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Peter Bender
»Vom Westen verraten?«

Der Bau der Mauer im August 1961

Fünffach hat der Mauerbau das westliche Berlin erschüttert. Er schürte Angst vor dem Osten und verursachte tiefe Erbitterung gegen ihn, er enttäuschte vom Westen, beraubte die Inselstadt der meisten gesamtdeutschen Funktionen und brachte sie in eine Notlage, die zu ganz neuen Notmaßnahmen zwang.
     Die Angst war unbegründet, aber verständlich. Ein Jahrzehnt zuvor war West-Berlin elf Monate lang blockiert gewesen, seit Ende 1958 war es von Chruschtschows (1894-1971) Ultimaten bedroht, die darauf zielten, die Amerikaner, Briten und Franzosen aus der Stadt zu drängen. Die »Freie Stadt« West-Berlin wäre über kurz oder lang das Ende der Westberliner Freiheit geworden. In solcher Lage fasst man leicht als Angriff auf, was Verteidigung ist, sogar der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (1913-1992) tat es. In einem besorgten Brief versuchte er Präsident John F. Kennedy (1917-1963) davon zu überzeugen, die Mauer sei nur ein erster Akt, dem ein zweiter gefährlicherer folgen werde. Viele dachten damals ähnlich:

Zuerst nimmt der Osten Ost-Berlin, und wenn das gelungen ist, greift er auch nach West-Berlin. Kennedy urteilte unbefangener. Als er die Nachricht von der Sperrung der Sektorengrenze erhielt, sagte er: »Das bedeutet, Chruschtschow hat nachgegeben. Wenn er noch die Absicht hätte, ganz Berlin zu besetzen, hätte er diese Mauer nicht gebaut.«
     Aber der Betroffene reagiert anders als der Fernstehende. Die Erregung der Inselstadt stieg, der Senat musste etwas tun und rief für den 16. August zu einer Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg, ein notwendiger, aber gefährlicher Schritt, denn die Erbitterung konnte in Protestmärsche zur Grenze umschlagen - mit unabsehbaren Folgen. Brandt hatte die schwierige Aufgabe, der Empörung Ausdruck zu geben und sie zugleich zu dämpfen. Nach Osten verlangte er einen Boykott der Leipziger Messe und des innerdeutschen Sportverkehrs, nach Westen suchte er Vertrauen zu den Westmächten zu schaffen: Ohne deren Garantien »wären die Panzer weitergerollt«. Die Furcht hielt dennoch eine ganze Weile an, Möbelwagen rollten in die Bundesrepublik, und wer kühlen Mut und Geld hatte, konnte sich ein Haus kaufen so billig wie nie vor- und nachher.
     Noch länger hielt die Erbitterung an. Brandt hatte in der Not des Augenblicks gefordert, West-Berlin müsse die S-Bahn übernehmen, die in Ostberliner Regie fuhr.
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Damit drang er nicht durch, dafür boykottierten die meisten Westberliner die »kommunistische« Bahn, die mindestens zwei Jahrzehnte lang mit gespenstisch leeren Zügen durch die Weststadt fuhr. Den größten Schaden hatten die Westberliner selbst, weil sie sich eines ihrer besten Verkehrsmittel beraubten, begreiflich nur aus der Wut und Hilflosigkeit gegenüber der brutalen Teilung der Stadt. Der Widersinn erreichte seinen Höhepunkt, als sich der Senat genötigt sah, Polizei gegen Demonstranten einzusetzen, die gegen die Mauer vorgingen: Man musste schützen, was man hasste, musste sichern, was man zerstört sehen wollte.
     Als ein buchstäblich historisches Datum grub sich der 17. August 1962 ins Bewusstsein der Westberliner. Bei einem Fluchtversuch wurde der l8-jährige Bauarbeiter Peter Fechter niedergeschossen, eine Stunde lang blieb er schwer verletzt liegen, bis DDR-Grenzsoldaten den leblosen Körper forttrugen. Er war nicht der erste Tote an der Mauer, aber der erste, der öffentlich starb. Seine Hilferufe wurden immer schwächer, bis sie verstummten; hundert Meter vom Grenzübergang Checkpoint Charlie entfernt verblutete er. Eine Menschenmenge sah hilflos, amerikanische Militärpolizei tatenlos zu. Die Unruhen der folgenden Tage überstiegen alles, was Berlin bis dahin erlebt hatte, sie richteten sich nicht nur gegen Russen und DDR-Grenzer, sondern auch gegen die West-Alliierten. Zweifel an deren Zuverlässigkeit entstanden schon gleich nach dem 13. August.
Die »Schutzmächte« hatten die Sperrung der Sektorengrenze mit so provokanter Passivität hingenommen, dass schnell der Verdacht auftauchte, sie hätten schon vorher gewusst, was kommt. »Vom Westen verraten?« stand auf einem Transparent bei der Kundgebung vor dem Rathaus, es war nicht das einzige dieser Art.
     Kein Westberliner und auch kein westdeutscher Politiker forderte zwar, die amerikanischen Panzer sollten die Grenzsperren niederwalzen, aber selbst die Gesten, um die der Regierende Bürgermeister bat, kamen nur schleppend. »Zwanzig Stunden vergingen«, berichtete Brandt später, »bis die erbetenen Militärstreifen an der innerstädtischen Grenze erschienen. Vierzig Stunden verstrichen, bis eine Rechtsverwahrung beim sowjetischen Kommandanten auf den Weg gebracht war. Zweiundsiebzig Stunden dauerte es, bis - in Wendungen, die kaum über die Routine hinausreichten - in Moskau protestiert wurde.«
     Kennedy begriff allerdings sehr schnell, dass er etwas zeigen musste, wenn er schon nichts tat. Er schickte seinen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson (1908-1973) nach Berlin und setzte, einer Anregung Brandts folgend, eine Kampfgruppe in Marsch, die von der Bundesrepublik über die Autobahn nach West-Berlin fuhr; der Kommandeur stand während der Fahrt in direkter Funkverbindung zum Weißen Haus, um im Konfliktfall höchste Weisung zu bekommen.
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Johnson und die Soldaten erhielten einen grossen Empfang in der Stadt, diese Geste tat ihre Wirkung.
     Die Enttäuschung von den Alliierten wäre weit geringer gewesen, wenn Alliierte wie westdeutsche Politiker nicht eine Illusion genährt hätten, die Vorstellung, die Westmächte garantierten die Vier-Mächte-Stadt Berlin, also auch den freien Verkehr zwischen den Sektoren. Sie garantierten aber nur die Sicherheit und Lebensfähigkeit der drei Westsektoren. Als Kennedy bei einem Treffen mit Chruschtschow im Juni 1961 zu keiner Einigung über Berlin kam und sowjetische Gewaltmaßnahmen befürchtete, demonstrierte er Härte und Kompromissbereitschaft: Er traf militärische Maßnahmen, aber sprach öffentlich nicht mehr von Berlin, sondern von West-Berlin. Chruschtschow verstand, der Ostsektor wurde ihm überlassen, wenn er die Westsektoren unangetastet ließ.
     Brandt und Kennedy sprachen aneinander vorbei, weil jeder andere dringende Sorgen hatte. Brandt bangte um seine Stadt, Kennedy um den Frieden. Beide fanden sehr schnell wieder zueinander, weil ihr wesentliches Interesse, die Erhaltung West-Berlins, das Gleiche war. Dennoch zog der Bürgermeister eine Lehre, die später auch seine Politik als Kanzler bestimmte:

Kurz nach dem Mauerbau besuchte der US-amerikanische Vizepräsident Lyndon B. Johnson (links) West-Berlin. Rechts der Regierende Bürgermeister Willy Brandt

 
Die Verbündeten geben Sicherheit, aber um die deutsche Einheit müssen sich die Deutschen selbst kümmern.
     Die Lage nach dem Mauerbau zwang dazu, sich über die Einheit neue Gedanken zu machen. Dabei ging es zunächst nicht um die großen Ziele Nation oder Demokratie, sondern um die Behebung oder doch Milderung elementarer Not. Familien waren auseinander gerissen, Eltern und Kinder, Eheleute, nächste Verwandte jeder Art bestürmten den Senat mit Bitten um Hilfe.

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Es musste etwas unternommen werden, unabhängig von den großen Zielen und den fast geheiligten Grundsätzen wie Nichtanerkennung der nicht gewählten Behörden auf der anderen Seite. Die erste Forderung hatte geheißen: »Die Mauer muss weg«, jetzt beschränkten sich die Verantwortlichen im Schöneberger Rathaus auf das Erreichbare: »Die Mauer durchlässig machen«.
     Das Ergebnis waren diskrete Geschäfte, Familienzusammenführung gegen D-Mark und öffentliche Verhandlungen über Passierscheine, die Westberlinern über Weihnachten und Neujahr 1963/64 erlaubten, nahe Verwandte in Ost-Berlin zu besuchen. Das war wenig, aber eine erste Trendwende: Es ging nicht noch weiter auseinander, sondern ein kleines Stück wieder zusammen. Die endlosen Schlangen im Morgengrauen der Weihnachtstage, geduldig wartend an den Grenzübergängen - auch das grub sich für lange ins Gedächtnis und gab ein kleines Zeichen zu leiser Ermutigung.
     Weder Brandt noch seine Freunde waren sich darüber klar, dass sie das Modell einer neuen Politik geschaffen hatten, sie handelten unter dem Druck der Verhältnisse, um menschliche Not zu verringern. Doch sechs Jahre später wurde daraus, was man dann die »Neue Ostpolitik« nannte. Das Prinzip war das Gleiche wie bei den Passierscheinverhandlungen, als der Senat mit einer Regierung verhandelte, die es für ihn gar nicht geben durfte: Anerkennung der Machtverhältnisse, um überhaupt Politik treiben zu können, Bestätigung der Teilung, um die Folgen der Teilung zu mildern.
     Bleibenden Schaden erlitten die gesamtdeutschen Funktionen der Inselstadt. Bis zum 13. August 1961 diente West-Berlin in mehrfacher Hinsicht als Brücke. Zunächst als Fluchtbrücke: Wer - aus welchen Gründen auch immer - die DDR verlassen wollte oder musste, kam dort noch über eine wenig kontrollierte Grenze. Ferner als Familienbrücke: Wer seine Verwandten im jeweils anderen Deutschland nicht besuchen durfte; traf sich dort mit ihnen. Als ökonomische Brücke: Wer etwas brauchte, was es in der DDR nicht gab, kaufte es sich dort; es war schrecklich teuer, Umtausch mindestens eins zu vier, aber wenigstens zu beschaffen.
     West-Berlin diente auch als geistige Brücke. Wer fachlich auf dem neuesten Stand bleiben wollte, fuhr zur Grünen Woche oder zur Industrieausstellung. Wer Kopf und Seele beleben wollte, zog über ein Wochenende durch die Kinos, Theater und Ausstellungen. Mancher hielt es in der DDR damals nur aus, weil er in West-Berlin Anschluss an die andere Welt behielt. Schließlich auch Alltagsbrücke: Wer im Osten wohnte und in West-Berlin studierte oder arbeitetet, überschritt sie täglich. Noch im August 1961 stammte jeder dritte Student aus der DDR, über 50 000 »Grenzgänger« kamen jeden Morgen von dort.
     Mit dem Mauerbau hatte all das ein Ende, von der Brücke blieb nur noch ein Steg: Bundesbürger durften mit ihrem Bundespass zu »Tagesaufenthalten« in den Ostteil der Stadt, schlaue Westberliner besorgten sich einen zweiten Wohnsitz in der Bundesrepublik und damit einen Bundespass, die Familien trafen sich nun in Ost-Berlin.
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Aber das war wenig im Vergleich zum Berlin vor dem August 1961, das immer noch, trotz Teilung und halb überwachter Grenze, eine Stadt war.
     Der Mauerbau hat die Westberliner getroffen wie nichts zuvor seit der Teilung, noch mehr aber traf er die Ostberliner. Die Weststadt verlor einen großen Teil ihrer nationalen Aufgaben und damit auch ein Stück ihrer politischen Existenzberechtigung, die Bewohner der Oststadt aber wurden entmündigt: Leben sollten sie nur noch im »real existierenden Sozialismus«, nichts mehr sehen von der Welt draußen. Die Ostdeutschen wurden nicht vergessen im westlichen Berlin, aber dort wie im ganzen Westen überschattete die Sorge um die Sicherheit der West-Insel alles weitere so sehr, dass die verzweifelte Lage der Hauptleidtragenden in den Hintergrund geriet.
     Als Anfang der siebziger Jahre auch Westberliner wieder die DDR besuchen durften, strömten Massen über die Grenzen, ähnlich wie nach dem Passierscheinabkommen. Bis 1980, als der Pflichtumtausch drastisch erhöht wurde, registrierte die Statistik mehr DDR-Reisen aus West-Berlin als aus ganz Westdeutschland.
     Wichtiger aber war vermutlich die Langzeitwirkung der Mauer, sie trennte nicht nur physisch, sondern auch im Bewusstsein.
Man fand sie schrecklich, aber gewöhnte sich an sie. Wer nicht Verwandte oder Freunde im Ostteil hatte, fuhr seltener hinüber, manche taten es gar nicht. Der Weg nach Westen - in die Bundesrepublik, nach Westeuropa und Amerika - war nach dem Vierer-Abkommen kaum mehr behindert, auf dem Weg nach Osten mussten lästige, peinliche, oft anmaßende Grenzkontrollen und auch Wartezeiten hingenommen werden. Viele muteten sich das nicht zu und lebten in West-Berlin kaum anders als in Westdeutschland.
     Als am 9. November 1989 die Ostberliner die Mauer überwanden, empfingen die Westberliner sie mit offenen Armen. Man sollte die fassungslose Freude, die beiderseits der Grenze herrschte, und die Szenen der Rührung nicht klein reden. Ein Jahr später war Berlin wieder eine Stadt. Die Linie, an der sich die Mauer hinzog, ist immer weniger erkennbar, aber das fatale Wort von der »Mauer in den Köpfen« hält sich bis heute. Ohne die fast dreißig Jahre, die das Monstrum stand, wären die Ostberliner den Westberlinern weit weniger fremd - und umgekehrt.

Bildquelle: Repro LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
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