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Karl-Heinz Arnold
Nach Abschottung die Zitterprämie

West-Berlin: Ökonomie und Demografie während der Mauerzeit

Mit dem Jahr 1961 hat für West-Berlin »ein Wandel in den Wachstums-Voraussetzungen eingesetzt«, konstatierte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DlW, nicht zu verwechseln mit dem Ostberliner DWI) in seinem Wochenbericht (WB) 49/1961. Diese Feststellung bezog sich zunächst auf eine unmittelbare Folge des Mauerbaus: das Ausbleiben von 56 283 Einpendlern aus Ost-Berlin und den Randgebieten, die als Grenzgänger bei den Arbeitsämtern im Westteil der Stadt registriert waren, und Tausender nicht registrierter Arbeitskräfte.1) So fehlten am 14. August rund 17 000 erfasste Arbeitnehmer der Metall- und Elektroberufe, 6 000 Bauleute, mehr als 5 000 Näherinnen und Schneiderinnen, rund 3 800 Verkäuferinnen und Kassiererinnen sowie u. a. 150 Krankenschwestern, von denen drei über 66 Jahre alt waren.
     Das DlW wies darauf hin, »daß der plötzliche Ausfall an Grenzgängern und die fortdauernde politische Ungewißheit den konjunkturell bedingten Wachstumsverlust verstärkt haben«.

Das Wegbleiben der Grenzgänger erfolgte zu einer Zeit, »als der Arbeitsmarkt in West-Berlin selbst schon nahezu erschöpft war«. Der durch den Mauerbau erzwungene Rückgang der Beschäftigten in der Industrie sei jedoch bereits in der zweiten Jahreshälfte durch eine forcierte Rationalisierung aufgefangen worden, eine offenbar zweckoptimistische Feststellung, die sich in der Folgezeit als zumindest verfrüht erweisen sollte.
     Tatsächlich war schon binnen weniger Tage in den großen Unternehmen die Intensität der Arbeit erheblich erhöht worden.
     Zur Freude des Nahrungs- und Genussmittelhandels gab es im zweiten Halbjahr einen deutlichen Anstieg des Einzelhandelsumsatzes. Er erhöhte sich gegenüber dem Vorjahr um rund sieben Prozent, und zwar durch Vorratskäufe der privaten Haushalte, ausgelöst durch die verbreitete politische Unsicherheit. Damit wurde, so das DlW, der »Ausfall der ostzonalen Käuferschicht« mehr als ausgeglichen.
     Der Hinweis auf einen Wandel in den Wachstumsvoraussetzungen bezog sich aber auch auf einen anderen, längerfristig wirkenden Faktor: »Die nunmehr offenbar endgültige Verhinderung von Zuwanderungen aus Mitteldeutschland würde - solange nicht Arbeitskräfte aus Westdeutschland in großer Zahl nach West-Berlin übersiedeln - zu einem Schrumpfen der Bevölkerung in einem wirtschaftlich untragbaren Ausmaß führen.«
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Ausländische Arbeitnehmer bei der Ausbildung in einem großen Westberliner Betrieb
     Berlin hatte 1961 im Westteil 2,197 Millionen Einwohner, im Ostteil 1,055 Millionen. Es war damit weit unter den demografischen Höchststand von 4,478 Millionen im Jahr 1942 zurückgefallen, eine Folge des Krieges und der nachfolgenden faktischen Zweiteilung der Stadt. Der Mauerbau zementierte - dies auch im direkten Sinn des Wortes - die Teilung für reichlich 28 Jahre. Er führte, was die Entwicklung der Bevölkerung in West-Berlin betrifft, in eine die Existenz der Teilstadt bedrohende Situation. Nach knapp einem Jahrzehnt hieß es denn auch im WB 48/1980: »In den letzten neun Jahren hat die deutsche Bevölkerung Berlins (gemeint ist West-Berlin, d. Verf.) um 30 000 abgenommen. Die Zahl der Ausländer in der Stadt ist dagegen um 100 000 gestiegen.« Zu einem hohen Sterbeüberschuss in der deutschen Bevölkerung kamen erhebliche Wanderungsverluste, seit 1972 mehr als 10 000 jährlich, und der Abbau der industriellen Arbeitsplätze setzte sich fort.
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     Die Prognose des DlW: »Die Bevölkerung Berlins geht bis 1990 um mindestens 200 000 Personen zurück. Damit stellt sich erneut die Frage, ob - wie in der öffentlichen Diskussion wiederholt befürchtet - die Lebensfähigkeit Berlins durch eine solche Entwicklung gefährdet wird.« Bis zum Jahr 2000 sei mit einem Sterbeüberschuss von 400 000 zu rechnen, also mit 400 000 mehr Todesfällen als Geburten, das typische Merkmal einer überalterten Kommune. Die Einwohnerzahl West-Berlins werde um fast 450 000 zurückgehen. Im Jahr 2000 sei eine Einwohnerzahl von nur 1,77 Millionen zu erwarten.
     Diese Vorausschau hat sich nicht in vollem Umfang bestätigt. Zwar verringerte sich die Einwohnerzahl - trotz anfänglicher Zuwanderungen aus Westdeutschland und nachfolgender starker Zuwanderungen von Ausländern - ab 1961 fast ununterbrochen Jahr für Jahr, aber dieser Trend wurde 1985 gebrochen.
     Nachdem 1984 ein Tiefstand von 1,848 Millionen erreicht war, setzte eine Zunahme ein. 1987 waren zwei Millionen überschritten. Ende 1990, rund ein Jahr nach Fall der Mauer, lag die Einwohnerzahl West-Berlins wieder deutlich über zwei Millionen. Das nunmehr vereinigte Berlin wies gegenüber 1961 einen Zuwachs der Bevölkerung von 5,6 Prozent auf, durchaus im Gegensatz zu den meisten anderen deutschen Großstädten, die einen Schwund zeigten.2) Die keineswegs unbegründete Annahme, West-Berlin könnte 55 Jahre nach Kriegsende fast auf den Stand von
1945 zurückfallen und zur sterbenden Stadt werden, ist nicht eingetreten.
     Im Rückblick zeigt sich, dass es tatsächlich Jahre dauerte, bis sich die Wirtschaft vom Mauerschock erholt hatte. Zunächst schien es, als würde durch massive Steuerpräferenzen und starke Lohnerhöhungen bereits 1962 und 1963 ein Wachstumsschub erreicht, der von Dauer sein könnte. Die durchschnittlichen Stundenlöhne der Industriearbeiter lagen in den ersten drei Quartalen 1962 um 20 Prozent über dem Vorjahresstand. Auch die anderen Einkommen nahmen erheblich zu.
     1963 wurde ein Zuwachs der Nettoeinkommen (Arbeitnehmer und Selbstständige) um mehr als neun Prozent gegenüber dem Vorjahr verzeichnet. Zwar wuchs das Bruttosozialprodukt mit real zwei Prozent geringer als in Westdeutschland, doch die Produktivität3) stieg wiederum stärker als im Bundesgebiet. Ein Teil des Einkommenszuwachses wurde also durch Mehrleistung je Arbeitsstunde erreicht, speziell bei den Industriearbeitern.
     Den größten Teil des Anstiegs der Löhne und Gehälter sämtlicher Arbeitnehmer sowie des Einkommens der Freiberufler und der Unternehmergewinne bewirkte die durch Bundesgesetz verfügte Berlin-Förderung. Sie erfolgte durch Zulagen für Arbeitnehmer, im Volksmund alsbald Zitterprämie genannt, sowie durch Steuerminderungen. Darauf wird zusammen mit der Darstellung der Bundeshilfe für West-Berlin abschließend detailliert einzugehen sein.
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Durch die Zitterprämie lagen bereits 1963 die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer sechs Prozent höher als im Bundesgebiet. Die Folge war eine erhebliche Zuwanderung von westdeutschen Arbeitskräften, 1962 rund 15 000 und im folgenden Jahr sogar 27 000. Ergebnisse in dieser Größenordnung sind in der Folgezeit nicht mehr erreicht worden. Alljährlich befanden sich unter den Zuwanderern auch junge Männer, die sich auf diese Weise dem Dienst in der Bundeswehr entziehen wollten.
     Bis Mitte der 60er Jahre war jedoch der Ausfall der Grenzgänger noch keineswegs wettgemacht. Der Gewinn durch Zuwanderung wurde geschmälert oder sogar aufgehoben durch eine Abwanderung von Arbeitskräften, die sich in der eingemauerten Frontstadt äußerst unwohl fühlten, jung genug und flexibel waren. Hinzu kam in der ohnehin überalterten Stadt ein relativ starkes altersbedingtes Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess. So ging die Zahl der Beschäftigten im Jahresdurchschnitt 1964 auf 888 000 zurück (1961 noch 1,037 Millionen), während die Produktivität weiter anstieg. Alarmsignal und zugleich Zeichen von Strukturschwäche der Wirtschaft West-Berlins: Die Produktion der Elektroindustrie insgesamt stagnierte, die der Starkstromindustrie sank um 10 Prozent.
     Dem Handwerk brachte die Mauer eine anhaltende Leistungseinbuße. Dadurch vergrößerte sich der Abstand zum westdeutschen Handwerk auf
fast 25 Prozent (gerechnet nach Umsatz je Beschäftigten, vgl. WB 31/ 1965). Zwar war die Zahl der registrierten Grenzgänger mit handwerklichen Berufen gegenüber den anderen Einpendlern sehr gering, aber der Anteil von Kräften aus dem Osten, die den Arbeitsämtern nicht gemeldet waren, dürfte im Westberliner Handwerk besonders hoch gewesen sein.
     Die Feststellung des DWI, die Wirtschaft habe sich »vom Mauerschock erholt« (WB 47/1965), wurde recht einseitig damit begründet, dass die traditionsreiche Bekleidungsindustrie erstmalig seit 1961 wieder expandiere. Schon bald folgte die ernüchternde Einschätzung, dass die Konjunktur insgesamt beendet sei. 1966 habe es in einigen Wirtschaftsbereichen sogar Entlassungen gegeben, die Zahl der Arbeitnehmer sei um weitere 10 000 auf 878 000 zurückgegangen (WB 48/1966). Im kommenden Jahr werde die Industrieproduktion stagnieren, die Zahl der Beschäftigten und der Einwohner erneut sinken. West-Berlin kam zu keiner dauerhaft positiven Entwicklung von Wirtschaft und Bevölkerung.
     Unter normalen Verhältnissen hätte der Handel mit dem Umland stabilisierend wirken können. Der Warenaustausch mit der DDR blieb jedoch in den 60er Jahren wie auch danach unter den Möglichkeiten. Zusätzlich war fast ständig ein erhebliches Missverhältnis zwischen Lieferungen aus West-Berlin und Bezügen aus der DDR zu verzeichnen, der Handel blieb stark unausgeglichen.
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So lagen die Lieferungen West-Berlins 1966 bei nur 85 Millionen DM, die Bezüge aus der DDR erreichten 313 Millionen. Insbesondere handelte es sich um landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Schweinefleisch, Zucker, Frischmilch, Eier. Dies hätte noch angehen können, die Lieferwege waren kurz, aber die restliche Produktpalette zeichnete sich keineswegs durch hochwertige Waren aus: Briketts, Baustoffe (viel märkischer Sand), Erzeugnisse der Grundstoffchemie, Haushalts- und Verpackungsglas.
     Die ohnehin relativ unbedeutenden Lieferungen von Investitionsgütern aus West-Berlin stagnierten jahrelang, der Anteil von Maschinenbau und Elektrotechnik am Gesamtumsatz war tendenziell rückläufig, obwohl diese Zweige fast 40 Prozent der Westberliner Industrieproduktion umfassten und sehr leistungsfähig waren. West-Berlin lieferte erst 1970 für lächerliche acht Millionen DM Erzeugnisse der Elektrotechnik/Elektronik, als Maximum wurden 1987 rund 41 Millionen und 1988 rund 53 Millionen DM erreicht. Auch dies waren noch unbedeutende Anteile am Gesamtumsatz der Westberliner Wirtschaft.
     In den 60er Jahren dümpelte der Warenumsatz mit der DDR zwischen 400 und 600 Millionen. Erst 1975 waren es 1,4 Milliarden, 1980 dann 2,7 Mrd. DM. Der einmalig hohe 1985er Umsatz von 3,5 Mrd. verringerte sich schon im Folgejahr auf 2,3 Milliarden DM.
Es gab keine Kontinuität im Geschäft mit der DDR, was sowohl auf deren wirtschaftliche Probleme als auch auf voluntaristische Entscheidungen im Politbüro zurückzuführen war. West-Berlin blieb der ungeliebteste deutsch-deutsche Partner, man kaufte lieber in der Bundesrepublik und in Frankreich als nebenan.
     Durch die enge Verbindung mit der Bundesrepublik, ihrer ökonomischen Entwicklung, und durch die Folgen der Mauer war die Teilstadt doppelt anfällig. Sobald sich die Auftragslage der wichtigsten Wirtschaftsbereiche, Investitionsgüter und Konfektionsindustrie, verschlechterte, machten sich die Standortnachteile der Stadt verstärkt bemerkbar. Die Möglichkeit, sich ein zweites wirtschaftliches Standbein durch gute Beziehungen zur DDR zu schaffen, bestand nur theoretisch. Die politischen Standpunkte waren verhärtet. Mauer und gute Nachbarschaft schlossen sich ebenso aus wie Frontstadt und gute Beziehungen zur DDR.
     Zu einer Zeit, da die Wirtschaft West-Berlins ihr Wachstum fast vollständig einbüßte, verzeichnete die Stadt erstmalig einen »Zustrom nichtdeutscher Arbeitnehmer« (WB 48/1966). Die Abkommen und Verträge hierfür waren offenbar noch unter dem Eindruck einer florierenden Konjunktur geschlossen worden, also 1965, als das Bruttosozialprodukt noch real um 6,5 Prozent gestiegen war.
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Längerfristig spielte ein weiterer Faktor eine wichtige Rolle: Die Stadt würde schon bald altersbedingt bis zu 15 000 Erwerbspersonen jährlich verlieren.
     Der Anteil von Ausländern an den Arbeitnehmern insgesamt erhöhte sich 1966 zunächst auf bescheidene 1,9 Prozent, während es in Westdeutschland bereits sechs Prozent waren. Mit Beginn der 70er Jahre änderte sich das Bild relativ rasch. Am 30. 9. 1970 war die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer bereits auf 62 600 gestiegen davon 25 100 Frauen und 37 500 Männer, binnen Jahresfrist ein Zuwachs von 23 400 erfassten Personen. Die Ausländerquote stieg damit auf sieben Prozent (Bundesgebiet: 8,5).
     Zum Stichtag 30. 9. 1972 wurden offiziell 82 000 ausländische Arbeitnehmer gezählt. Das waren 10 Prozent aller registrierten Beschäftigten. Aus dieser Größenordnung - sie umfasste keineswegs alle erwachsenen Familienangehörigen - erwuchs in einem Dutzend Jahren ein fester Bestandteil der Bevölkerung. Die Volkszählung 1987 registrierte 223 489 Personen mit ausschließlich ausländischer Staatsangehörigkeit (also ohne Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft), darunter 50 Prozent türkische Staatsangehörige.4)
     In den 80er Jahren wurde West-Berlin, korrespondierend mit der Entwicklung in der Bundesrepublik, mit einer anhaltenden hohen Arbeitslosigkeit konfrontiert, die seit den 50er Jahren als überwunden galt. Ihre Größenordnung, im vorangegangenen
Jahrzehnt noch relativ unbedeutend, näherte sich nun 100 000. Besonders kritisch wurde es 1982 und 1983. Die Zahl der Erwerbstätigen sank 1982 auf 808 000 bei einem zunehmenden Anteil von Kurzarbeitern und Teilzeitbeschäftigten. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg um 27 Prozent auf 88 700. Von ihnen waren bereits 17 Prozent auf Arbeitslosenhilfe angewiesen. Die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen überstieg 16 Prozent, bei Ausländern waren es 17 Prozent. Die soziale Lage in der Stadt verschlechterte sich auch durch einen Anstieg der Lebenshaltungskosten um 5,8 Prozent.5) Das bedeutete einen Rückgang des privaten Verbrauchs. »Auch im Jahr 1983 wird in Berlin die Wirtschaftsleistung abnehmen, die Beschäftigung sich verringern«, resümierte das DlW (WB 9/1983). Das Bruttoinlandprodukt ging zurück, die Auftragseingänge waren rückläufig. Die Zahl der deutschen Einwohner verringerte sich um 25 000, nachdem sie bereits 1982 um 19 600 abgenommen hatte. Damit erwies sich der Anfang der 80er Jahre als eine besonders problematische Zeit, obwohl sich - im Gegensatz zu den 60er Jahren - das politische Umfeld national wie international deutlich verbessert hatte.6)
     Hohe Arbeitslosigkeit und zunehmende Kurzarbeit, von denen Frauen, Jugendliche und Ausländer besonders betroffen waren, gehörten bis Ende der 80er Jahre zu den konstanten Merkmalen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung West-Berlins.
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Der Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit war zwar bedeutend höher als zu Beginn der Mauerzeit, die soziale Sicherheit jedoch eher geringer, weil viele Arbeitsplätze weggefallen oder bedroht waren. Die Stadt hatte Glanz bekommen und an Urbanität gewonnen. Eine stark verbesserte Infrastruktur, so durch den Ausbau von Straßen und vor allem des U-Bahn-Netzes, eine vergrößerte und verjüngte Bausubstanz sowie eindrucksvolle kulturelle Angebote erwiesen sich als wichtige Bilanzpunkte.
     West-Berlin war ab August 1961 eine sowohl abgeschottete als auch weltoffene Teilstadt. Sie konnte nur mit enormen Subventionen aus der Bundesrepublik ihre Existenz behaupten und den Einwohnern ein materiell akzeptables Dasein bieten. Kein vergleichbares Siedlungsgebiet, kein vergleichbarer Wirtschaftsstandort hat jemals über einen Zeitraum von mehr als 28 Jahren als Enklave in einem nicht homogenen, politisch feindlichen Umland existiert. Keine vergleichbare Stadt ist jemals mit so hohen finanziellen und materiellen Hilfen von außen am Leben erhalten worden.
     Durch Einbeziehung in den Marshall-Plan für die Westzonen, durch einen Milliardenkredit für die Metall verarbeitende Industrie sowie einen nachfolgenden Aufbauplan und Finanzhilfen des Bundes hatte die Westberliner Wirtschaft Ende der 50er Jahre den Stand von 1936 erreicht und teilweise übertroffen.7) In der neuen Situation angesichts der Mauer waren
weitergehende Maßnahmen erforderlich, wollte man West-Berlin nicht wirtschaftlich und damit auch politisch aufgeben, was - so wie die sowjetische Idee einer Freien Stadt - als indiskutable Alternative galt.
     Zwei im Prinzip bereits vorhandene Instrumentarien wurden modifiziert eingesetzt und im Umfang vergrößert. Die erste Maßnahme war die Bundeshilfe. Sie bestand einmal aus dem Bundeszuschuss, zum anderen aus dem Bundesdarlehen (im Grunde ebenfalls ein verlorener Zuschuss). Die anfänglichen Größenordnungen: 1961 betrug der Bundeszuschuss 877,3 Mio. DM, das Bundesdarlehen 275 Mio., die Bundeshilfe insgesamt also 1 152,3 Mio. Damit wurden 30,5 Prozent des Westberliner Haushalts finanziert. Im folgenden Jahr waren es 1 405,1 Mio. Zuschuss und 244,5 Mio. Darlehen, zusammen rund 1,6 Milliarden DM und bereits 39,4 Prozent des Haushaltsvolumens.
     Während das Bundesdarlehen in der Folgezeit jährlich zwischen 310 und 80 Mio. DM schwankte, im Schnitt ergaben sich rund 160 Mio., stieg der Bundeszuschuss ununterbrochen und damit die gesamte Bundeshilfe. 1970 wurden 2,8 Mrd. Bundeshilfe erreicht, 1980 waren es bereits 9,2 Mrd. und 1989 schließlich 12,5 Mrd. DM. Seit 1978 umfasste die Bundeshilfe Jahr für Jahr über 50 Prozent des Westberliner Haushalts, 1982 sogar 54,2 Prozent, begreiflich angesichts der vorher skizzierten Probleme.
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Jede zweite Mark, die in West-Berlin aus öffentlichen Mittel ausgegeben wurde, ob für Schulen oder Polizei, für Straßenbau, Kultureinrichtungen oder Sozialarbeit, kam aus Bonn. Die Teilstadt wurde in einem historisch einmaligen Umfang vom westdeutschen Staat alimentiert.
     Die Bundeshilfe summierte sich von 1961 bis 1989 auf 184 105,3 Mio. DM, also rund 184 Mrd. Hinzu rechnen muss man die steigende Transitpauschale, die für die Straßenverbindungen mit der Bundesrepublik von Bonn an die DDR gezahlt wurde. Von 1975 bis 1989 betrug sie 6,560 Mrd. DM (zuvor zahlte der einzelne Reisende oder Frachtführer). Damit lag die Bundeshilfe über 190 Mrd., nach heutiger Kaufkraft weit über 250 Mrd. DM.
     Ein zweiter, in der Folgezeit noch wesentlich größerer Posten zur Stützung der Teilstadt verbarg sich hinter der Bezeichnung »Steuermindereinnahmen durch das Berlin FG«, wie es finanztechnisch heißt. Durch dieses Berlin-Fördergesetz, das mehrfach neu gefasst wurde, verzichteten die Bundesrepublik und das Land Berlin zu Gunsten von Unternehmen und Arbeitnehmern auf Steuern und gewährten beiden Gruppen Vergünstigungen. Vereinfacht gesagt handelte es sich zu einem Drittel um Arbeitnehmerförderung, zu zwei Dritteln um Unternehmensförderung. Die eigentliche Zitterprämie bestand aus Zulagen für Arbeitnehmer. Sie hatte 1989, ähnlich wie in den Vorjahren, einen Umfang von 2,9 Mrd. DM,
eine beachtliche Summe, sozial und politisch über viele Jahre wirksam.
     Die Höhe dieser Zuschüsse - durch Verzicht auf Steuern und durch direkte Zulagen - wird bereits deutlich, wenn man sich die drei Jahre 1987 bis 1989 vergegenwärtigt: jährlich mehr als acht Milliarden DM, zusammen genau 25,342 Mrd. Davon profitierten die Unternehmen im Umfang von 16,895 Mrd., und die Arbeitnehmer erhielten 8,447 Mrd. DM. Rechnet man die Steuervergünstigungen und Zuschüsse auf 28 Jahre hoch, dürfte die Gesamtsumme bei 764 Mrd. DM liegen. Der Berliner Haushalt wurde jeweils mit rund 50 Prozent der Steuermindereinnahmen belastet. Da er aber zu ebendiesem Prozentsatz aus der Bonner Kasse aufgefüllt wurde, blieb der gesamte Zuschuss für West-Berlin mit seinen beiden Komponenten letztlich von den Steuerzahlern der Bundesrepublik zu begleichen.
     Nimmt man Bundeshilfe und Präferenzen sowie die Zulagen nach dem Berlin-Fördergesetz zusammen, kommt man auf etwa 950 Milliarden DM, also annähernd eine Billion DM. Die Freiheit für West-Berlin hatte einen fast astronomischen Preis.8)
     Bleibt eine Erscheinung anzumerken, die sich im Schatten der Mauer entwickelte und sie mehr als ein Jahrzehnt überdauerte. Sie hat wenig mit Demografie, mehr mit politischer Überalterung, vor allem aber mit Ökonomie, Geld und Macht zu tun.
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Die angesehenste Schweizer Zeitung fasste dieses aktuell gebliebene Phänomen in wenigen Sätzen zusammen: »Die Abschottung West-Berlins durch den Kalten Krieg und den Mauerbau ließ einen dichten Filz entstehen; Mittelmaß und Korruption blühten in allen Parteien. Die enge Verflechtung von Politik und Wirtschaft führte zu mehreren Bauskandalen, die in den achtziger Jahren die Sozialdemokraten ihre Vorherrschaft kosteten, aber auch Flecken auf den weißen Westen einiger CDU-Funktionäre zurückließen.«9)

Quellen und Anmerkungen:
1 Zu den registrierten Einpendlern sehr ausführlich: Berliner Statistik, Jahrgang 1962, Heft 3, S. 72 ff. vgl. den Beitrag des Verfassers in BM 3/2001
2 Bevölkerungsschwund 1990 gegenüber 1961 in Prozent: Gelsenkirchen 23,2; Düsseldorf 18; Essen 13,7; Leipzig 12,7; Hannover 10,5; Hamburg 9,8; Dresden 0,2 (vgl. Statistisches Jahrbuch Berlin 1992, S. 56 f.)
3 Produktivität - reales Bruttosozialprodukt je geleistete Arbeitsstunde
4 Die Zahl der Ausländer wird in WB 9/1983 mit 250 000 angegeben, knapp 13 Prozent der Bevölkerung. Ende 1991 waren es lt. Stat. Landesamt 355 356 Ausländer mit Hauptwohnsitz in Berlin, darunter in den Westbezirken 324 411 (137 592 Türken, 42 174 Jugoslawen, 26 600 Polen) und in den Ostbezirken 30 945 (561 Türken, 1 400 Jugoslawen, 710 Polen). Anfang 2001 lebten in Berlin 435 117 Ausländer aus 185 Staaten

5 Sämtliche Zahlen, so weit nicht anders angegeben, sind dem jeweiligen Wochenbericht (WB) des DlW entnommen, der mindestens einmal im Jahr die Situation West-Berlins analysierend darstellte
6 u. a. durch: Passierscheinabkommen ab 1963; Vierseitiges (Berlin-)Abkommen und Transitabkommen 1971; deutsch-deutscher Grundlagenvertrag 1972
7 Hierzu ausführlich Gerhard Keiderling, Dollar-Spritzen für West-Berlin, BM 11/2000, S. 51 ff., derselbe in BM 10/2000, S. 38 ff.: Enttäuschung über Berlin-Müdigkeit, sowie in BM 1/2001, S. 45 ff.: »Bittgänge« nach Bonn. Die Anfänge der Berlin-Hilfe des Bundes«
8 Die Angaben zur Berlin-Hilfe und Berlin-Förderung wurden von der Senatsverwaltung für Finanzen zur Verfügung gestellt, die Hochrechnung ist vom Verfasser
9 »Neue Zürcher Zeitung« vom 13. Februar 2001
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
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