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Klaus Körner
Stacheldraht als Synonym

Am 27. Juni 1989 durchschnitt der ungarische Außenminister Gyula Horn, assistiert von seinem österreichischen Kollegen Alois Mock, den Stacheldraht an der ungarischen Westgrenze bei Sopron.1) Dieser Auftritt war eine medienwirksame politische Inszenierung, galt Stacheldraht doch als ein Synonym für den Eisernen Vorhang in Europa. Er war darüber hinaus das Symbol für Gemeinheit und Erniedrigung des Menschen. Auf zahllosen Plakaten und Umschlägen von Büchern und Broschüren wird der Stacheldraht daher als Symbol für Front, Lager und feindliche Grenze verwandt. Lager konnte Konzentrationslager, Internierungs- und Kriegsgefangenenlager bedeuten, aber auch im übertragenen Sinn das von der Wehrmacht besetzte Europa, später die Welt hinter dem Eisernen Vorhang.
     Das Material Stacheldraht wurde 1874 erstmals aus den USA nach Europa importiert und diente hier wie dort zur Einfriedung von Viehweiden anstelle der bis dahin gebräuchlichen Holzzäune.2) Militärisch wurde der Stacheldraht erstmals im Krieg gegen die Buren in den Jahren 1899 bis 1902 von den Briten eingesetzt. In Europa erhielt er erst nach 1914 im Ersten Weltkrieg militärische Bedeutung.

Die deutsche Besatzungsarmee errichtete 1915 in Belgien an der Grenze zu den neutralen Niederlanden einen etwa 180 km langen mit Starkstrom geladenen Stacheldrahtzaun, an dem an die 3 000 Menschen zu Tode kamen.3)
     Zu den ersten deutschen Büchern, bei denen ein Stacheldrahtmotiv auf dem Umschlag verwendet wurde, gehört die Gedichtsammlung des Kriegsdichters Walter Flex aus dem Jahr 1917 »Im Feld zwischen Nacht und Tag«. Der Umschlaggestalter Heinrich Jost zeichnete aus dem Blickwinkel des Schützengrabens einen blauen Sternenhimmel, unter dem im Vordergrund leicht erhöht ein kahler Stacheldrahtverhau zu sehen ist. Die Umschlagzeichnung wirkt wie eine Illustration zu Flex' Lied »Wildgänse rauschen durch die Nacht«, das die Stimmung des Frontsoldaten zwischen Einsamkeit und Todeserwartung wiedergibt. Die Bedeutung von Stacheldraht als Symbol der feindlichen Grenze, der Einkreisung Deutschlands wird auf dem Einband des von Werner Beumelburg herausgegebenen Bildbandes »Eine ganze Welt gegen uns« aus dem Jahr 1934 verwandt. Der Titel auf dem Buchrücken und auf dem vorderen Buchdeckel in schwarzem Leinen wird durch roten Stacheldraht begrenzt bzw. eingekreist.
     In der NS-Zeit hielt die seit Ende der Zwanzigerjahre bestehende Welle von kriegsverherrlichenden Büchern mit Frontmotiven auf dem Umschlag an.
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Bei der seit 1936 verstärkt einsetzenden antibolschewistischen Propaganda wird zwar die Zwangsarbeit in der Sowjetunion angeprangert, aber das Symbol Stacheldraht fehlt zunächst. Das Stacheldrahtmotiv taucht vielmehr zuerst in der antifaschistischen Agitation und Literatur gegen die NS-Konzentrationslager auf. So erschien 1933 im Exil der erste Tatsachenroman über den NS-Terror von Heinz Liepman »Das Vaterland« mit einem Umschlag, der den Stacheldraht eines Konzentrationslagers und ein aus Stacheldraht geformtes Hakenkreuz zeigt. Die amerikanische Ausgabe von Anna Seghers' Roman »Das siebte Kreuz« kam 1942 mit einem braunen Umschlag heraus, der Titel eingerahmt von schwarzem Stacheldraht.
     Nach dem Ende des entsetzlichen Krieges erschienen über 100 Bücher und Broschüren über die NS-Konzentrationslager. Das meistverbreitete Motiv bildet ein Stacheldrahtzaun, hinter dem ausgemergelte Menschen schmachten oder zu Tode kommen.4) Das bekannteste Buch aus dieser Zeit ist das Werk von Eugen Kogon »Der SS-Staat. Das System deutscher Konzentrationslager«. Der Einband der Ausgabe für die britische Zone ist mit einem Geflecht aus grauem Stacheldraht überzogen. Der Stacheldraht wird als Zeichen für NS-Terrorherrschaft verwendet.
     Mit Beginn des Kalten Krieges stand der Stacheldraht nun als Synonym für die
vierte Besatzungsmacht UdSSR und ihre Zone in Deutschland. Der Anstoß, mit Stacheldraht-Motiven gegen die vierte Besatzungsmacht zu agitieren, kam von US-amerikanischer Seite. Auf dem Umschlag einer Broschüre aus dem Jahr 1948 des Senders RIAS Berlin wird West-Berlin als weißes Feld inmitten des schwarzen Umfelds der sowjetischen Zone dargestellt. Ein Europa-grüner Schriftzug »Freie Presse in Berlin« zerbricht drei rote Stacheldrähte, die hier die sowjetische Pressezensur symbolisieren sollen. Ähnlich agitiert die amerikanisch angeleitete Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) im Jahr 1949 gegen die sowjetischen Internierungslager in der Ostzone. Inmitten eines schwarzen Feldes, das wieder die Ostzone darstellt, ist ein weißes Fenster eingelassen, in dem die Buchstaben K und U stehen, wobei das U aus gebogenem Stacheldraht geformt ist. Der Stacheldraht gilt jetzt als Symbol für sowjetische Terrorherrschaft. Heft 7 der Schriftenreihe der KgU - Hermann Just »Die sowjetischen Konzentrationslager auf deutschem Boden 1945-1950« - ist entsprechend als Schwarzbuch gestaltet, mit dem Signet auf der Rückseite.
     Der Bund der Verfolgten des Naziregimes, Düsseldorf, eine Vereinigung bürgerlicher NS-Gegner, die sich allerdings die Auseinandersetzung mit Kommunisten zur Hauptaufgabe gemacht hatte, brachte 1950 eine Broschüre mit dem Titel »Widerstand. Gestern und Heute« heraus.
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Auf dem Umschlag ist ein Plakat zum Gedenktag für die Opfer der Unmenschlichkeit am 10. September 1950 abgebildet, das unter der Überschrift »Bilanz des Grauens« ein aufgeschlagenes Schwarzbuch zeigt.5) Auf der linken Seite ein Totenschädel in SS-Uniform, darunter die Bilanz der Jahre von 1933-1945, Millionen von Opfern von Krieg, Vertreibung und Konzentrationslagern, rechts eine Hand mit Hammer und Sichel sowie einem Sowjetstern und der Jahreszahl 1945, dazu dann die Zahl der Opfer von Sowjetzonenlagern und der nach Sibirien Verschleppten. Über beide Seiten ist wie ein Leseband ein Stück Stacheldraht gelegt. Ein Jahr darauf erschien vom gleichen Herausgeber in Zusammenarbeit mit dem ebenfalls US-amerikanisch geförderten Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen in Berlin die Schrift »Wir dürfen nicht schweigen. Streiflichter aus den politischen Haftanstalten der Sowjetzone«. Auf dem von Edmund Drasdo entworfenen Umschlag hält eine rote Hand einen weißen Arm fest im Griff, den Hintergrund bildet ein Stacheldrahtgitter.
     Die Schaffung der Zonengrenze durch die Besatzungsmächte wurde von der Mehrzahl der Deutschen 1945 als Folge des verlorenen Krieges hingenommen. Protest gegen die Grenze und das Grenzregime setzte erst Ende der fünfziger Jahre verstärkt ein. Das Thema Zonengrenze geriet 1955 durch den Käutner-Film »Himmel ohne Sterne« in die öffentliche Diskussion.
In einer Bundestagsdebatte forderte der Minister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser 1956 die Öffnung aller nach 1945 geschlossenen Übergänge und den Abbau von Stacheldraht und Straßensperren. Auf das sowjetische Berlin-Ultimatum von 1958 antwortete das Kuratorium Unteilbares Deutschland mit einer Plakatkampagne für den freien Verkehr in ganz Deutschland unter dem Motto »Macht das Tor auf!«. Als Symbol hatte man das Brandenburger Tor gewählt, das damals allerdings noch offen war. In einer Broschüre des Gesamtdeutschen Ministeriums »Freie Stadt zwischen Stacheldraht?« Wird auf dem Umschlag wieder das Brandenburger Tor gezeigt, aber die Frage gestellt, ob der sowjetische Freistadt-Vorschlag auf eine Stacheldrahtgrenze quer durch Berlin hinauslaufe, wie an der mit vielen Abbildungen dokumentierten Außengrenze von West-Berlin.
     Auf die Absperrung Ost-Berlins am 13. August 1961 durch Stacheldrahtverhaue und den anschließenden Mauerbau reagierte der Westen mit einer Mischung aus Empörung und Hilflosigkeit. Im Unterschied zur »ruhigen« Zonengrenze, an die man sich gewöhnt hatte, teilte die neue Grenzbefestigung eine einheitliche Stadt. Die »Bild-Zeitung« setzte ihre Berlin-Berichte in den nächsten Monaten in Stacheldrahtrahmen und fügte täglich hinzu, seit wie viel Tagen die Mauer in Berlin stehe. Der Berliner Senat veröffentlichte im Herbst 1961 die erste Mauer-Broschüre: »Es begann am 13. August ...«
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Auf dem Umschlag von Walter Riewe ist ein Schwarzweißfoto von der Sperrung des Brandenburger Tores durch Volksarmisten zu sehen, davor ein rot-weißes Durchfahrtsverbotsschild, und vor die Säulen des Bauwerks sind acht überdimensionale rote Stacheldrähte quer über die Bildfläche gezogen. Die gelbe Titelschrift neben dem schwarzen Hintergrund und dem Rot des Stacheldrahts soll dem Ganzen eine Anmutung von deutschem Nationalschicksal verleihen. Ebenfalls im Herbst 1961 erschien das erste Mauerbuch von Arno Scholz und Gottfried Vetter »Stacheldraht um Berlin« mit einem ähnlich gestalteten Umschlag von Paul Fischer. In einer Senatsbroschüre wird sogar behauptet, »das Deutschland hinter dieser Mauer ist zum größten Konzentrationslager aller Zeiten geworden«.6)
     In den Folgejahren erschien eine Unzahl von ähnlichen Schriften, darunter auch der seit 1964 in über 20 Auflagen erschienene Katalog des Mauer-Museums von Rainer Hildebrandt »Es geschah an der Mauer«. Wichtig war den Umschlaggestaltern in der Regel, die Mauerkrone mit Stacheldraht und Personen abzubilden. Das konnten Volksarmisten, Flüchtlinge oder auch Schatten von Westberlinern sein. Auf einem häufiger verwandten Foto von der Mauer an der Bernauer Straße mit der Versöhnungskirche blickt eine etwas kitschige Christus-Figur auf die Bauarbeiter.
Der einfachen Mauer aus Hohlsteinen fehlte das Bedrohliche oder Niederträchtige. Auf der Vorderseite der meistverbreiteten, zwischen 1962 und 1966 in sechs Auflagen gedruckten Mauer-Broschüre des Gesamtdeutschen Ministeriums »Ulbrichts Mauer: Zahlen. Fakten. Daten« ist die Mauer mit einem freischwebenden Stacheldraht vor rot gespritztem Hintergrund zu sehen.7) Auf der Rückseite ist ein Denkmal für ein Maueropfer abgebildet, ein Holzkreuz mit Stacheldraht und dazu ein Lorbeerkranz, obwohl Lorbeer eigentlich Symbol für einen Sieg ist.
     Auf dem von Georg Goedecker gestalteten Umschlag des Buches »Berlin. Sowjetsektor« aus dem Jahr 1965 wird die Mauer ohne Stacheldraht als Gedenkplatte aus Basalt gezeichnet, in der die Namen der Bezirke Ost-Berlins eingemeißelt sind. Die Mauer in Schwarz erhält dadurch etwas Erhabenes und Dauerhaftes.8) Die Grundfarbe der meisten Mauer-Broschüren ist Grau, die Farbe der kühlen Distanzierung. Der Buchgestalter Celestino Piatti wählte 1966 sogar einen grauen Fond für den Umschlag des dtv-Bandes »DDR. Geschichte und Bestandsaufnahme«. Auf dem Fond steht das Brandenburger Tor hinter einem Stacheldrahtverhau, in den ein transparentes DDR-Wappen gestellt ist. Das versperrte Tor soll damit als Symbol für die DDR gekennzeichnet werden.
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Die zweite viel verwandte Farbe ist Rot, mit der Begriffe wie Kommunismus, Sowjetunion und DDR assoziiert werden sollen. So wählte Martin Kausche für die Dokumentation »Das geteilte Deutschland« ein roteingefärbtes Foto des mit Stacheldraht verschlossenen Brandenburger Tores.
     Für eine Ausstellung zu seinem zehnjährigen Bestehen »Widerstand gegen die Teilung« warb das Kuratorium Unteilbares Deutschland mit einem Plakat, das im Vordergrund einen Stacheldraht von der Stärke eines Schlagbaums zeigt, dahinter eine dem Stacheldraht mit Spitzen nachgebildete Mauer und dazwischen drei Schilder mit den Farben Schwarz, Rot und Gold. Mauer und Stacheldraht sollen also das deutsche Schicksal symbolisieren.9)
     Der Umfang der vom Gesamtdeutschen Ministerium verbreiteten Broschüren, Dokumentarfilme, Bildfolgen und Schulwandbilder zum Thema Grenze war 1967 so angeschwollen, dass sich das Hamburger Kuratorium für staatsbürgerliche Bildung genötigt sah, einen 72-seitigen Katalog herauszugeben.10) Doch Mitte der Sechzigerjahre wurde offenbar, dass die Proteste, Plakate und Broschüren mit der griffigen Forderung »Die Mauer muss weg« wenig gefruchtet hatten. Es begann die von Willy Brandt und Egon Bahr ausgelöste Debatte über eine neue Deutschlandpolitik unter den Schlagworten »Politik der kleinen Schritte« und »Wandel durch Annäherung«.
Der herkömmliche Stacheldraht wurde aus sehr unterschiedlichen Gründen »unmodern«.
     Die SED-Führung war auf das Ansehen ihres Staates bedacht und kämpfte für seine Anerkennung. Dabei war die »hässliche Grenze« ein Hindernis. Die Mauer mit Stacheldraht und Wachtürmen erinnerte eben doch an die KZ-Bauweise der NS-Zeit.11)
     Stacheldraht blieb in der DDR ein Synonym für Faschismus, Gefangenenlager und politische Unterdrückung. So zeigt ein berühmtes Plakat aus dem Jahr 1959 für den DEFA-Film »Sterne«, der 1943 in Bulgarien spielt, rechts in Großaufnahme eine Jüdin und links, sehr viel kleiner, einen Wehrmachtssoldaten, der in sie verliebt ist.12) Zwischen beiden verläuft senkrecht ein Stacheldraht. Der Plakatgestalter Klaus Wittkugel bemerkt dazu, dass der senkrechte Stacheldraht zugleich die Grenze zwischen beiden und die Offenheit der Entwicklung anzeige. In einem 1974 von Jo Fritsche für denselben Film entworfenes Plakat sind wieder die zwei Personen zu sehen, der Stacheldraht zwischen ihnen ist hier zum Judenstern geformt. In den späteren Jahren unterstützte die DDR Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Auf dem Plakat »Freiheit für Nelson Mandela« wird ein schwarzer Kopf hinter weißem Stacheldraht abgebildet. Auf einem Plakat von Matthias Gubig »Gemeinsam gegen Apartheid« zerreißen vier schwarze Hände einen Stacheldrahtzaun.
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     Wegen dieser Verbindung des Motivs Stacheldraht mit Terror erschien es der DDR-Führung geraten, Abbildungen ihrer Grenzsperranlagen mit Mauer und Stacheldraht in Presse, Fernsehen oder gar im Museum für Deutsche Geschichte nicht zuzulassen. Grenzsperre und Mauerbau wurden öffentlich nur als »Maßnahmen« angesprochen. 1965 wurde das Konzept »moderne Grenze« entwickelt.13) Ein Teil der Maßnahmen zielte darauf ab, der bislang pioniermäßig gebauten Mauer und den Grenzübergängen ein etwas dauerhaftes, solides, unauffälliges und teilweise sogar gefälliges Aussehen zu verschaffen. Das hieß zunächst Ersatz der aus Hohlstein hochgezogenen Mauer mit Stacheldraht durch eine aus Beton-Fertigteilen nach Art heutiger Lärmschutzwälle zusammengesetzte Konstruktion. An den Grenzübergängen wurden Blumenkübel aufgestellt und der Beton durch Plastikplatten abgedeckt. Die vierte Mauer-Generation an der Innengrenze zu West-Berlin bestand schließlich aus 3,60 Meter hohen L-förmigen hellgrauen Segmenten. Auf die Mauerkrone wurden Betonröhren statt des Stacheldrahts montiert.
     In der Werbung für West-Berlin gab es aus anderen Gründen einen Paradigmenwechsel. West-Berlin musste nach dem Mauerbau um den Zuzug von Facharbeitern und Industrieansiedlungen kämpfen. Dafür mussten die positiven Seiten West-Berlins, die schöne Stadtlandschaft, die Kultureinrichtungen, die Veranstaltungen und das Freizeitangebot herausgestellt werden, so in der Broschüre »Berlin ist Deine Chance«.
In der vierfarbigen Werbeschrift aus dem Jahr 1968 »Berlin Impression«, die für prominente Besucher sogar als Ganzlederausgabe im Schuber produziert wurde, kam die Mauer nur ganz nebenbei auf einem Foto von einer gesperrten Brücke über den Teltowkanal vor und das versperrte Brandenburger Tor nur auf einem etwas unscharfen grauen Foto. Das Werbe-Motto seit Ende der Siebzigerjahre »Berlin tut gut«. Die Mauer war zwar ein »Dauerevent, das saisonabhängige Markenzeichen« Berlins, wurde aber nicht beworben.14) Wer sich über die Mauer und den Ostteil der Stadt, die Hauptstadt, informieren wollte, konnte das aber auch. Dafür gab es eine diskret auf Nachfrage verteilte Sonderbroschüre »Ost-Berlin«, die beigefaltet Reisetipps und Verhaltensmaßregeln enthielt. In dem Katalog zur 750-Jahr-Feier Berlins von 1987 fehlen Abbildungen von Mauer und Stacheldraht, die Grenze war schließlich aus dem Fenster des Ausstellungsorts Martin-Gropius-Bau im Original zu sehen.
     Sehr viel deutlicher war der Wandel in der Publikationspolitik des bisherigen Gesamtdeutschen Ministeriums, das ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hieß. Ziel der neuen Regierung war der Abschluss eines Grundlagenvertrages mit der DDR. Als der langjährige Buchhersteller des Ministeriums, Sebastian Losch, eine Neuauflage seiner Grenzbroschüre »Mitten in Deutschland« plante, bekam er von Ministerialdirektor Jürgen C. Weichert, der sich die Genehmigung jedes Publikationsentwurfs vorbehalten hatte, eine harsche Abfuhr:
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»Der Umschlag mit dem Stacheldraht ist viel zu kämpferisch. Wir dürfen die andere Seite nicht provozieren.« Die Schrift erschien dann außerhalb des Ministeriums. Bei einer Bundestagsdebatte über den Wandel in der gesamtdeutschen Publikationspolitik rechnete Minister Egon Franke mit der Vergangenheit ab: »Mit dieser Art reißerischer Werbung haben wir Schluss gemacht.«
     Normal: Die Lockerung des Schießbefehls an der Berliner Mauer Anfang der Achtzigerjahre führte dazu, dass Graffiti-Künstler die 44 Kilometer lange und 3,60 Meter hohe hellgraue Fläche auf der Westseite der Mauer als geradezu ideales Wirkungsfeld entdeckten. Die Mauer wurde zu einer Art Gesamtkunstwerk. Die Bemalungen verliehen der tristen Grenzsperranlage etwas Groteskes. Nur wenige Monate nach der Öffnung der Mauer im Herbst 1989 war das Bauwerk, dem der DDR-Staatsratsvorsitzende gerade noch einen Bestand von 50 oder 100 Jahren vorhergesagt hatte, aus dem Stadtbild verschwunden.
     Zur Erinnerung an das Ende der DDR brachte ein Berliner Verlag ein wie ein kleiner Flügelaltar gestaltetes Buchobjekt mit Mauergraffiti heraus. Die Bundeszentrale für politische Bildung verbreitete 1992 ein stacheldrahtfreies buntes Mauer-Plakat von Thomas Gottschalk-Westerburg. Über der Mauer ist nur ein schmaler Himmelsstreifen zu sehen. »Berlin loureed« (Berlin verfinstert) verkündet ein Graffito links oben.
Daneben gibt ein Mauerloch den Blick auf eine Protestdemonstration frei. Und über den Demonstranten schwebt als eine Art Supertransparent eine der letzten DDR-Briefmarken, die eine Demonstration vor der Leipziger Nikolaikirche mit der Parole zeigt: »Wir sind das Volk«.
     Der Fall der Mauer ließ das Motiv Stacheldraht fast in Vergessenheit geraten. Dem Umschlagbild von Heft 225 der Bundeszentrale über Osteuropa vom Oktober 1989 ist noch die Unsicherheit über die Bedeutung der symbolischen Grenzöffnung in Ungarn anzumerken. Auf der Titelseite sind Zahlenkolonnen von 1956 bis 1989 zu sehen, die Daten der vergeblichen Aufstände und Proteste sind rot hervorgehoben und von den über den Zahlen verlaufenden fünf Stacheldrähten erst drei zerschnitten.

Quellen:
1 Europa-Archiv 1989, Z 124
2 Stichwort »Stachelzaun«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Stuttgart 1984 (1919), Band 17, John W. Oliver, Geschichte der amerikanischen Technik, Düsseldorf 1959, S. 330
3 Martin Herzog; Marko Rösseler, Der große Zaun, in: »Die Zeit« vom 16. April 1998
4 Alexander von Plato, Almut Leh, Ein unglaublicher Frühling, Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945-1948, Bonn 1997, Abb. 54

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5 Widerstand, Gestern und Heute!, hrsg. vom Bund der Verfolgten des Naziregimes (BVN), Düsseldorf 1950
6 Sehen Sie - das ist Berlin, hrsg. vom Presse- u. Informationsamt des Landes Berlin, Berlin 1961, S. 5
7 Ulbrichts Mauer, Zahlen, Fakten, Daten, hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, 4. Auflage Bonn u. a. 1966
8 Berlin Sowjetsektor, hrsg. vom Büro für Gesamtberliner Fragen, Berlin 1965
9 Widerstand gegen die Teilung, Eine Dokumentation, hrsg. vom Kuratorium Unteilbares Deutschland, bearb. von Wilhelm Nöbel, Bonn 1966
10Die Zonengrenze, Filme, Lichtbildreihen und Tonbänder, bearb. von. Uwe Mertens, Hamburg 1967
11David Shears, The Ugly Frontier, London 1970, Pierre Galante, Le Mur de la Honte, Paris 1966
12Erhard Frommhold, Klaus Wittkugel, Dresden 1979, S. 134
13Erhard Albrecht, Staatsgrenze West, in: SBZ-Archiv 17 (1966), S. 345 ff.
14Julia Krauland, Mit Aussicht auf Zimmer, in: »Süddeutsche Zeitung« vom 19. Dezember 2000
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7-2/2001
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