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Günter Wirth
Kirche im Osten nach dem 13. August

Das kirchliche Leben in der Hauptstadt der DDR, zumal das der Mehrheitskonfession, also der evangelischen, im Zeitraum von 1961 bis 1989 kann unter verschiedenem Betracht als beispielhaft für gesamtgesellschaftliche Vorgänge in der Stadt, in der DDR, überhaupt im internationalen Kontext des Kalten Krieges angesehen werden. Ist es allein schon paradox, dass einer Großstadt, die ja gewöhnlich nicht als fruchtbarer Boden für Religiosität angesehen wird (Bismarck lässt grüßen), diese Funktion zugesprochen werden kann, so zusätzlich erst recht, dass dies ausgerechnet in der Hauptstadt der konsequent säkularisierten DDR zum Ereignis werden konnte.
     Hierbei spielte natürlich die Tatsache eine entscheidende Rolle, dass sich im gespaltenen Berlin das gespaltene Deutschland, ja die Spaltung Europas und der Welt spiegelte. Vor allem aber kam hinzu, dass in solcher Sicht West-Berlin nicht schlechthin »Frontstadt« im Kalten Krieg war, sondern auch eine Art weltanschaulicher »Brückenkopf«, von dem aus auf die ja nolens volens auch gespaltenen Organe der Kirchen, insbesondere der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und mit ihr der

Evangelischen Kirche der (ehemals altpreußischen) Union und der Evangelischen Kirche in Deutschland, eingewirkt werden konnte (später übrigens umgekehrt von Ost-Berlin aus auf die sich in den sechziger Jahren verstärkenden linken Kräfte, zumal in der Studentenbewegung, in West-Berlin). Solange der Zugang von Ostnach West-Berlin noch nicht hermetisch abgeschlossen war, konnte allerdings das gesamtkirchliche Leben - zwar mit Behinderungen (auch finanzieller Art nach der Währungsreform 1948) und provisorisch - aufrechterhalten werden. Dies änderte sich schlagartig am 13. August 1961.
     Dieses Datum (gewöhnlich braucht man die Jahreszahl nicht hinzuzufügen) gehört also nicht nur in den politischen Kalender, sondern auch in den kirchenpolitischen und kirchengeschichtlichen. Ohnehin verbindet es sich sofort mit einem anderen, nunmehr allerdings vordergründig kirchenpolitischen Datum, dem 31. August 1961. Was geschah an diesem Tag?

13. und 31. August 1961

Präses Kurt Scharf, wie Martin Niemöller ein herausragender Exponent des militanten (»dahlemitischen« - Niemöller war Pfarrer in Berlin-Dahlem!) Flügels der Bekennenden Kirche (BK), war seit 1946 als Propst im Konsistorium Berlin-Brandenburg für die brandenburgischen Gemeinden zuständig; um seinen Verpflichtungen als Visitator der Gemeinden nachkommen zu können, hatte er einen Wohnsitz in Ost-Berlin genommen.

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Dies erlaubte ihm, am 14. August 1961 den Auftrag zu übernehmen, als Vertreter des Berlin-Brandenburgischen Bischofs auf DDR-Gebiet tätig zu werden. Das bedeutete für Scharfs theologische Haltung und Amtsverständnis, sich alsbald - überdies in seiner Eigenschaft als damaliger Vorsitzender des Rates der EKiD - bei den DDR-Behörden für Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Ost- und West-Berlin einzusetzen.
     Als Präses Scharf - er hatte ohne Komplikationen ausreisen können - von der Wahrnehmung seiner Dienstgeschäfte in West-Berlin am 31. August 1961 in die Hauptstadt der DDR zurückkehren wollte, wurde ihm die Einreise verweigert und sein DDR-Ausweis abgenommen. In der Folgezeit blieb der Name Scharf für die DDR-Oberen tabu: Wo auch immer sich jemand - und sei es Karl Barth gegenüber dem CDU-Vorsitzenden Gerald Götting und dem Staatssekretär für Kirchenfragen Hans Seigewasser bei Gelegenheit seines 80. Geburtstages in Basel - für Scharf einsetzte, waren sofort die Grenzpfähle des 13. und 31. August 1961 markiert. Um so denkwürdiger ist es (um dies hier vorwegzunehmen), dass Scharf in den Westberliner Auseinandersetzungen ab 1967 (Fall Ohnesorg usw.) zusammen mit anderen Pfarrern und Theologen (Helmut Gollwitzer, Franz von Hammerstein, Rudolf Weckerling, Bé Ruys u. a.) für Erneuerung und Versöhnung eintrat, und er war es auch, der sich für die Versöhnung mit Polen einsetzte.
In den Jahren vor seinem Tod war Scharf in der Bewegung für die Anerkennung der DDR engagiert.
     Es ist nicht uninteressant, an dieser Stelle einen Seitenblick auf die Römisch-Katholische Kirche in Berlin (Brandenburg und Pommern) zu werfen. Es gab damals in Ostberliner kirchenpolitischen Kreisen ein Gerücht, der italienische Staatspräsident Gronchi, ein linker Christdemokrat, habe bei einem Besuch in Moskau von N. S. 
Chruschtschow einen Wink dahingehend bekommen, dass sich in Berlin demnächst etwas tun werde. Gronchi habe seine Information sofort an den Vatikan weitergegeben, und von dort sei umgehend reagiert worden: Der in Ost-Berlin nicht gern gesehene frühere Bischof von Würzburg, Döpfner, »der katholische Dibelius«, wurde Erzbischof in München; ein DDR-Bürger, Alfred Bengsch, übernahm das Amt des Berliner Bischofs und stattete Anfang November 1961 seine Antrittsvisite im Ministerrat ab. Es galt dies seinerzeit als weitsichtige, diplomatisch realistische Reaktion.

Konsolidierung erst nach zehn Jahren

Die Frage, wie die gesamtgesellschaftliche Situation nach dem 13. August von der Kirche zu bewältigen sei - für sie gab es keine euphorischen Antworten, wie sie anfänglich im kulturellen Bereich zu registrieren waren.

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Erst recht musste die Frage, welche kirchenrechtlichen und organisatorischen Instrumente zu handhaben seien, um trotz allem die Einheit der Kirche zu wahren, die Evangelische Kirche in Berlin (und Brandenburg) während der sechziger und siebziger Jahre in geradezu dramatischer Weise beschäftigen. Von der prekären Situation herausgefordert, wurde bemerkenswerter Weise allerdings nicht darauf verzichtet, diese einer tiefgehenden theologischen Analyse zu unterziehen, wobei der in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg in der BK-Tradition wirkende sogenannte Weißenseer Arbeitskreis eine eigenständige Position einnahm und 1962/63 »Sieben Sätze« gegenüber den (systemkritischen) »Zehn Artikeln« der Ostkonferenz der evangelischen Landes- und Provinzialkirchen formulierte. Ein Kernsatz (in VII.) lautete: »Im Glaubensgehorsam werden wir die politische Ordnung unserer Gesellschaft, den Staat, weder fürchten noch lieben, sondern uns an der Erfüllung seiner von Gott angeordneten Aufgabe beteiligen.«
     Vor diesem Hintergrund werden die Entscheidungen verständlich, die in der Evangelischen Kirche Berlin (und Brandenburg) in der Folgezeit gefällt werden mussten: Nachdem Präses Scharf aus der DDR verwiesen worden war,
blieb das Verweseramt zunächst unbesetzt - nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass unabhängig von den Ereignissen des 13. August seit einiger Zeit die Nachfolge von Bischof Dibelius erörtert bzw. geplant wurde. Tatsächlich stand auf getrennt tagenden Regionalsynoden in West-Berlin und in Ost-Berlin/ Brandenburg 1962 Scharf zur Wahl, erhielt aber keine Mehrheit, auch nicht in West-Berlin, dort offenbar unter dem Einfluss konservativer Synodaler. Daraufhin blieb Dibelius weiter im Amt, bis 1966 sein Gesundheitszustand den Rücktritt notwendig machte. Scharf trat neuerlich an, und jetzt wurde er mit insgesamt 195 von 234 Stimmen gewählt (auf der östlichen Regionalsynode bei neun Gegenstimmen und zwölf Enthaltungen).
     In der Zwischenzeit hatte am 6. Februar 1963 der Cottbusser Generalsuperintendent Günter Jacob, ein politisch unabhängiger und theologisch scharfsinniger Kirchenmann mit BK-Vergangenheit, das Verwalteramt übernommen, das er ziemlich optimistisch und mit einer auf die Gemeinden orientierten Konzeption (so in einem Interview mit mir in der »Neuen Zeit« alsbald nach der Aufnahme seiner Tätigkeit) anging. Es gab indes kirchenpolitisch und innerkirchlich so viele Querelen, dass Jacob schon nach drei Jahren, im zeitlichen Umfeld der Bischofswahl 1966, aufgab.
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     Nach einem kurzen Zwischenspiel der Vertretung durch den Synodalpräses, den Superintendenten des Kirchenkreises Berlin-Oberspree, Fritz Figur, einen von den DDR-Behörden gefürchteten Kirchenmann, übernahm der bisherige Eberswalder Generalsuperintendent Albrecht Schönherr, Schüler und Vertrauter Dietrich Bonhoeffers, das Verwalteramt, das freilich 1972 durch die Synode in das Amt des Bischofs von (Ost-) Berlin-Brandenburg verwandelt wurde. Damit war entsprechend den Grundlinien der »Sieben Sätze« des Weißenseer Arbeitskreises, mit dem Jacob und Schönherr in Verbindung standen, sowohl kirchenrechtlich wie kirchenpolitisch eine gewisse Konsolidierung eingetreten, also erst mehr als zehn Jahre nach dem 13. August 1961.
     Was die Hauptstadt der DDR im engeren Sinne angeht, so waren es die hier amtierenden Generalsuperintendenten, die je auf ihre Weise die von Synode und Bischof (sverwalter bzw. -verweser) vorgeschlagenen Grundlinien aufnahmen. Das waren in dem von uns zu beschreibenden Zeitraum zuerst Fritz Führ (seit 1956 bis 1963), dann Gerhard Schmitt (1964 bis 1974), Hartmut Grünbaum (1974 bis 1982) und schließlich Dr. Günter Krusche (1983 bis 1993), der kürzlich seinen 70. Geburtstag beging. Jeder dieser Generalsuperintendenten setzte seine eigenen Akzente: Führ, der 1958 an den zum bekannten »Kommuniqué«
geführten Verhandlungen mit Ministerpräsident Otto Grotewohl beteiligt gewesen war, stark geistlich-meditativ geprägte; Schmitt, der aus Thüringen kam, lutherisch-konfessionell; Grünbaum, Sohn des früheren Leiters der Hauptabteilung »Verbindung zu den Kirchen« beim Stellvertretenden Ministerpräsidenten Otto Nuschke und späteren Magdeburger Konsistorialpräsidenten, seelsorgerlich; und Krusche theologische mit ökumenischem Horizont.
     Allerdings wäre es irreführend, wenn man die Entwicklung des kirchlichen Lebens in Ost-Berlin nur von kirchenpolitischen Ereignissen und von seinem leitenden Personal her beurteilen würde; es müssten überdies im gesamtprotestantischen Umfeld auch die sogenannten freikirchlichen Gemeinden, zumal die baptistischen, methodistischen und die Herrnhuter in Betracht gezogen werden, Gemeinden mit einem stark ausgeprägten geistlichen Leben.
     Wenn ich es richtig sehe, sind es mindestens drei Ebenen, die wir ins Blickfeld zu nehmen haben, um eine annähernde Vorstellung von dem gewinnen zu können, was Kirchesein in der Hauptstadt der DDR in einem bestimmten Zeitraum heißt; diese drei Ebenen wiederum müssten, da Kirche ja nach Dietrich Bonhoeffer Kirche für andere sei, auf die Prozesse in der Gesamtbevölkerung bezogen werden.
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Drei Ebenen

Die erste dieser Ebenen - die synodale. Kirchenleitungen, Bischöfe, Generalsuperintendenten können gewiss theologisch und kirchenpolitisch motivierte Vorgaben machen, die Konsistorien können und müssen die rechtlichen, die kirchen- und die kirchenstaatsrechtlichen Aspekte beurteilen - allein entscheiden können sie nicht viel, und wenn in DDR-Zeiten Staatsfunktionäre leitende Kirchenmänner für dieses und jenes verantwortlich machen wollten, mussten sie eigentlich deshalb ins Leere laufen, weil hier der Hauptunterschied zwischen Staatsführung und Kirchenleitung lag: In den Kirchen hatte die demokratische Vertretung, hatten die gewählten Synodalen das letzte Wort (auch und gerade bei Wahlen, wie wir gesehen hatten, und, um dies hier einzuschieben, auch in der Absage an die Anfang der achtziger Jahre von Manfred Stolpe initiierte Vereinigte Evangelische Kirche in der DDR durch die Synode von Berlin-Brandenburg). Die konkreten Erfahrungen mit Parlamentarismus und Recht waren es denn auch, die nach der Wende 1989/90 kirchliche Vertreter zur Wahrnehmung unmittelbarer gesellschaftlicher Verantwortung geradezu einluden (Reinhard Höppner, langjähriger Synodalpräsident, als die Geschäftsordnung souverän beherrschender Volkskammer-Vizepräsident).
     Die zweite Ebene, die observiert werden muss, ist die des geistig-theologischen Diskurses in der Kirche und dessen Verifizierung in der kirchlichen Praxis - über die kirchlichen Zeitungen und Zeitschriften, also etwa die Berliner »Kirche« und die Monatszeitschrift

»Die Zeichen der Zeit« in eine begrenzte Öffentlichkeit hinein, und zwar nicht allein über kirchliche Sachentscheidungen, sondern über ethische Fragen, über die »letzten Fragen«. Das hieße also, dass in solchem Zusammenhang auch der wissenschaftlichen Theologie Aufmerksamkeit zu schenken wäre, in Berlin der damaligen Sektion, der heutigen Fakultät für Theologie (mit den Schwerpunkten der biblischen Wissenschaften, Ökumenik, Kirchengeschichte und Religionswissenschaft) und ebenso dem sogenannten Sprachenkonvikt, der damals von manchen Staatsfunktionären als »illegal« bezeichneten Kirchlichen Hochschule, an der u. a. Richard Schröder und Wolfgang Ullmann lehrten. Analoges gilt erst recht für die Evangelische Akademie, vor allem zu den Zeiten Elisabeth Adlers, die ein Ort weiträumigen Dialoges war, etwa mit Heinrich Böll und Walter Jens, mit Hans Mayer und Robert Jungk, aber auch mit Werner Finck. Zu dieser zweiten Ebene gehören die kulturellen Leistungen der Kirche mit der überregionalen Ausstrahlung der Berliner Evangelischen Verlagsanstalt und der Hauptbibelgesellschaft, mit dem stillen, aber segensreichen Dienst der kirchlichen Buchhandlungen etwa am Königstor und in der Sophienstraße, mit dem vor allem vom Kunstdienst (Dr. Hofmann) betreuten Kunstausstellungen in kirchlichen Räumen (mit Werken der einheimischen christlichen Künstler, aber auch mit einer zu seiner Zeit sensationellen Salvador-Dali-Ausstellung in der Marienkirche) und natürlich mit der auf höchstem Niveau stehenden Kirchenmusik, von deren hauptsächlichen Vertretern in Berlin ich nur die Namen Hildebrandt, Münch, Oertel und Weigle hinsetze.
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     Einer gesonderten Untersuchung wert wäre all das, was unter das Stichwort Diakonie zu subsumieren wäre, nicht allein in deren »klassischen« Feldern von Wichern her, sondern auch in der für die DDR so charakteristischen und von den Behörden geschätzten Behindertenarbeit - wenigstens möge hier die Stephanus-Stiftung genannt sein, mit ihrem langjährigen Leiter Willi Federlein, der ja überdies auch noch ein fulminanter »Hotelier« war: Christliches Hospiz in der Albrechtstraße, eine hervorragende Adresse in der Hauptstadt der DDR (nicht nur für Bischöfe).
     Damit habe ich noch lange nicht alles genannt, was kirchliches Leben in Ost-Berlin in dem zu beobachtenden Zeitraum ausmachte. Die Aktion Sühnezeichen, ein in der DDR singuläres Unternehmen echter Bewältigung der Vergangenheit in persönlicher Verantwortung, die Berliner Mission und (vom Rand her) die Christliche Friedenskonferenz mögen noch erwähnt sein, mit ihnen also Aktivitäten, die einen ökumenischen Charakter aufwiesen.
     Freilich: Es wären alle diese Erscheinungen auf der »zweiten Ebene« bodenlos gewesen, wenn sie nicht auf die dritte Ebene gewiesen hätten und von ihr beeinflusst gewesen wären, auf die der Gemeinde.
Eine Kirche - das ist die Lehre des Kirchenkampfes der dreißiger Jahre - wäre tot, wenn sie nicht auf lebendigen Gemeinden aufbauen könnte, was wiederum heißt: auf der Verkündigung des Wortes Gottes durch den Pastor und jetzt auch immer mehr die Pastorin, auf das geistliche und diakonische Handeln der Gemeinde und der von ihr gewählten Vertreter.
     Nun war es im allgemeinen sicherlich so, dass damals das kirchliche Leben im engeren Sinne, im sozusagen binnenkirchlichen, ohne Störungen verlaufen konnte. Das Problematische ergab sich dann aber an der Stelle, wo sich die Gemeinde zur Welt öffnen wollte, wo ihre Glieder buchstäblich aus der Kirche heraustraten und bekennerisch in der Öffentlichkeit auftraten. Diese Problematik war eine, grundsätzlich gesehen, ideologische, die aber für den einzelnen eine existentielle wurde, insbesondere für christliche Pädagogen, Studierende, Hochschullehrer/innen, aber auch schon für Kinder aus christlichen Elternhäusern, wenn es um die Zulassung zur EOS ging. Gravierend traten diese Erscheinungen im Zusammenhang mit der Jugendweihe auf, auch wenn seit den sechziger Jahre eine gewisse Entspannung (allerdings auf Kosten der Kirche) eingetreten war.
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Der 6. März 1978 und die Folgen

Es schien in den siebziger Jahren so zu sein, dass die kirchenpolitischen Rahmenbedingungen nicht nur gesellschaftspolitisch die mit dem 13. August 1961 gegebenen Komplikationen für die Kirche in Berlin (und Brandenburg) hätten mildern können; sie schienen auch für die Gemeinden Chancen zu bieten. Damit sind die Bildung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (als Konsequenz aus der neuen DDR-Verfassung von 1968) und das kirchenpolitische Spitzengespräch des Staatsratsvorsitzenden mit der Leitung des Kirchenbundes am 6. März 1978 gemeint (und natürlich sind auch die Auswirkungen des Wartburggespräches zwischen Walter Ulbricht und dem Thüringer Landesbischof D. Moritz Mitzenheim Mitte der sechziger Jahre zu berücksichtigen, insbesondere die der seit dieser Zeit möglichen Rentnerreisen).
     Allerdings erwiesen sich die auf solche kirchenpolitischen Grundsatzgespräche und -entscheidungen gesetzten Hoffnungen als ziemlich ambivalent, und zwar insofern, als die kritischen Gemeindeglieder etwa nach dem 6. März 1978 nicht nur die Staatsfunktionäre als ihr Gegenüber ansahen, sondern auch oft genug leitende kirchliche Persönlichkeiten. Von Anfang der achtziger Jahre an haben wir es dann mit der rasch und massiv um sich greifenden Bewegung einer »Kirche von unten« zu tun , die, insbesondere in der Hauptstadt

der DDR, eine vielfältige Gestalt annahm und den seit dem 1. Oktober 1981 als Nachfolger Albrecht Schönherrs amtierenden Bischof Dr. Gottfried Forck sowie den seit 1982 als Konsistorialpräsidenten tätigen bisherigen Sekretär des Kirchenbundes, Manfred Stolpe, vor schwierige Aufgaben stellte, zumal Forck, der, etwa zehn Jahre jünger als Schönherr, selber nicht mehr aus dem Kernbereich der BK kam und daher auch andere Akzente zu setzen bereit war, in einer Art Melange von Loyalität und Kritik gegenüber der Staatsmacht.
     Ich nenne nur die Stichworte, die damals virulent waren (in der alten BRD in den Schlagzeilen der Medien, in der DDR höchstens einmal in offiziösen ADN-»Kommentaren«): die Auseinandersetzungen um die damals vor allem von jungen Christinnen und Christen getragenen Plaketten »Schwerter zu Pflugscharen«, den Berliner Appell für eine atomwaffenfreie Zone in Europa von Pfarrer Rainer Eppelmann, der im Februar 1982 kurzzeitig inhaftiert wurde, die ebenfalls maßgeblich von Eppelmann organisierten Bluesmessen. Überhaupt war Eppelmann in der Sicht der DDR-Kirchenpolitiker schon in den frühen achtziger Jahren die Schlüsselfigur des (nicht nur) protestantischen Dissidentismus in Berlin. Alle diese Vorgänge haben nicht zuletzt mit dem zu tun, was zu seiner Zeit »konziliarer Prozess« genannt wurde - also die in allen Kirchen zu Tage getretenen Bemühungen um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
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Ich füge hinzu: Lesungen von Schriftstellern wie Stefan Heym und Auftritte von Freya Klier und Stephan Krawczyk sowie anderen regimekritischen Künstlern in Kirchengemeinden, Bildung von Umwelt- und Friedensgruppen (einschließlich -Bibliotheken). Einige Ostberliner Gemeinden waren bevorzugte Orte solcher Aktionen, zumal die Zions- und die Erlöserkirche, dann die Bartholomäuskirche am Friedrichshain für die »Kirche von unten« und die Treptower Bekenntniskirche (mit Pfarrer Hilse) als Versammlungsplatz von Ausreisewilligen.
     Im November 1987 sollte die Zionskirche (mit ihren Friedenswerkstätten) Mittelpunkt direkter Polizeiaktionen der hektischsten Art werden.
     Diese Vorfälle im November 1987 sind - auch vor dem Hintergrund der Perestrojka in der UdSSR - in der Rückschau als die Ouvertüre zu einer immer konkreter und mutiger werdenden Politisierung dieser kritischen kirchlichen Szene zu werten - auch hier kann ich nur die Stichworte nennen: Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1988, Wahlprüfungen durch Beobachter von Kirchengemeinden im Mai 1989, Polemik gegen die DDR-Solidarisierung mit den Vorgängen in Peking Juni 1989. All dies und anderes mündeten in die Ausreisebewegung
im Sommer 1989 und in die Demonstrationen im Frühherbst 1989, vor allem im zeitlichen Umfeld des 40. Jahrestages der DDR.

Kirche für alle, nicht für alles

Wenn damals in den Kirchen der DDR das Wortspiel »die Kirche ist für alle da, aber nicht für alles« eine tragende Bedeutung hatte, dann geht aus ihm einerseits hervor, dass in den Kirchen, gerade auch in der DDR-Hauptstadt, ein Sensorium dafür vorhanden war, den bürgerrechtlichen Impulsen in weiten Teilen der Bevölkerung Rechnung zu tragen, also für alle da zu sein, aber gleichzeitig darauf zu insistieren, dass bei der Bewertung aller Erscheinungen nicht von den Grund- und Ecksteinen des christlichen Glaubens abgesehen werden könne und dürfe.
     Ohne hierzu im Rahmen einer eher chronologisch bestimmten Betrachtung ein letztes Wort sagen zu können, ließe sich allerdings so viel hervorheben: Die besondere Attraktivität der Evangelischen Kirche in der DDR, zumal in ihrer Hauptstadt, in weiten Teilen der Gesamtbevölkerung in den achtziger Jahren war nicht allseits gedeckt von einer auch nur minimalen Affinität zum christlichen Glauben und seinen Werten.

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   75   Probleme/Projekte/Prozesse Kirche im Osten  Voriges BlattNächstes Blatt

Der Wiederaufbau des Berliner Doms, mit dem in den siebziger Jahren begonnen wurde, war selbst in Kirchenkreisen umstritten
Es war dies ein Politikum singulärer Natur, weil die Kirchen, als einzige legale Einrichtung nicht dem »demokratischen Zentralismus« unterworfen, eine Plattform für kritische, für dissidentische Haltung zu bieten imstande waren, und es blieb auch ein Politikum, wenn Exponenten der Kirchen 1989/90 zeitweilig gesellschaftliche und staatliche Funktionen (am »Runden Tisch« sowieso) übernahmen (der Berliner Pazifist Eppelmann sogar als letzter Verteidigungsminister der DDR). Der Grad der Säkularisierung, der in der DDR durch erst massive, dann sublimere atheistische Propaganda und Beeinflussung (Schulpolitik, Jugendweihe etc.) erreicht war, konnte auch nicht durch diese Politika »gesenkt« werden.
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Im Gegenteil erhöhte er sich, als schon im Vorfeld der Einigung 1990 die altbundesdeutsche Regelung des Kirchensteuersystems auf die neuen Länder übertragen wurde, und mit ihr wurden die irgendwie noch mit der Kirche verbunden gewesenen DDR-Bürger und -bürgerinnen auf die Standesämter getrieben, um dort den Kirchenaustritt zu beantragen.
     Analoges gilt für den im Laufe der neunziger Jahre immer deutlicher werdenden Triumph der (wie auch immer mit der früheren verwandten oder auch nicht verwandten, jedenfalls säkularen) Jugendweihe.

Der Dom als Symbol

Zu einem nicht unbedingt immer synchronen Symbol für kirchliches Leben in der Hauptstadt der realsozialistischen DDR wurde der in den siebziger Jahren begonnene Wiederaufbau des Berliner Doms. Der 1905 geweihte Dom galt nicht nur als ein sakrales Gegenüber zum säkularen Reichstag, sondern - in der Nähe des Schlosses - als architektonischer Ausdruck imperialen Anspruchs des deutschen Protestantismus, konkurrierte er doch in seiner imposanten Architektur mit der römischen Peterskirche, der anglikanischen St. Paul's Cathedral in London und der orthodoxen Isaakskathedrale in Sankt Petersburg.

Daher auch gab es genügend Kirchenleute in Berlin, die - von Bonhoeffer herkommend - dem Wiederaufbau des Doms keinen Geschmack abgewinnen konnten; sie wollten lieber Gemeindezentren, vor allem in den Neubaugebieten (die dann auch an einigen Stellen, so im Fennpfuhl, genehmigt wurden). Umgekehrt musste die Symbiose des Doms mit dem Palast der Republik für Exponenten des realen Sozialismus als problematisch erscheinen (auch wenn ihnen die Symbiose womöglich damit plausibel gemacht werden konnte, dass der Palast der Republik aus statischen Gründen ein solches Pendant brauche, noch eine Art »Schloßabriß« konnte man sich nicht leisten). Als dann der Wiederaufbau, von den Kirchen in der Bundesrepublik massiv unterstützt, Konturen annahm, schienen in der Hauptstadt der DDR alle irgendwie zufrieden zu sein.
     Natürlich konnten sie nicht ahnen, dass mit dem wiederaufgebauten Dom der Ort für das kirchliche Zeremoniell der »Berliner Republik« vorbereitet worden war. Deren (wiederum nicht »synchronisierte«) Vorboten waren schon vor 1989 die Vertreter des Hauses Hohenzollern gewesen, die über die Gestaltung der Domgruft verhandelten, also darüber, wie dort die Särge der Hohenzollern aufzustellen wären.

Foto: LBV/ D. Christel

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
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