44   Probleme/Projekte/Prozesse Kästners statistischer Blick  Nächstes Blatt
Oliver Ohmann
Berlin ist eine ausführliche Stadt

Erich Kästners statistischer Blick auf die Hauptstadt wird erneuert

»Hochbahnen, Autobusse, Straßenbahnen, Lastfuhrwerke, Menschenströme, Droschken, Züge, Flugzeuge bewegen sich, und das Wirrsal aller Bewegungen ist: Berlin.
     Arbeiter, Angestellte, Verkäuferinnen, Straßenmädchen, Schulkinder, Flaneure, Selbstmörder, Bettler, Magnaten rennen durcheinander und nach tausenden Zielen, und diese Jagd aneinander vorbei ist: Berlin. Zeitungen, Theater, Zirkus, Tanz, Kabarett, Maschinen, Schornsteine, Leierkästen, Hochzeit, Leichenwagen, Reklame, Bahnhöfe, Konditoreien, Bars, Kaschemmen zeigen sich und verschwinden, und dieser wilde Taumel der Dinge, der Pflichten und der Lüste ist: Berlin.«
     So charakterisierte Erich Kästner (1899-1974) im Jahre 1927 am Rande seiner Besprechung von Walter Ruttmanns Film »Berlin - Sinfonie einer Großstadt« das verwirrende Getöse, in dem er sich gerade als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.
     Hierher kam er mit Erich Ohser (1903-1944), dem Freund seit gemeinsamen Studententagen in Leipzig.

Kästner hatte an der dortigen Universität studiert, Ohser, der später unter dem Pseudonym E. O. Plauen als Schöpfer von »Vater & Sohn« bekannt wurde und sich 1944 in Nazi-Haft das Leben nahm, an der Kunstakademie. Bekanntlich hatte das Gedicht »Nachtgesang des Kammervirtuosen«, kurz zuvor in der »Plauener Volkszeitung« abgedruckt, einen beachtlichen Zeitungsskandal in der Provinz ausgelöst, welcher unverzüglich zur Abreise der Herren Kästner und Ohser geführt hatte. Halb zog es sie, halb sanken sie in die Weltstadt, in deren Bannkreis sie von ihrem Stammtisch im »Café Carlton« in der Nürnberger Straße aus eintraten.

»Der Marmortisch als Arbeitstisch«

Josef Görtz und Hans Sarkowicz erzählen in ihrer schönen Kästner-Biografie von deren ersten Schritten in der Metropole. Im Carlton, das mit dem zeittypischen Slogan »Der Marmortisch als Arbeitstisch« warb, hatte Kästner sein »Büro« eingerichtet. Im Caféhaus arbeitete er, empfing er Freunde, knüpfte Kontakte. Zur gleichen Zeit tat es ihm Joseph Roth (1894-1939) in »Mampes Guter Stube« gleich. Manchmal ging Kästner auch zu »Schwannecke«, später auch ins »Café Leon« im Mendelsohn-Bau, der heutigen Schaubühne. Das heute legendäre »Romanische« betrachtete er abschätzig als einen »Wartesaal für Talente«.

BlattanfangNächstes Blatt

   45   Probleme/Projekte/Prozesse Kästners statistischer Blick  Voriges BlattNächstes Blatt
Annonce von 1930
Mit »Gemischten Gefühlen« liest man Kästners Texte dieser frühesten Bekanntschaft mit Berlin. Unter diesem Titel hat man seine Berliner Miniaturen für die »Neue Leipziger Zeitung« zusammengefasst. Kästner blieb seinem feinen Blick und der Stadt Berlin auf Umwegen ein Leben lang treu, seiner Arbeitsweise ebenso. In einer alten Verfilmung eines seiner unvergesslichen Kinderbücher sieht man den Autor schreibend in einem Café sitzen. Wie ein guter Geist erscheint er der eigenen Fabelgestalt, seinem Dichterkollegen Johnny aus dem »Fliegenden Klassenzimmer«. Er spricht ihn väterlich an, er macht ihm Mut, so ganz nebenbei.      Erich Kästner starb 1974 im Alter von 75 Jahren in München. Er, der so leidenschaftlich für Berlin entbrannte, sah am 10. Mai 1933 mit an, wie man seine Bücher in die Flammen stieß - im Untergang wurde sein »Fabian« unsterblich - der väterliche Freund seiner Helden musste leben. Gute Geister können den Einbruch der Dunkelheit nicht verhindern, aber sie können denen, die um ihr Leben fürchten müssen, einen Augenblick tief in sich bergen und hoffend machen.
     Teofila Reich-Ranicki illustrierte und kopierte im Warschauer Ghetto Kästners »Lyrische Hausapotheke«, man schuldet der Lyrik nicht das Leben, aber man mag sich an ihr lebendig erhalten.
BlattanfangNächstes Blatt

   46   Probleme/Projekte/Prozesse Kästners statistischer Blick  Voriges BlattNächstes Blatt
Scheinbare Leichtigkeit unter dem Strich

»Berlin in Zahlen« ist typisch Kästner - ein ungenügendes, vielleicht im Sinne der Literaturwissenschaft unzulässiges Urteil -, doch es gilt in den Augen des Autors sicher nicht als ehrenrührig. Kästner verstand sich, weisem Understatement folgend, als Gebrauchslyriker. Der Text stammt aus jener Zeit scheinbarer Leichtigkeit unter dem Strich, einer nie wieder erreichten Zusammenballung feuilletonistischer Geistesgrößen, von denen viele in den Jahren der Weimarer Republik in Berlin wirkten und die grenzenlose Publikationswut der Zeitungsmacher gewährleistete. Ein Jahrzehnt lobte und verehrte das kreative Schreiben für den Tag. »Berlin in Zahlen« ist eine humoristische Abrechnung, eine Berliner Bilanz des Lächelns, Kästners ironischer Blick hinter die brüchige Kulisse der Millionenstadt vor dem Zusammenbruch ihrer ureigenen Epoche. Kurz und scheinbar schmerzlos. Nach den vielen bewegten Jahren und Kästners Devise und »Moral« folgend - es gibt nichts Gutes, außer man tut es -, möchten wir seinen lakonischen Blick wiederholen, wollen wir noch einmal hinschauen, das wiederbewegte, wiedervereinte Berlin soll erneut Auskunft geben über seine innere Verfasstheit, um mit Kästner zu sprechen: Lasst uns Berlin also wieder einmal statistisch erfassen! Doch zuvor der Text, wie er im Jahre 1931 in der Zeitschrift »Jugend« zu lesen war:

Laßt uns Berlin statistisch erfassen!
Berlin ist eine ausführliche Stadt,
die 190 Krankenkassen
und 916 ha Friedhöfe hat.

53 000 Berliner sterben im Jahr,
und nur 43 000 kommen zur Welt.
Die Differenz bringt der Stadt aber keine
Gefahr,
weil sie 60 000 Berliner durch Zuzug erhält.
Hurra!

Berlin besitzt ziemlich 900 Brücken
und verbraucht an Fleisch 303 000 000 Kilogramm.
Berlin hat pro Jahr rund 40 Morde, die
glücken.
Und seine breiteste Straße heißt Kurfürstendamm.

Berlin hat jährlich 27 600 Unfälle.
Und 57 600 Bewohner verlassen Kirche und Glauben.
Berlin hat 606 Konkurse, reelle und unreelle,
und 700 000 Hühner, Gänse und Tauben.
Halleluja!

Berlin hat 20 100 Schank- und Gaststätten,
6 300 Ärzte und 8 400 Damenschneider
und 117 000 Familien, die gern eine Wohnung hätten.
Aber sie haben keine.
Leider.

BlattanfangNächstes Blatt

   47   Probleme/Projekte/Prozesse Kästners statistischer Blick  Voriges BlattNächstes Blatt
Ob sich das Lesen solcher Zahlen auch lohnt?
Oder ob sie nicht aufschlußreich sind und nur scheinen?
Berlin wird von 4 000 000 Menschen
bewohnt
und nur, laut Statistik, von 32 600
Schweinen.
Wie meinen?

Berlin ist noch immer eine ausführliche Stadt. Krankenkassen und Friedhöfe - die Zusammenkunft mag nur auf den ersten Blick überraschen. Heute hat Berlin 1 600 ha Friedhofsfläche und immer noch hunderte von Krankenversicherungsträgern, genauere Zahlen fehlen, ein Amt verweigerte die Auskunft. Die Toten sind noch immer in der Mehrzahl. 34 996 Berliner starben im Jahre 1999, von ihnen wurden 35 281 in der Stadt begraben, man kommt also immer noch gerne nach Berlin, denn nur 33 345 der Verstorbenen wohnten zuletzt hier.

Die meisten kamen dienstags zur Welt

29 856 Babys kamen im gleichen Jahr in Berlin zur Welt, 51 Prozent von ihnen Knaben. Das durchschnittliche Geburtsgewicht des Berliners beträgt 3 339 Gramm. Weitere wichtige Details möchten wir im Wortlaut der Statistiker wiedergeben, denen Berlin ohnehin viel zu selten Anerkennung schuldet:

»Die meisten Geburten wurden im Jahre 1999 in den Monaten Juli (2 689), Januar (2 665) und Dezember (2 631) registriert. Die meisten Entbindungen wurden dienstags (4 482) bzw. freitags (4 418) gezählt, die wenigsten an einem Sonnabend (4 080) oder Sonntag (3 897). Die häufigsten Geburten gab es am Dienstag, dem 23. März 1999 (116 Entbindungen), die wenigsten am Sonnabend, dem 27. Februar, bzw. am Sonntag, dem 16. Mai (jeweils 51).«
     Der Zuzug nach Berlin ist 1999 auf 20 816 Fälle geschwunden, Alteingesessene zieht es in die Vororte, die S-Bahn-Gemeinden, in den immer noch leicht ergrauten alten und neuen Speckgürtel. 43 908 Bürger haben die Hauptstadt 1999 verlassen. Das bedeutet per saldo: Minus 23 092 Einwohner. Über 12 000 Menschen haben mehr als einen Koffer in Berlin und wurden eingebürgert.
     Verwirrend erscheint die sich ständig verändernde Zahl der Berliner Brücken. Heute zählt man 967 solcher Bauten, bekanntlich noch immer mehr als Venedig, aber weit weniger als Hamburg. Im Jahre 1991 waren es 953, vier Jahre später hingegen 995. Die Brückenzahl ist seitdem wieder rückläufig, hören wir. Berliner bauen Brücken wohl nicht für die Ewigkeit, so wird die bedeutendste Berliner Brücke die Luftbrücke bleiben. Auch der Fleischverbrauch kann in dieser wahnsinnig bewegten Zeit nicht repräsentativ statistisch erfasst werden.
BlattanfangNächstes Blatt

   48   Probleme/Projekte/Prozesse Kästners statistischer Blick  Voriges BlattNächstes Blatt
Das Statistische Landesamt beziffert die Einfuhr von Fleisch, Fleischwaren und Därmen 1999 auf 24 430 Tonnen. (Die meisten Waren stammen aus den Niederlanden.)
     71 Morde (die glückten) zählte man 1999 in der Hauptstadt, die Aufklärungsrate ist beruhigend hoch, 66 Fälle konnten noch vor Jahresfrist ad acta gelegt werden, von den 102 Tatverdächtigen waren 96 Männer, nur sechs Frauen. Daneben waren im selben Zeitraum nicht weniger als 572 553 Straftaten zu registrieren, die Aufklärungsrate betrug etwa 50 Prozent und ist ansteigend, ebenso wie die Zahl der Verurteilten.

Die Zeit fährt weiter Auto

Der Kurfürstendamm hat zwar noch immer die breiteste Stirn, den Rang der größten messbaren Breite beansprucht jedoch seit langem mit 75 Metern die Straße des 17. Juni. Kästners 27 600 notierte Unfälle muten heute nachgerade altertümlich an. 1999 zählte die Polizei 153 385 Verkehrsunfälle in Berlin, davon 16 600 mit Personenschaden - die Zeit fährt weiter Auto. Dass die Zahl der Kirchenaustritte, im Jahr 2000 etwa 18 000, nicht notwendig auf den Verlust des Glaubens schließen lässt, ist bekannt. Heute ermutigen fiskalische Gründe solche Absagen. Interessant bleibt, dass die Katholische Kirche zwar mit 10 Prozent an der Gesamtbevölkerung klar hinter den 26,5 Prozent Protestanten zurücksteht, aber mit 47 097 aktiven Gläubigen deutlich mehr sonntägliche Kirchenbesucher aufweisen kann.

Die Evangelische Kirche bezifferte ihre treuesten Seelen zuletzt auf nur 21 139.
     Auch die hohe Zahl der Konkurse bleibt letztendlich nur ein Indiz für die Nibelungentreue und den Mut der Berliner, ins kalte wirtschaftliche Wasser der Existenzgründung zu springen. Im ersten Halbjahr 2000 verzeichnete man 16 351 Gewerbeabmeldungen, das bedeutete einen Rückgang von 15,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die innerstädtischen Hühner und Gänse sind weitgehend von den Höfen verschwunden, die Tauben haben ihren Ruf millionenfach ausgebaut, himmlische Grüße aus den Lüften. Halleluja!
     Die Anzahl der Schank- und Gaststätten ist 4,1 Prozent höher als 1999, dabei sank die Zahl der dort Beschäftigten jedoch um 2,6 Prozent. Der Glanz und die Bedeutung der Berliner Eckkneipen ist Geschichte. Im Mai 2000 bewirteten 10 577 gastgewerbliche Betriebe in Berlin auf unterschiedlichstem Niveau. In siebzig Jahren hat sich das Angebot der Gastronomie, wie man sieht, halbiert - wird in fünfzig Jahren alles vorbei sein? Berliner, gründet Gaststätten!

Wohnungssuche ist noch immer eine Wissenschaft

Dagegen mag man eine wahre Ärzteschwemme diagnostizieren. 23 623 Mediziner ermittelte die Ärztekammer im Jahr 2000, teils in Krankenhäusern angestellt, die akut von Schließung bedroht sind.

BlattanfangNächstes Blatt

   49   Probleme/Projekte/Prozesse Kästners statistischer Blick  Voriges BlattNächstes Blatt
Der schöne Beruf des Damenschneiders dagegen ist nicht mehr en vogue, droht sogar in Vergessenheit zu geraten, man zählt nur noch 366 Betriebe in der Bekleidungsindustrie, 177 im Textil- und 47 im Ledergewerbe. Die Wohnungssuche ist dagegen eine Wissenschaft geblieben. Für die einen beginnt sie mit dem Maklerbesuch, für die anderen endet sie in den Läusepensionen. 200 000 Wohnungen wurden im vergangenen Jahrzehnt gebaut, die Zahl der Privathaushalte steigt. Nach Angaben des Roten Kreuzes wurden 2000 bei den zuständigen Bezirksämtern ca. 8 000 Menschen als wohnungslos registriert, dazu zählen müsse man die womöglich ebenso hoch anzusetzende Zahl der nicht registrierten Wohnungslosen. Hier hat sich eine traurige Ziffer aus Kästners Rechnung deutlich nach unten korrigiert, eine weitere muss folgen: Berlin wird heute von 3 386 667 Menschen bewohnt, das entspricht etwa genau der Bevölkerungszahl des Jahres 1950. Weit über eine Million fehlt und wird noch immer vermisst; 1 742 092 Einwohner sind Berlinerinnen. Ist das aufschlussreich, oder scheint das nur so?
     Im Jahr 1997 lebte man im Ostteil mit 22 884 Schweinen, im Westteil mit nur 2 831 Schweinen. Viele davon Wildschweine. Herr Kästner, wir schließen uns Ihnen an: »Wie meinen?« 1999 wurden 1 661 Schweine in Berlin geschlachtet, 1 347 im ehemaligen Ostteil, 314 im Westteil.

Ausgabe von »Emil und die Detektive«,
Moskau 1965

Darüber hinaus gab es Hausschlachtungen an 17 Bullen, 7 Färsen, 13 Kälbern, 119 Schweinen, 30 Schafen, 7 Ziegen, 45 Pferden und einer Kuh.

BlattanfangNächstes Blatt

   50   Probleme/Projekte/Prozesse Kästners statistischer Blick  Voriges BlattArtikelanfang
Nicht ganz 200 Viehhalter gibt es noch in der Stadt, eine hier nur am Rande vorgestellte Größe, die gewiss vergessen ist, würde man unser kleines Experiment wiederholen, wenn wieder ein Menschenalter verstrichen sein wird. Kästner blickte bei Durchsicht seiner Bücher auf seine frühen Gedichte zurück: »Die Verse zeigen, wie es vor 1933 in den Großstädten und anderswo aussah. Und sie zeigen auch, wie ein junger Mann durch Ironie, Kritik, Anklage, Hohn und Gelächter zu warnen versuchte. Dass derartige Versuche keinen Sinn haben, ist selbstverständlich.«
     Berlin ist ein Organismus, etwas Lebendiges und Bewegendes. Übersieht man die vielen guten und die vielen schlechten Seiten, vielleicht sogar etwas Menschliches. Alle vorgestellten Größen, alles Treiben in der Metropole ist bestimmt von Leben - der Menschen, des Federviehs und der Schweine. Erich Kästner hatte Recht - Berlin ist eine ausführliche Stadt, eine ewige Baustelle der lebendigen Gegenwart im wilden Taumel der Dinge, der Pflichten und der Lüste, und sie wird es bleiben, allen abgebrochenen und noch zu schlagenden Brücken zum Trotz. Es ist, wie Hilde Knef 1965 dichtete und sang: »Berlin, du bist viel zu flach geraten für die Schönheitskonkurrenz. Doch wer liebt schon nach Metermaßen, wenn du dich zu ihm bekennst?«
Quellen:
-»Berlin in Zahlen« (1930), in: Erich Kästner, Zeitgenossen, haufenweise, Werke Bd. 1, hrsg. v. Josef Görtz, München-Wien 1998, S. 239 f.
-»Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen« (1965), in: Hildegard Knef, Ich brauch Tapetenwechsel. Texte, Wien-München-Zürich 1972, S. 13
-Statistisches Landesamt Berlin

Bildquellen: Die Literarische Welt (Berlin) vom 3. 10. 1930;
Archiv Autor

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7-2/2001
www.berlinische-monatsschrift.de