114   Porträt Martin Schulz  Nächstes Blatt
Manfred Stürzbecher
Vom Fürsorger zum Hauptsachbearbeiter

Der Sozialarbeiter Martin Schulz (1903-1994)

Martin Schulz wurde als Sohn des Bildhauers Karl Christoph Martin Schulz am 22. Juni 1903 in Berlin in der Ebertystraße geboren. Er besuchte von 1909 bis 1913 die Volksschule und wechselte dann auf die Mittelschule, wo er im September 1920 die Prüfung für die Obersekundareife ablegte und anschließend bis 1923 in Charlottenburg eine Oberrealschule besuchte, die er mit der Reifeprüfung verließ. »Alsdann studierte ich an der Berliner Universität als Werkstudent Rechtswissenschaften; das Studium konnte ich leider wegen völliger Überarbeitung nicht abschließen«, schrieb er später in seinem Lebenslauf. Am 15. Dezember 1927 erfolgte die Löschung aus der Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.
     1955 schrieb Schulz: ,,Darauf wandte ich mich der sozialen Arbeit zu. Ich war ehrenamtlich in einer Wohlfahrtskommission tätig und ab 18. 7. 1930 ganztägig als Vorpraktikant in der Charlottenburger Bezirksfürsorge. Seit dem 11. 7. 1932 wurde ich dort hauptberuflich als Prüfer beschäftigt, nachdem ich bereits seit Mai 1931 das Berliner Seminar für Sozialarbeiter besuchte.«

     Diese Äußerung rief in den Sechzigerjahren Verwunderung hervor, war doch damals der Begriff Sozialarbeiter, wie er heute üblich ist, nicht geläufig. Die Stellen in der öffentlichen Verwaltung trugen die Berufsbezeichnung Fürsorger. Wie sich an Hand von Originalunterlagen aus den frühen Dreißigerjahren - Juni 1932 - jedoch feststellen ließ, führte das Pestalozzi-Fröbel-Haus IV die Bezeichnung »Berliner Seminar für Sozialarbeiter (staatlich anerkannte Wohlfahrtsschule), gegründet von Carl Menicke, Leitung Dr. A. Oswalt«. Peter Reinicke hat inzwischen die Geschichte der Ausbildungsstätten für Sozialarbeiter in Berlin dargestellt.
     Schulz besuchte dieses Seminar vom 2. Mai 1931 bis zu seiner »staatlichen Abschlussprüfung als Sozialarbeiter« im Februar 1933. Während dieser Zeit hat er als Schulpraktikant vom 3. August bis 31. Oktober 1931 in der Arbeitsanstalt Rummelsburg und vom 16. November 1931 bis 26. Februar 1932 in der Sozialen Gerichtshilfe der Stadt Berlin gearbeitet. Daraus ist zu schließen, dass er auch diese Ausbildung als eine Art Werkstudent durchlaufen hat.

Betreuung männlicher Jugendlicher

Die Tätigkeit in der Bezirksfürsorge in Charlottenburg wurde Schulz offensichtlich als Berufspraktikum anerkannt. In einem Zeugnis des Bezirksamtes wurde bescheinigt:

BlattanfangNächstes Blatt

   115   Porträt Martin Schulz  Voriges BlattNächstes Blatt
»Ihm wurden zunächst im Rahmen der Familienfürsorge die der Bezirksfürsorge übertragenen Prüfungen zur Erledigung zugeteilt, zu denen insbesondere die Nachprüfungen bei Wohlfahrterwerbslosen, die Prüfungen für das Arbeitsamt zur Feststellung der Hilfebedürftigkeit bei Alu- und Kru-Empfängern und die Bearbeitung sonstiger schwieriger wirtschaftsfürsorgerischer Fälle gehören. Seit einigen Monaten ist Herrn Schulz die Betreuung von männlichen Jugendlichen und alleinstehenden Männern auf wirtschafts- und jugendfürsorgerischem Gebiet übertragen worden.«
     Der Polizeipräsident von Berlin stellte unter dem 13. März 1934 mit der Unterschrift des Medizinaldezernenten Dr. Franz Redeker (1891-1962) einen »Ausweis für staatlich anerkannte Wohlfahrtspfleger (Fürsorger, Sozialbeamte)« aus. Als Hauptfach der Prüfung wurde »Allgemeine Wohlfahrtspflege« angegeben. Auch auf dieser behördlichen Bescheinigung taucht der Terminus »Sozialarbeiter« auf, und zwar bei der Angabe der Ausbildungsstätte »Wohlfahrtsschule des Berliner Seminars für Sozialarbeiter«. Auch aus dem Jahre 1935, als sich in der amtlichen Terminologie der Begriff des »Volkspflegers« schon durchzusetzen begann, firmierte das Haus IV des Pestalozzi-Fröbel-Hauses als »Berliner Seminar für Sozialarbeiter (Staatlich anerkannte Volkspflegerschule)«.
     Schulz arbeitete nach der Anerkennung weiter im Bezirksamt Charlottenburg, hier hatte er »vorwiegend Ermittlungen auf dem Gebiet der Wirtschaftsfürsorge, insbesondere für allgemeine Wohlfahrt, die Kleinrentner, Sozialrentner- und Kriegsopferfürsorge durchzuführen. Auch bearbeitete er Anträge auf Darlehen, Kinderreichenbeihilfe und Unterstützungen aus Stiftungsmitteln.« Es wurde hervorgehoben, dass Schulz besonderes Interesse an der Jugendgerichtshilfe zeigte und auch die jugendfürsorgerische Arbeit in der Familienfürsorge kennen gelernt hatte. In den fünfziger Jahren kam es über die Tätigkeit als »Prüfer« zu Auseinandersetzungen in der Berliner Verwaltung, da teilweise die Auffassung vertreten wurde, dass die Arbeit als Prüfer nicht als fürsorgerische Tätigkeit im gehobenen Dienst eines Fürsorgers anzusehen sei. Nach Anhörung von Sachverständigen wurde beim Innensenator entschieden, dass die Tätigkeit als Prüfer im Sozial- und Jugendamt in den Dreißigerjahren als Tätigkeitsmerkmal eines Sozialarbeiters besoldungsrechtlich anzuerkennen ist.

Im Krieg einziger männlicher Fürsorger

Für die Zeit vom 26. Oktober bis zum 21. Dezember 1935 wurde Martin Schulz zur Ausbildung als Soldat einberufen.

BlattanfangNächstes Blatt

   116   Porträt Martin Schulz  Voriges BlattNächstes Blatt
Ab April 1938 arbeitete er im Bezirksamt Weißensee als Fürsorger vorwiegend in der Spezialfürsorge für männliche Jugendliche. Am 26. August 1939 wurde er zur Wehrmacht einberufen, nahm als Pionier am Polenfeldzug teil und wurde dann bereits am 30. November 1939 aus dem Heeresdienst entlassen. Wahrscheinlich war er vom Bezirksamt reklamiert worden, denn er war jetzt der einzige männliche Fürsorger für den Jugendbereich im Bezirksamt Weißensee.
     »Durch die kriegsbedingten Schwierigkeiten in der Jugenderziehung und das unverhältnismäßig große Arbeitsgebiet wurden an die Arbeitskraft des Fürsorgers Schulz ganz erhebliche Anforderungen gestellt. Er war stets bemüht, diesen gerecht zu werden, und zeigte viel Interesse bei der Bekämpfung der zeitweise stark angewachsenen Verwahrlosung der Jugendlichen. Fleiß und Führung sind gut. In der kameradschaftlichen Zusammenarbeit bestehen keinerlei Schwierigkeiten«, heißt es in einem Zwischenzeugnis aus dem Oktober 1941. Sicher dürfen wir die heute bei Zeugnissen gebrauchten Formeln der Beurteilung auf die damalige Zeit nicht anwenden. Wie auch aus der Ausbildungszeit belegt, war er ein aufgeschlossener und interessierter Fürsorger.
     1935 hatte der nunmehrige Direktor des Hauses IV des Pestalozzi-Fröbel-Hauses die Beurteilungen der Ausbildungsstellen zusammengefasst: »Herr Schulz hat sich schnell, mühelos und mit großem Fleiß in die Arbeitsgebiete hineingefunden und pädagogisches und psychologisches Verständnis bewiesen.
Er zeigte gute verwaltungstechnische Kenntnisse und organisatorische Fähigkeiten. Er verfügt über eine gute Auffassungsgabe und Einfühlungsvermögen.«
     Ob die Zusammenarbeit im Jugendamt Weißensee in allen Punkten problemlos war, muss zurückhaltend betrachtet werden. Hatte es Schulz vorher vermieden, sich parteipolitisch zu engagieren, so scheint er von seiner Dienststelle nachdrücklich aufgefordert worden zu sein, einen Antrag zur Aufnahme in die NSDAP zu stellen. Die Aufnahme ist nie erfolgt.

In der Geschlechtskrankenfürsorge

Im April 1943 erfolgte eine erneute Einberufung zur Wehrmacht, im Juni 1944 geriet er bei Cherbourg in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er über England im Oktober 1946 entlassen wurde und zu Frau und kleiner Tochter nach Berlin zurückkehrte. Im Oktober 1947 wurde er als Fürsorger bei der Geschlechtskrankenfürsorge des Landesgesundheitsamtes angestellt. In der Nachkriegszeit spielte, nicht zuletzt auch im Interesse der Alliierten, die Bekämpfung der venerischen Erkrankungen, die gehäuft in allen vier Sektoren auftraten, eine große Rolle. Die Geschlechtskrankenfürsorge wurde in dieser Zeit als eine von der Hauptverwaltung durchzuführende Aufgabe angesehen.
     Neben seiner Tätigkeit besuchte Schulz nach Aufhebung der Blockade der Westsektoren im Sommer 1949 die Verwaltungsakademie in West-Berlin von Oktober 1949 bis Februar 1953 und legte das Examen als Diplom-Kameralist ab.

BlattanfangNächstes Blatt

   117   Porträt Martin Schulz  Voriges BlattNächstes Blatt
Kurz darauf wurde er in den Verwaltungsdienst des Senators für Gesundheitswesen übernommen und in der Arbeitsgruppe Medizinalstatistik unter Alfred Jahn (1892-1964) eingesetzt. Jahn hatte nach der Bildung des Hauptgesundheitsamtes Anfang der Zwanzigerjahre die Medizinalstatistik aufgebaut. Zeitweise war Georg Wolff (1886-1952) Leiter dieses Referates, bevor er als rassisch Verfolgter das Amt und Deutschland verlassen musste. Jahn, der über die Berliner Gesundheitsverwaltung hinaus einen Namen als Vertreter der behördlichen Medizinalstatistik besaß, hatte dieses Arbeitsgebiet unabhängig von den politischen Herrschaftsformen von der Einrichtung des Hauptgesundheitsamtes bis zu seiner Pensionierung bei Erreichung der Altersgrenze verwaltet. Wer in der Senatsverwaltung für Gesundheitswesen die Begabung von Martin Schulz erkannt und ihn für dieses Arbeitsgebiet ausgewählt hat, lässt sich nicht feststellen. Schnell stellte sich eine enge Zusammenarbeit mit dem Leiter der Abteilung Sozialhygiene Curt Meyer (1892-1984) und dem Senatsdirektor und Ordinarius für Sozialhygiene und öffentliches Gesundheitswesen der Freien Universität Berlin Erich Schröder (1893-1968) ein. Zu bemerken ist, dass in dieser Arbeitsgruppe nicht nur die Zahlenzusammenstellungen gefertigt wurden. In ihr war auch ein Zeichner angesiedelt, der grafische Darstellungen im Rahmen der Medizinalstatistik herstellte und auch das Bildmaterial für die gesundheitliche Volksbelehrung, wie die heutige Gesundheitsförderung damals genannt wurde, verwaltete. Der Arbeitsgruppenleiter und Hauptsachbearbeiter war in dieses Aufgabengebiet eingebunden. Schröder hat das Material dieser Arbeitsgruppe auch für seinen Unterricht genutzt, wobei er die Aufbereitungsarbeiten weitgehend Schulz selbstständig vornehmen ließ. Dies hatte zur Voraussetzung, dass sich der ehemalige Fürsorger und Verwaltungsbeamte in die Sozialhygiene und Medizinalstatistik einarbeiten musste. Da Schröder eng mit Karl Freudenberg (1892-l963) zusammenarbeitete, wurde Schulz auch von diesem gefördert und in das Fach eingeführt.
     Als die Verbeamtung von Schulz 1958 anstand, hieß es im Dienstleistungsbericht: »Herr Schulz hat sich auch in dieser Tätigkeit bewährt. Seine Ausarbeitungen zeugen nicht nur von Sachkenntnis und Überlegung, sondern auch von einer bemerkenswerten Gewandtheit im sprachlichen Ausdruck. Dabei kommen ihm die während seines Studiums an der Verwaltungsakademie vermittelten Kenntnisse sehr zugute. Sein ruhiges, ausgeglichenes Wesen verdient besonders hervorgehoben zu werden. Im Umgang mit den Mitarbeitern ist Herr Schulz freundlich und kameradschaftlich.«
BlattanfangNächstes Blatt

   118   Porträt Martin Schulz  Voriges BlattArtikelanfang
Korrektheit ohne Kleinlichkeit

Hinsichtlich der Ausdrucksweise dürften nicht nur der Besuch der Verwaltungsakademie, sondern auch die vorangegangenen Ausbildungen an der Juristischen Fakultät der Berliner Universität und am Pestalozzi-Fröbel-Haus beteiligt gewesen sein. Für seine Tätigkeit in der Medizinalstatistik der Berliner Gesundheitsverwaltung brachte Schulz zwei wichtige Voraussetzungen außer den im Dienstleistungsbericht genannten Eigenschaften mit. Er besaß eine sehr ausgeprägte Korrektheit ohne Kleinlichkeit, und er kannte die Praxis der Leistungsverwaltung in den verschiedensten Bereichen. Er hatte einen enormen Arbeitseifer und eine gesunde Neugier auf seinem Arbeitsgebiet. Es ist daher nicht verwunderlich, dass ihm überdurchschnittliche Fähigkeiten und Leistungen von der Verwaltung bescheinigt und der Versuch unternommen wurde, die besoldungsrechtliche Bewertung seines Arbeitsgebietes zu verbessern. Nach dem Ausscheiden von Schröder zum Jahresende 1959 bestand auch mit dessen Nachfolgerin Barbara von Renthe-Fink (1901-1983), die schon als Leiterin der Abteilung Sozialhygiene der Senatsverwaltung die Fähigkeiten und Kenntnisse von Schulz schätzen gelernt hatte, ein gutes Verhältnis.
     Es dürfte für Schulz nicht leicht gewesen, als ihm im Januar 1966 als Leiter des nunmehrigen Referates für Medizinalstatistik und medizinische Dokumentation ein Arzt als direkter Vorgesetzter zugeteilt wurde.

Da schon seit längerer Zeit ein wissenschaftlicher Kontakt bestanden hatte, verlief die Zusammenarbeit vom ersten Tage an loyal und ohne Spannungen. Ein gesundes Selbstbewusstsein und die gegenseitige fachliche und menschliche Wertschätzung führten dazu, dass weit über die Pensionierung hinaus die Verbindungen und der Meinungsaustausch nicht abrissen.
     Unter dem 10. Mai 1967 beantragte Martin Schulz im Alter von knapp 64 Jahren die Versetzung in den Ruhestand nach seinem Geburtstag. Es dürften dafür eine Reihe von Ursachen eine Rolle gespielt haben. In Lichterfelde hatte er ein Haus erworben. Auf dem Nachbargrundstück war mit dem Bau des Klinikums Steglitz begonnen worden, und es liefen Gerüchte, dass die Freie Universität weitere Grundstücke in Anspruch nehmen wollte. Im Amt deuteten sich weitere Veränderungen an. Ob er ahnte, dass die eigenständige Gesundheitsverwaltung noch im gleichen Jahr aufgelöst würde, muss dahingestellt beleiben. So deuteten sich Veränderungen der verschiedensten Art an, die es ihm ratsam erscheinen ließen, aus dem Amt zu scheiden und kurz nach der Pensionierung Berlin zu verlassen.
     Mit großem Interesse hat er noch über mehr als zwei Jahrzehnte die Entwicklung in der Medizinalstatistik in Berlin verfolgt. Am 20. Januar 1994 ist er in Bad Kreuznach nach kurzer Krankheit im 91. Lebensjahr verstorben.
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7-2/2001
www.berlinische-monatsschrift.de