 1. Hauptwachtmeisters Iffländer fortgebracht, der dann am folgenden Tage, manchmal auch mehrere Tage später wieder in der Anstalt auftauchte. In einem Fall kehrte Iffländer erst viele Tage später wieder und zwar mit einem entzündeten Hals. Seine intimsten Freunde hatten von ihm erfahren, daß auch er aus Versehen etwas von dem Gas geschluckt habe.«
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Spandauer Laboratorien involviert waren; das Dokument enthält hierfür jedoch keinen konkreten Beleg.
Dass in den Konzentrationslagern Natzweiler, Neuengamme und Sachsenhausen Häftlinge zur Teilnahme an Menschenversuchen mit chemischen Kampfstoffen gezwungen wurden, ist seit dem Nürnberger Ärzteprozess 1947 dokumentiert. Die Brutalität dieser Experimente entzieht sich jeder Beschreibung. In der Regel wurden die Versuche unter Leitung der SS durchgeführt. Teilweise beteiligten sich jedoch auch externe Forschungseinrichtungen. Ehemalige HGL-Mitarbeiter haben nicht nur die Beteiligung an KZ-Experimenten, sondern selbst das Wissen über derartige Versuche vehement bestritten. Trotz der schwierigen Quellenlage steht fest, dass auf den Tagungen der Militärärztlichen Akademie in Berlin, an denen auch HGL-Wissenschaftler teilnahmen, über KZ-Versuche referiert wurde. Darüber hinaus ist nachweisbar, dass ein leitender Wissenschaftler der Spandauer Laboratorien Ende 1939 in das KZ Sachsenhausen fuhr, um Lostexperimente an KZ-Häftlingen zu beobachten.11) Test von Nervenkampfstoffen Die C-Waffen-Forschung im In- und Ausland verfolgte nach dem Ersten Weltkrieg insbesondere das Ziel, die chemische Kriegführung auch in komplizierteren (mobileren) Konstellationen zu ermöglichen. |
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Die Entwicklung der Nervenkampfstoffe im nationalsozialistischen Deutschland stellte in dieser Hinsicht einen wesentlichen Modernisierungsschritt dar: Diese Kampfstoffe waren erheblich toxischer, sie wirkten schneller und konnten mit den herkömmlichen Mitteln der technischen Detektion nicht rechtzeitig erkannt werden. Auch bei einer tödlichen Konzentration waren sie nahezu geruchlos.
Entstanden sind die Nervenkampfstoffe in einem arbeitsteiligen Forschungs- und Entwicklungsprozess, an dem insbesondere die IG Farben und das Heereswaffenamt beteiligt waren. Der IG-Farben-Chemiker Dr. Gerhard Schrader entdeckte 1936 in Leverkusen und 1938 in Wuppertal-Elberfeld zwei hochtoxische Phosphorsäureverbindungen. Beide Substanzen wurden von der Gasschutzabteilung des Heereswaffenamtes zu militärisch einsatzfähigen Kampfstoffen weiterentwickelt. So wurde Tabun zum ersten Nervenkampfstoff der Geschichte. Der noch weitaus toxischere Kampfstoff Sarin verdankt seine Bezeichnung den Namen der Hauptverantwortlichen Schrader und Ambros (IG Farben) sowie Rüdiger und Linde (Heereswaffenamt). Diesen Nervenkampfstoff verwendete die Aum-Sekte 1995 bei ihren Giftgasanschlägen in Tokio. An der Erprobung und Weiterentwicklung von Tabun und Sarin waren die HGL auf der Zitadelle Spandau wesentlich beteiligt. |
So wurde im »Institut für Kampfstoff-Analyse« mit beiden Kampfstoffen experimentiert. Untergebracht war diese Abteilung in dem in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre errichteten »Haus 4«, das noch heute erhalten ist. Darüber hinaus wurde die Wirkung der neu entdeckten Substanzen im Tierversuch getestet. Nach Aussagen von Zeitzeugen wurden hierzu Affen, Hunde, Katzen, Kaninchen, Meerschweinchen, Pferde, Schafe, Ziegen sowie Fliegen herangezogen.
Auch Fertigungsmethoden für Tabun und Sarin wurden auf der Zitadelle entwickelt. Im historischen Zeughaus sowie im südlichen Teil des »Hauses 8« konstruierten Fachleute »halbtechnische« Produktionsanlagen. Die in den Versuchsanlagen hergestellten Kampfstoffe wurden in den Laboratorien auf der Zitadelle untersucht und anschließend zur Heeresversuchsstelle Munsterlager abtransportiert. Die Erforschung der hochgiftigen chemischen Substanzen war für die Beschäftigten mit erheblichen Gefahren verbunden. So kam es in den HGL zu schwerwiegenden Unfällen. Ein ehemaliger Chemotechniker berichtet über einen »Betriebsschlosser, der eine Reparatur an einer Rohrleitung durchführen sollte: »Er war geschützt durch Gummikapuze, Gummianzug, Gummistiefelund Gummihandschuhe, mit einer Gasmaske mit Schutzfilter. Er mußte unter der Anlage arbeiten und dabei einen Verschluß lösen. |
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In dem Verschluß befand sich aber noch reines Tabun. Dieses tropfte beim Lösen des Stopfens direkt auf den Maskenfilter (direkt auf die Öffnung). Es wurde versucht, eine Dekontamination mit verdünnter Natronlauge durchzuführen (Abspritzen); der Mann verstarb innerhalb weniger Minuten.«12)
Auf schmalem Grad Chemische Kampfstoffe wurden im Zweiten Weltkrieg nicht eingesetzt. Für die in der ersten Phase von Deutschland verfolgte Blitzkriegsstrategie war die chemische Waffe denkbar ungeeignet, weil sie den Vormarsch der eigenen Truppen behindert hätte. Später, als sich die militärische Lage für Deutschland verschlechterte, war wohl die Furcht vor gegnerischen Vergeltungsschlägen das wesentliche Motiv für den
Nichteinsatz.
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Quellen:
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7-2/2001
www.berlinische-monatsschrift.de