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Hubert Laitko
Robert Havemann: Der Weg in die Dissidenz (1961-1965)

Als die Berliner Mauer gebaut wurde, der es beschieden war, zum Symbol der DDR zu werden, befand sich unter den Mitgliedern der Volkskammer auch der einundfünfzigjährige Physikochemiker Robert Havemann (1910-1982), der innerhalb der ausgeklügelten Struktur dieses nahezu machtlosen Repräsentationsorgans der Fraktion des Kulturbundes angehörte. Das Volkskammermandat war nur eines von vielen teils politischen, teils wissenschaftlichen Ämtern, die der für seine fotochemischen Forschungen in der Fachwelt anerkannte Nationalpreisträger innehatte. In der Öffentlichkeit der DDR war sein Name bekannt. Seine Popularität dankte er schwerlich seiner Ämterhäufung - Multifunktionäre waren in der DDR keine Seltenheit -, sondern eher zwei ganz anderen Umständen, die seine Persönlichkeit wesentlich prägten.
     Zum einen kannte man ihn als Mitinitiator der Widerstandsgruppe »Europäische Union«, der im Dezember 1943 vom Nazi-»Volksgerichtshof« zum Tode verurteilt und im Frühjahr 1945

von der Roten Armee aus der Todeszelle im Zuchthaus Brandenburg-Görden befreit worden war. In der Bevölkerung wusste man unter den Prominenten, die sich in Wort und Schrift für die DDR einsetzten, genau zu unterscheiden zwischen jenen, die für ihre Gesinnung den Kopf hingehalten, und jenen, die unter den neuen Machtverhältnissen einfach nur Karriere gemacht hatten. Bei einer Persönlichkeit wie Havemann werden auch Menschen, die dem politischen System der DDR skeptisch oder kritisch gegenüberstanden, die Aufrichtigkeit der bekundeten Überzeugungen nicht bezweifelt haben. Im Westen galt er weithin als vorbehaltloser Protagonist der DDR-Politik. 1962 wurde er auf eine Liste von 90 Personen gesetzt - »prominente Vertreter des Pankower Unrechtsstaates, die künftig auf Anweisung der alliierten Kommandantur West-Berlin nicht mehr betreten dürfen«.1)
     Eine Wortmeldung, die das politische System der DDR eindeutig befürwortete, war auch noch Havemanns im Juli 1962 erschienener Aufsatz »Mein Stolz als Wissenschaftler der DDR«. Er wurde in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift »Wissenschaft und Fortschritt« publiziert, deren Redaktionskollegium er angehörte. Diese Seite seiner vielfältigen Aktivitäten weist auf den zweiten Grund seiner Popularität hin. Er zählte zu der nicht allzu häufigen Spezies von Wissenschaftlern, die die Gabe und die Neigung besaßen, sich auch außerhalb ihrer Fachkreise gegenüber einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.
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Wer »Wissenschaft und Fortschritt« las - und dieses Journal wurde gern gelesen -, der kannte Havemann als Autor; in der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse war er ein begehrter Referent.

Ausbruch aus der Konformität

»Seit meiner Jugend stehe ich auf der Seite der Arbeiterklasse, und seit meiner Jugend kämpfe ich für den Sozialismus, weil ich ein Wissenschaftler bin und meine, dass sich die Wissenschaft nur im Sozialismus frei und schöpferisch entfalten kann und dass der Wissenschaftler nur im Sozialismus arbeiten kann, ohne mit seinem Gewissen in Konflikt zu kommen.«2) Dieses im Sommer 1962 abgegebene Bekenntnis Havemanns zur DDR war gewiss keine Maskerade, doch in Kenntnis seines weiteren Lebenslaufes liest es sich als ein zu dieser Zeit bereits verzweifelter Versuch, trotz zunehmender Zweifel an einer Sache festzuhalten, der er seine ganze Kraft und Leidenschaft gewidmet hatte.
     Ein ganzes Jahrzehnt, das hat Havemann später selbst offen bekannt, glaubte er bedingungslos an die Integrität Stalins und die Zukunftsträchtigkeit der Ordnung, für die Stalins Name stand: »Heute erscheint mir die Geistesverfassung, in der ich mich damals


Robert Havemann mit Tochter Franziska um 1979

befand, als geradezu lächerlich. Damals war sie das aber keineswegs ... Wir hatten einen jahrzehntelangen schweren Kampf hinter uns. An einem Abschnitt dieses Kampfes, der ein Kampf auf Leben und Tod war, hatte ich in der antifaschistischen deutschen Widerstandsbewegung teilgenommen. Meine besten Freunde waren in diesem Kampf gefallen. Der Zusammenbruch des verhassten Hitlerregimes war ein großer Sieg unserer guten Sache.

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Er war unter der Führung Stalins errungen worden. Meine Befreiung aus dem Zuchthaus, mein Leben, mein Denken - alles verdankte ich der Partei, verdankte ich Stalin.«3) Die Enthüllungen des XX. Parteitages der KPdSU, die diesen Glauben zerstörten, hatten Havemann wie viele andere seiner Genossen tief erschüttert, doch der Umstand, dass die sowjetische Partei selbst die Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen in Angriff genommen hatte, ließ ihm die Hoffnung, die kommunistische Bewegung könnte stark genug sein, mit dieser schmachvollen Last fertig zu werden und sich von Grund auf zu erneuern.
     Die verschiedenen Vorstöße, die Havemann - auch durch temporäre Phänomene eines politischen und ideologischen »Tauwetters« ermutigt - in den folgenden Jahren vor allem auf philosophischem und hochschulpolitischem Gebiet unternahm, lassen sich als Versuche verstehen, diese Erneuerung in Gang bringen zu helfen, zunächst noch nicht in den Fundamenten der Politik, wohl aber auf den Gebieten, für die er sich am meisten kompetent und zuständig fühlte. Offenbar billigte er auch die damals durchaus nicht nur unter stalinistischen Hardlinern verbreitete Überlegung, dass die offene Grenze zur Bundesrepublik, über die ständig und in großer Zahl DDR-Bürger aus dem reparationsgebeutelten Osten in den
Marshallplan-gesegneten Westen wechselten und dabei in ihren bisherigen Verantwortungsbereichen verwaiste Arbeitsplätze hinterließen, unter den Bedingungen eines extrem zugespitzten Kalten Krieges eine selbstbestimmte sozialistische Erneuerung außerordentlich erschwerte. Repression und Mangel provozierten den Entschluss zur Flucht, die Massenflucht wiederum schürte das Misstrauen im Innern und veranlasste die Führung des Staates, den politischen Druck zu verstärken - ein Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien.
     Ebendeshalb brachte Havemann auch in späteren Jahren, als er längst zu einem scharfen Kritiker des politischen Systems der DDR und seiner Repräsentanten geworden war, dem Entschluss zum Mauerbau noch ein gewisses historisches Verständnis entgegen. So schrieb er 1977 in einem Rückblick auf zwanzig Jahre DDR nach dem Beginn der Distanzierung von Stalins Erbe: »Vor dem Bau der Mauer im Jahre 1961 befand sich die DDR in der tödlichen Gefahr einer fortschreitenden Ausblutung durch die zunehmende Flucht ihrer qualifiziertesten Arbeiter, Techniker und Wissenschaftler in den Westen ... Der Bau der Mauer wurde die letzte Rettung ... Anfänglich schien es noch so, als ob innerhalb der durch die Mauer für die staatliche Existenz geschaffenen größeren Sicherheit nun ein freieres geistiges Klima möglich sein würde.«4)
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     Ein erster Test darauf, ob es sich wirklich so verhielt, war ein Vortrag, den Havemann im September 1962 auf der Tagung »Die fortschrittlichen Traditionen in der deutschen Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts« in Leipzig hielt. Darin beantwortete er die rhetorische Frage »Hat Philosophie den modernen Naturwissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme geholfen?« für den kathederoffiziellen dialektischen Materialismus in einer scharfen Polemik strikt negativ und schloss seine Ausführungen mit dem bemerkenswerten Satz: »Wir werden die Engherzigkeit und Unfruchtbarkeit im Bereich der Philosophie überwinden, sobald auch unsere Philosophen es als das größte Glück empfinden werden, wenn in der Wirklichkeit etwas entdeckt wird, das unvereinbar ist mit ihren bisherigen Ansichten.«5)
     Spätestens damit hatte Havemann den grenzenlosen Gehorsam kommunistischer Parteidisziplin aufgekündigt. Seine Rede endete mit einem Eklat, es hagelte nur so von Antisowjetismus- und Revisionismus-Vorwürfen, und der Text wurde nicht in das Tagungsprotokoll aufgenommen. Damit wurde ihm eine sachliche öffentliche Diskussion seiner zunehmend vom marxistisch-leninistischen Mainstream abweichenden Ansichten versagt - zunächst in diesem einen Fall, bald schon allumfassend.
Die Schicksalsvorlesung

Für den Hochschullehrer Havemann war das Halten von Vorlesungen das tägliche Brot. Hauptsächlich las er über sein engeres Fachgebiet an dem von ihm geleiteten Universitätsinstitut für Physikalische Chemie in der Bunsenstraße, doch er trug auch über allgemeiner interessierende Fragen vor. Die Leipziger Erfahrungen hatten ihn zwar enttäuscht, aber nicht entmutigt. Er war auch durchaus bereit, für eine demokratische Erneuerung des Sozialismus in der DDR, die ihm wichtiger erschien als die eigene ungestörte Karriere, ein persönliches Risiko einzugehen. Darauf, dass er dies zu tun im Begriff war, machte ihn zu Beginn des Herbstsemesters sein Ausschluss aus der SED-Universitätsparteileitung, der er bis dahin angehört hatte, am 29.August 1963 nachdrücklich aufmerksam.6) Wie groß dieses Risiko aber tatsächlich war, dürfte er damals schwerlich ermessen haben. Auch geschah in jenen Jahren manches, das für die Vermutung sprach, unter dem Schirm der Mauer könnte sich in vorsichtigen Schritten eine innere Demokratisierung der DDR anbahnen. 1963 erschien Christa Wolfs Roman »Der geteilte Himmel«, der die tragischen Folgen der deutschen Spaltung für die zwischenmenschlichen Beziehungen mit einer Offenheit und Tiefe behandelte, wie es nie zuvor in der DDR-Literatur geschehen war.

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Mit viel Engagement wurde am Neuen Ökonomischen System gearbeitet, dem weitreichendsten Versuch in der DDR-Geschichte, der Wirtschaft mehr Flexibilität zu verleihen, und die Tatsache, dass Walter Ulbricht selbst diese Wirtschaftsreform protegierte, gab Anlass zu Hoffnungen.
     Das alles mag Havemann ermutigt haben, in seiner im Studienjahr 1963/64 für Hörer aller Fakultäten gehaltenen Vorlesung »Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme« an einigen brisanten Stellen deutlich über den Naturwissenschaftsbezug hinauszugehen. Es war die Vorlesung eines Marxisten, deren Aufbau im Großen und Ganzen dem üblichen Kategorienschema der Dialektik entsprach. Darin waren aber auch Passagen wie die folgende enthalten: »Ein Wesenszug der Demokratie, sagt man, ist die Freiheit der Meinungsäußerung. Echte Freiheit der Meinungsäußerung besteht aber nur dann, wenn sie dazu dient, die Freiheit der Meinungsbildung zu sichern. Man darf die Menschen nicht konfektionieren und behördlich genehmigten Ansichten unterwerfen, was nur zu schematischem und oberflächlichem Denken verführt. Wir müssen durch umfassende Information die Öffentlichkeit immer mehr qualifizieren, die Zusammenhänge zu begreifen. Wir müssen eine breite Auseinandersetzung über alle Fragen der Zeit herbeiführen. Nur so wird die ungeheure Kraft der Volksmassen
produktiv schöpferisch und wird sich nicht in zerstörerischer Auseinandersetzung entladen. Wer sich vor den Folgen einer allgemein uneingeschränkten Information fürchtet und sie darum behindert, schafft dadurch gerade die Bedingungen für eine unheilvolle Entwicklung. Womit sich eine alte These der griechischen Tragödie bewahrheitet, dass der Mensch sein Schicksal dadurch herbeiführt, dass er es abzuwenden trachtet.«7)
     Die Hörer verstanden natürlich, wer die ungenannten Adressaten dieser - wie sich ein Vierteljahrhundert später zeigte, durchaus prophetischen - Worte eigentlich waren.
     Schnell sprach sich herum, welche ungewohnten Töne in einem Hörsaal der Humboldt-Universität zu vernehmen waren, und die alle Erwartungen übersteigende Zunahme der Hörerzahl nötigte Havemann, die Vorlesung aus seinem Institut in den größten Hörsaal der Chemiker, den Emil-Fischer-Hörsaal in der Hessischen Straße, zu verlegen. Auch dieser Raum war alsbald überfüllt, die keineswegs nur aus Berlin kommenden Hörer okkupierten Fensterbretter und Treppenstufen. An die 1 250 Hörer, die sich namentlich in Listen eingetragen hatten, ließ Havemann nach Tonbandmitschnitten angefertigte und mit der archaischen Kopiertechnik jener Zeit vervielfältigte Skripten ausgeben, sodass die aufregenden Stellen in Ruhe nachgelesen werden konnten.
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Sicher entsprang es in erster Linie taktischem Kalkül, dass Havemann weder einzelne Mitglieder des Politbüros noch das Politbüro als ganzes namentlich angriff; hätte er das getan, wäre die Vorlesung sofort beendet gewesen. Aber jenseits aller Taktik mochte er darauf gehofft haben, dass sich die Führung der Partei, der er selbst angehörte, letzten Endes als lernfähig erweisen würde - wenn nicht aus eigenem Antrieb, so unter dem Druck der gesellschaftlichen Veränderungen, zu denen nicht zuletzt auch das Stattfinden dieser Vorlesung und ihr Massenzuspruch gehörten. Diese Hoffnung war nicht unbegründet, doch die Option, auf die sie sich stützte, konnte sich historisch nicht durchsetzen. Vielmehr verstärkten in der Führung der SED diejenigen Kräfte ihre Position, die den Schlüssel für die Zukunft der DDR im Ausschluss ideologischer Pluralität, im Verzicht auf gesellschaftliche Experimente (in diesem Zusammenhang wurde auch das Neue Ökonomische System zu Fall gebracht) und im exzessiven Ausbau des politischen Machtapparates in allen seinen Verzweigungen sahen. Havemann wurde ein Opfer dieser Entwicklung.
     Der unerwartete Erfolg seiner Vorlesung, der als ein Symptom gesellschaftlicher Gärung verstanden werden musste, alarmierte die Machtzentralen. Es war aber ohne internationales Aufsehen nicht möglich, die Vorlesung einfach zu verbieten, denn auch in der DDR gab es kein Gesetz, das die traditionelle Lehrfreiheit
des Hochschullehrers außer Kraft gesetzt hätte. Um die missliebige Vorlesung mit einem Schein von Legitimität stoppen zu können, musste man Havemann eine Tat nachweisen, die als Zuwiderhandeln gegen geltende Anordnungen ausgelegt werden konnte. Die Gelegenheit dazu ergab sich bald; inwieweit dabei vielleicht auch nachgeholfen wurde, steht dahin.
     Anfang Februar 1964 wurde auf dem 5. Plenum des ZK der SED zur ideologischen Attacke gegen Havemann geblasen. Hanna Wolf, die auf die Rolle höchster klassenkämpferischer Unversöhnlichkeit abonniert war, forderte bereits das Verbot der Vorlesung.
     Noch drastischer als die rhetorischen Übungen zeigte die kurz vor dem Plenum erfolgte Abberufung von Werner Tzschoppe, der bis dahin seine Hand über Havemann gehalten hatte, aus der Funktion des Ersten Sekretärs der Universitätsparteileitung, dass es nun ernst wurde. Am 11. März war es so weit: Das »Hamburger Echo am Abend« druckte ein Interview mit Havemann, der gesuchte Stein des Anstoßes hatte sich gefunden. In der DDR war es Personen im Staatsdienst - und wer war das nicht? - strikt untersagt, ohne Genehmigung vorgesetzter Dienststellen in westlichen Medien zu veröffentlichen oder ihnen Interviews zu geben. Man brauchte gar nicht darauf einzugehen, was Havemann zu sagen hatte - entscheidend war, dass er (in diesem Fall: vermeintlich) eine geltende Vorschrift verletzt hatte.
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     Damit war auch das Schema vorgeprägt, nach dem alle weiteren Repressionsmaßnahmen gegen ihn konzipiert wurden. Obwohl in der DDR viel von ideologischer Auseinandersetzung die Rede war, fand eine solche - also das inhaltliche Eingehen auf Ansichten und Argumente - hier kaum statt, sondern wurde auf die formelle Ebene der Einhaltung oder Nichteinhaltung von Vorschriften umgelenkt. Nicht wegen seiner politischen Äußerungen, so sollte es aussehen, wurde Havemann sanktioniert, sondern weil er gegen bestehende Vorschriften verstoßen hatte. Schließlich war es in keinem Staat der Welt möglich, staatlichen Regelungen ungestraft zuwiderzuhandeln.

Vom Prominenten zur Unperson

Als einem politisch erfahrenen Hochschullehrer waren Havemann die in der DDR bestehenden Vorschriften natürlich bekannt. Er bestritt, überhaupt ein Interview gegeben zu haben, auch wenn es seine Äußerungen waren, die in dem Hamburger Blatt als Antworten auf Fragen eines Journalisten hingestellt wurden, welcher - so Havemann - »mich einige Tage zuvor in meinem Institut besucht hatte und sich nicht als Journalist, sondern als interessierter Zuhörer meiner Vorlesungen mit mir über einige Fragen unterhalten wollte«.8)

Dass ein Professor auf Fragen zu seinen Vorlesungen eingeht, auch in persönlichen Gesprächen mit Hörern, ohne zuvor deren Identität zu prüfen, war auch in der DDR allgemein üblich. Wer hatte Havemann da eine Falle gestellt? Jedenfalls gibt das »Interview« einigen Aufschluss über seine damalige Position und die Strategie, die er zu verfolgen dachte. Auf die Bemerkung des Fragestellers, in der Bundesrepublik würden ihn manche als einen grundsätzlichen Gegner der DDR bezeichnen, erwiderte Havemann: »Nicht als Enttäuschter des sozialistischen Gedankens, sondern als sein überzeugter Anhänger fordere ich die restlose Überwindung von Stalinismus und Dogmatismus in allen Erscheinungsformen. Das Ziel muss eine Gesellschaftsordnung sein, in der der freiheitliche Sozialismus verwirklicht ist.« Als sein Gesprächspartner Ähnlichkeiten mit dem Programm von Wolfgang Harich zu bemerken meinte, wies Havemann ihn auf einen wesentlichen Unterschied hin: Harich habe in seiner Methode »einen unentschuldbaren Fehler gemacht: Seine Gruppe hat konspirativ gearbeitet. Das kann keine Staatsordnung dulden. Mir dagegen kommt es darauf an, in aller Öffentlichkeit über Missstände zu diskutieren.«9)
     Danach könnte die Strategie, die Havemann für die DDR zweckmäßig erschien, in äußerster Verknappung so beschrieben werden:
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Demokratisierung des Sozialismus von innen her in voller Offenheit und Öffentlichkeit. Dem in der politischen Praxis des »Realsozialismus« ausgeprägten Hang zum Konspirativen, der immer mehr auswucherte, wollte er als wirksames Gegenmittel vollkommene Öffentlichkeit entgegensetzen. Es ist nicht ohne Reiz zu erwägen, wie die deutsche und europäische Geschichte weiter verlaufen wäre, hätte sich die DDR in den frühen sechziger Jahren auf den von Havemann skizzierten Entwicklungspfad begeben. Die politische Macht war indes nicht bereit, eine so weitgehende Öffnung auch nur andeutungsweise in Erwägung zu ziehen. Havemann hatte einen Rubikon überschritten, der ihn endgültig von seinen früheren Genossen trennte. Die Differenzierungen, die es in der politischen Führung der SED durchaus gab, auch wenn sie nach außen sorgfältig unter der Decke gehalten wurden, spielten gegenüber Havemann keine Rolle mehr, in seiner Verurteilung bestand Konsens.
     Wenige Stunden nach dem Erscheinen des »Interviews« reichten aus, um Havemanns Tätigkeit an der Humboldt-Universität zu unterbinden. Am 12. März sprach der zuständige Staatssekretär seine fristlose Entlassung als Professor aus, verbunden mit einem Lehr- und Forschungsverbot an dieser Alma mater und einem sofort in Kraft tretenden Hausverbot für das von ihm bis dahin
geleitete Physikalisch-Chemische Institut. Am gleichen Tag verfügte die Universitäts-Parteileitung seinen Ausschluss aus der SED. Nur der Philosoph Wolfgang Heise widersetzte sich diesem Beschluss, der übrigens statutenwidrig war, da ein Ausschluss aus der SED statutengemäß eines Parteiverfahrens in der zuständigen Grundorganisation bedurft hätte. Erst am 28. November 1989, drei Wochen nach dem Fall der Mauer, revidierte die Zentrale Parteikontrollkommission der - bereits in Auflösung befindlichen - SED den Willkürakt mit dem Beschluss: »Die heutige Überprüfung seiner Parteiangelegenheit ergab, dass Genosse Robert Havemann zum damaligen Zeitpunkt politisch richtige Einschätzungen und Wertungen der Politik der Partei vorgenommen hat. Er wird posthum rehabilitiert.«10)
     Die beabsichtigten Folgen dieses außerordentlichen Kraft- und Gewaltaktes lagen auf der Hand: Havemann sollte künftig keine Möglichkeit mehr haben, sich in der Öffentlichkeit der DDR zu äußern. Dennoch hielt er sich im Fall seiner Vorlesungen noch an die Regularien, wonach jedes in der DDR geschriebene Buchmanuskript zunächst DDR-Verlagen zum Druck anzubieten war. In dem vom 11. April 1964 datierten Vorwort hieß es: »Dieses Buch ist ein kommunistisches Buch. Aber es wendet sich an Menschen jedweden Glaubens und jedweder politischen Richtung.
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Es erheischt nicht kritiklose Zustimmung, sondern fordert zum Widerspruch auf, zum Zweifel. Nur durch den Zweifel am Alten überwinden wir das Alte und bewahren uns doch seinen Reichtum, und nur durch den Zweifel am Neuen gewinnen wir das Neue und erhalten es am Leben.«11)

Entstehen einer Ersatzöffentlichkeit

Die SED-Führung rechnete zunächst damit, dass der Doppelschock des Parteiausschlusses und der fristlosen Entlassung hinreichen würde, Havemanns kritische Stimme zum Schweigen zu bringen, während seine fachliche Kompetenz als Physikochemiker weiter im Interesse der DDR genutzt werden sollte. Die Leitung der Arbeitsstelle für Fotochemie an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die er bis dahin im Nebenamt ausgeübt hatte, wurde ihm - mit einem für jene Zeit üppigen Gehalt - hauptamtlich übertragen. In dieser Stellung, in der er keinen Kontakt mehr zu Studenten erhielt, hätte er sich mit dem politischen System der DDR arrangieren können, wenn er sich auf die Rolle eines ausschließlich seinen fachlichen Problemen lebenden Nurspezialisten zurückgezogen hätte.
     Zu diesem Kompromiss, der den Verrat an seinem ganzen bisherigen Leben bedeutet hätte, fand er sich jedoch nicht bereit. Nachdem die Öffentlichkeit der DDR für ihn verschlossen war, standen ihm die Medien der Bundesrepublik offen; verschiedene westdeutsche Intellektuelle waren ihm in den Folgejahren behilflich, seine Texte dorthin zu übermitteln.

Der Entschluss, diese Kanäle zu nutzen, fiel ihm jedoch keineswegs leicht. Er achtete zwar die in der Bundesrepublik realisierte parlamentarisch-demokratische Ordnung und das ihr eigene Prinzip der Gewaltenteilung, die er mit dem gesellschaftlichen Eigentum an Produktionsmitteln verknüpft sehen wollte, doch er akzeptierte keineswegs die Dominanz des kapitalistischen Privateigentums. Der Bruch mit der in der DDR herrschenden Funktionärskaste und dem von dieser repräsentierten politischen System bedeutete für Havemann keineswegs die Lossage von der DDR als Projekt einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus.
     Ihm war daran gelegen, in der DDR zu bleiben und zu wirken. Die westlichen Medien waren für ihn eine Art Ersatzöffentlichkeit. Dabei war er sich darüber im klaren, dass ein erheblicher Teil der ihm dort gewährten Unterstützung nicht dem Wunsch entsprang, den DDR-Sozialismus zu demokratisieren, sondern weit eher dem Motiv, die DDR gänzlich zu beseitigen, doch das Anliegen, die Chance eines demokratischen Sozialismus offen zu halten, rechtfertigte für ihn den Kompromiss, den er mit der Annahme dieser Hilfe einging. 1973 schrieb er in einem Aufsatz, er publiziere in erster Linie für die DDR und die Länder des Sozialismus, und er könne dies gerade deshalb wirkungsvoll tun, weil er in der DDR lebe und ihr nicht als ein äußerer Kritiker gegenübertrete: »So könnte ich zum Beispiel das, was ich publizieren will, gar nicht im Westen publizieren, wenn ich nicht hier in der DDR wäre.
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Das klingt vielleicht paradox, ist es aber nicht. Wenn ich ein Feind der DDR und des Sozialismus wäre, dann wäre es ganz selbstverständlich, wenn ich in jenes Wunderland der Freiheit und des Wohlstands hinüberwechselte und dort ätzende Anklagen gegen das System der neostalinistischen Unterdrückung veröffentlichte. Aber ich bin gerade das Gegenteil, ein Freund der DDR und überzeugter Sozialist.«12)
     Das Erscheinen von »Dialektik ohne Dogma?« ließ ihn in der Bundesrepublik zu einer bekannten Persönlichkeit werden. Leute, die sich nach Verlassen der DDR strikt vom sozialistischen Gedanken distanzierten, kannte man dort in Fülle; Menschen, die in einen grundsätzlichen politischen Konflikt mit der DDR-Obrigkeit geraten waren, sich aber dennoch weiterhin als Sozialisten oder gar Kommunisten verstanden und darauf beharrten, in der DDR zu bleiben, waren eine Aufmerksamkeit erheischende Rarität. Havemann erhielt Einladungen zu Vorträgen, denen er nicht nachkommen durfte, und Interviewwünsche von namhaften Blättern. Im Dezember 1964 erfüllte er einen solchen Wunsch des »Spiegel«.13)
     Die Reaktion der DDR-Behörden war eine zweifache. Der inoffizielle Teil war eine Vorladung Havemanns in das Büro des Ministerrats am 5. Februar 1965, wo ihm eine Erklärung verlesen (nicht schriftlich ausgehändigt!) wurde, die mit folgenden Sätzen schloss: »Es wird von Ihnen erwartet, dass Sie sich künftig ganz Ihren wissenschaftlichen Arbeiten auf dem
Gebiet der Fotochemie widmen und alles unterlassen, was dem Ansehen der DDR Schaden zufügt, insbesondere haben Sie keine Beziehungen zu Korrespondenten aus Westdeutschland und anderen kapitalistischen Ländern zu unterhalten. Sollte dies nicht geschehen, so sind Sie selbst für die sich daraus ergebenden Konsequenzen verantwortlich.«14) Der öffentliche Teil der Reaktion war eine polemisch kommentierte Gegenüberstellung von Havemann-Äußerungen aus den Nachkriegsjahren und solchen aus jüngster Zeit in der Studentenzeitung »Forum«, zu der der pseudonyme Verfasser bemerkte: »Damals übertrieb er seine Auffassungen bis zum dogmatisch-scholastisch-administrativen geistigen Exzess, heute übertreibt er seine Thesen, die ursprünglich aus einer ehrlichen antidogmatischen Einsicht entstanden sein mögen, so sehr, dass sie in politischen Revisionismus einmündeten.«15) Havemann dachte nicht daran, seine früheren prostalinistischen Äußerungen zu bagatellisieren; er gab seiner Erwiderung, die den Rang einer knappen Lebensbilanz hatte, den Titel »Ja, ich hatte Unrecht. Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde.« Das »Forum«, das zur Arena des gegen ihn gerichteten publizistischen Angriffs gedient hatte, druckte seine Entgegnung freilich nicht. Sie erschien im Mai 1965 in der Hamburger Wochenzeitung »DIE ZEIT«.
     (Über die Zeit der Isolation Robert Havemanns von 1965-1982 berichtet der Autor in einer der nächsten Ausgaben.)
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Quellen und Anmerkungen:
1 Robert Havemann. Dokumente eines Lebens. Zusammengestellt und eingeleitet von Dirk Draheim, Hartmut Hecht, Dieter Hoffmann, Klaus Richter, Manfred Wilke, Berlin 1991, S. 283, Dokument 4-29: Hermann Kuhn, Robert Havemann und die westdeutsche Öffentlichkeit. Aus einem Arbeitsmaterial (Bremen, 12. 10. 1990), hier unter Bezugnahme auf eine Meldung der »Morgenpost« vom 5. 7. 1962
2 Robert Havemann, Mein Stolz als Wissenschaftler der DDR (1962), in: Robert Havemann. Texte. Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde, hrsg. von Dieter Hoffmann und Hubert Laitko, Berlin 1990, S. 177 ff.
3 Robert Havemann, Ja, ich hatte Unrecht. Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde (1965), in: Robert Havemann. Texte, a. a. O., S. 194
4 Robert Havemann, Die DDR in den zwanzig Jahren nach Stalins Sturz (1977), in: Robert Havemann. Texte, a. a. O., S. 240 ff.
5 Robert Havemann, Hat Philosophie den modernen Naturwissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme geholfen?, in: Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma? Aufsätze, Dokumente und die vollständige Vorlesungsreihe zu naturwissenschaftlichen Aspekten philosophischer Probleme, hrsg. von Dieter Hoffmann, Berlin 1990, S. 45 ff.
6 Zu den Hintergründen dieser Maßnahme vgl. Dieter Hoffmann, Der Physikochemiker Robert Havemann (1910-1982) - eine deutsche Biographie,in: Naturwissenschaft und Technik in der DDR, hrsg. von Dieter Hoffmann und Kristie Macrakis, Berlin 1997, S. 319 ff.
7 Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma?, a. a. O., S. 93 f.
8 Robert Havemann, Ein deutscher Kommunist. Rückblicke und Perspektiven aus der Isolation, hrsg. von Manfred Wilke, Reinbek b. Hamburg 1978, S. 18
9 Wir Deutschen machen alles besonders gründlich (1964), in: Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma?, a. a. O., S. 7
10Vorwort des Herausgebers, in: Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma?, a. a. O., S. 63
11Ebenda
12Robert Havemann, Im Westen drucken, den Osten verändern. Schreiben für die DDR, in: Robert Havemann. Dokumente eines Lebens, a. a. O., Dokument 4-4, S. 247 f.
13Robert Havemann, Der Marxismus leidet an Sklerose, in: »Der Spiegel« 18 (1964) 51, S. 37 ff.
14Die Entlassung. Robert Havemann und die Akademie der Wissenschaften 1965/66, hrsg. von Silvia Müller und Bernd Florath, Berlin 1996, Dokument Nr. 6, S. 102
15Hermann Knappe, Weder Sklerose noch Osteomalazie, in: Forum, Jg. 1965, Nr. 2

Bildquelle: Repro LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
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