191   Dokumentiert Reden in Ost und West zum 40. Jahrestag  Nächstes Blatt
Reden zum 40. Jahrestag

In der Bonner Beethovenhalle wurde am 25. Mai 1989 der Verkündung des Grundgesetzes vor 40 Jahren gedacht.

Bundespräsident Weizsäcker: Heute vor 40 Jahren trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Nach schwerer Vergangenheit hatten Deutsche wieder einen eigenen Staat. Er umfasste nur einen Teil Deutschlands. Er war nicht souverän. Es herrschte große Not. Aber in dieser Stunde kehrten Deutsche in den Kreis der Völker zurück, die Verantwortung für sich selbst trugen. Sie taten diesen Schritt als freie Menschen. Kaum je ist ein Staat so zur Welt gekommen. Im Zeichen der Spannung zwischen Ost und West war die Initiative von den Besatzungsmächten ausgegangen, vor allem von Amerika. Ein alliierter Auftrag zur Staatsgründung erreichte die Ministerpräsidenten der Länder, und diese zögerten. Sie waren Patrioten und wollten die Teilung Deutschlands nicht verfestigen.
     Die Weichen waren aber inzwischen durch die neue weltpolitische Lage gestellt. Die Sorgen der Menschen galten den Gefahren aus dem Osten und dem Wiederaufbau zu Hause nach der Währungsreform. Man musste sich der Wirklichkeit stellen und handeln. So schufen die Länder und der parlamentarische Rat trotz ihrer Vorbehalte, die sie ehren, den neuen Bundesstaat. Sie verstanden ihn nicht als Absage an das ganze Deutschland, sondern, wie Theodor Heuss ihn nannte, als Transitorium [...]
     Was für ein Leben hat sich bei uns seit 1949 entwickelt? Es hatte nach dem Krieg auf dem tiefsten Punkt wieder angefangen. Konnte es also nur aufwärts gehen? Das war ungewiß. Es gibt Zusammenbrüche, welche die Lebenskräfte unwiederbringlich zerstören. Das blieb uns erspart.

Rasch wuchs ein neues, leistungsfähiges Gemeinwesen heran. Heute blicken wir zurück auf ein gutes, zukunftsoffenes Kapitel unserer Geschichte und können dafür nur wahrhaft dankbar sein.
     Das meiste, wichtigste und schwerste haben wir Deutschen selbst dazu beigetragen. Die weltpolitische Entwicklung trat hinzu. Aus den Vereinigten Staaten von Amerika kam die großzügige Hilfe des Marshall-Planes. Sie trug nachhaltig zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg bei. Zugleich sorgten die Amerikaner, wie sie es gemeinsam mit den Briten und Franzosen schon in der Berliner Blockade bewiesen hatten, für Schutz und Sicherheit. Werte und Interessen wuchsen zusammen. Aus Gegnern wurden Freunde [...]
     Extreme Kräfte bekamen in der Gesellschaft so wenig Chancen wie im Staat und in den Parteien. Man suchte den Konsens und entwickelte die Kraft zum Kompromiß. Man hatte Sinn für Maß und Mitte. Die Verpflichtung, für menschlich nicht wieder gut zu machendes Unrecht, vor allem gegen Juden, wenigstens materiellen Ausgleich zu leisten, wurde aufgenommen. Gegenseitige solidarische Hilfe, Sozialpartnerschaft in der Arbeitswelt, ökumenische Öffnung in den Gemeinden wuchsen heran. Damit gelangen die Aufnahme von zwölf Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen, der Lastenausgleich, die Rentengesetze als Generationsvertrag. Die Wirtschaft blühte auf, die Wissenschaft gewann Ansehen zurück, die Berufsausbildung wurde zum Vorbild in der Welt. Stabilität wurde ein politisches und soziales Merkmal der Bundesrepublik Deutschland [...]
     Mehr als auf manchem anderen Gebiet der Gesellschaft ist bei uns nach dem Krieg wirklich Neues entstanden, im geistigen und wissenschaftlichen Leben, in der Musik und Dichtung, der Malerei und Plastik, der Architektur, dem Theater und Film.
BlattanfangNächstes Blatt

   192   Dokumentiert Reden in Ost und West zum 40. Jahrestag  Voriges BlattNächstes Blatt
Wir erwarten von niemandem auf der Welt, er möge an unserem Wesen genesen. Aber wir sind ein aktiver Partner unter den Kulturen. Es gibt bei uns eine stark gewachsene Sensibilität und kritische Auseinandersetzungen. Das ist immer fruchtbar. Auf nichts anderem beruht der Fortschritt zu neuen Einsichten. [...]
     Neues Licht, nicht ohne Schatten, erreichte auch den sozialen Bereich. Wo sich Notstände fanden, wurde ihnen in rechtlich gesicherter Form abgeholfen. Die Kehrseite sind Besitzstände, die sich auch dort halten, wo der einst zu Grunde liegende Mangel längst behoben ist. Das Gemeinwesen darf aber nicht überfordert, nicht unbeweglich werden. Es muß immer wieder erneuerungsfähig sein. Wir können uns nicht alles leisten, wir müssen Prioritäten setzen. [...]
     Langweilig ist es uns nie geworden. Es geht spannend zu in der Bundesrepublik Deutschland. Die Probleme erscheinen uns oft unlösbar. Mancher möchte darüber verzweifeln. Dann denke er an das Dichterwort: »Wer sich der Verzweiflung hin gibt, verliert den Kopf. Wer Komödien schreibt, benutzt ihn.« [...]
     Am Ideal gemessen, versagt die Wirklichkeit. Aber was wäre das für eine traurige Wirklichkeit, wenn sie aufhören würde, sich nach dem Ideal zu orientieren und nach der Wahrheit zu fragen? Nähern wir uns im demokratischen Wettbewerb der Wahrheit? Wo bleibt sie in unserer offenen, pluralistischen Gesellschaft? Niemand hat sie. Niemand darf deshalb die Freiheit anderer beschneiden, weil er der Meinung ist, er besäße sie. Es geht aber nicht ohne das Ringen um Wahrheit. Wir alle, Wähler und Politiker, Alt und Jung, Mann und Frau, Laien und Sachverständige, sind dazu aufgefordert in der Verbindung von Freiheit und Wahrheitssuche uns an der Lösung der Zukunftsfragen zu beteiligen.
(Zitiert nach »Der Tagesspiegel« vom 25. Mai 1989)
Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth: Wir haben Grund dankbar zu sein. Es ist keineswegs selbstverständlich, in einem freien Land in Frieden zu leben. Unsere nach 1945 zurückgewonnene Freiheit setzt die Initiative, Eigenverantwortung und Tatkraft frei, die anderen verweigert wurde. Wir haben allen Grund, uns für den Erhalt unserer Demokratie und die Durchsetzung demokratische Grundsätze - dort wo sie noch immer nicht durchgesetzt wurden - mit allen Kräften einzusetzen.
     Demokratie braucht Ideale. Sie braucht aber ebenso Mut und unseren vollen persönlichen Einsatz. Wir schwächen sie, wenn wir nur ihre Vorteile nutzen aber die Verantwortung nicht teilen wollen. Nichts ist für die Demokratie verhängnisvoller als Eigeninteresse das in ungebremsten Egoismus umschlägt [...]
     Es gibt aber auch zentrale Wertentscheidungen unserer Verfassung, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch immer ihrer vollen Einlösung harren: Das Gleichberechtigungsgebot in allen Lebensbereichen gehört dazu, auch die Verpflichtung zu tätiger Solidarität mit den Schwächeren und Benachteiligten in unserer Gesellschaft sowie die Stärkung unserer repräsentativen Demokratie als Staatsform, die dem Einzelnen mehr Möglichkeiten zur Mitverantwortung und Teilhabe einräumen soll [...]
(Zitiert nach »Der Tagesspiegel« vom 25. Mai 1989)

Bundesratspräsident Engholm: Von der Würde und Allmacht des Staates zur Würde des Menschen - das ist der eigentlich größte und beglückendste Entwurf der neuen Republik. Nun liegt es aber bei allerbesten Verfassungspostulaten im Wesen staatlicher Macht - genauer: im Wesen der Menschen die diese Macht wahrnehmen -, dass sie auf Wachstum aus ist. Kontrolle der Macht ist daher eine unabdingbare Voraussetzung für eine dauerhaft funktionierende Demokratie.

BlattanfangNächstes Blatt

   193   Dokumentiert Reden in Ost und West zum 40. Jahrestag  Voriges BlattNächstes Blatt
Unter den vielen Mitteln die staatliche Macht einer wirkungsvollen Kontrolle zu unterwerfen, nimmt der föderative Staatsaufbau eine ganz hervorragende Stelle ein. Ihm verdanken wir einen sehr guten Teil der inneren Stabilität unseres Gemeinwesens. Denn das föderale System hat beiwirkt, dass in den vergangenen 40 Jahren keine der großen politischen Kräfte von der Ausübung staatlicher Macht und der Wahrnehmung politischer Verantwortung je ganz ausgeschlossen war. Die Kraft, die im Bund nicht die Regierung stellte, hatte parallel dazu in einer Reihe von Ländern die Regierungsverantwortung. Und über den Bundesrat hat sie zudem die Möglichkeit, Einfluß auch im Bund auf die Gestaltung des Gemeinwesens zu nehmen. So konnte die Identifizierung des Staates mit einer einzigen Partei weitgehend vermieden werden. Auch darin liegt ein Stück Gewaltenteilung. [...]

Während der Zusammenbruch der DDR schon begonnen hatte, wurde am 7. Oktober 1989 im Berliner Palast der Republik ihr 40. Jahrestag gefeiert.

DDR-Staats- und Parteichef Honecker: Vor 40 Jahren wurde der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden, die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Jeder, der das Glück hatte, an diesem historisch bedeutsamen Ereignis beteiligt zu sein, denkt nicht ohne Bewegung an die Tage zurück, in denen die Arbeiter und Bauern im Bunde mit der Intelligenz und allen Werktätigen im wahrsten Sinne des Wortes ihre Macht errichteten. Im Westen, wo das Potsdamer Abkommen mit Füßen getreten wurde, war, ohne das Volk zu fragen, ein Separatstaat entstanden. Dort wurde die Restauration der alten Gesellschaft in Gang gesetzt. [...]

     Heute ist klarer denn je: Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, die durch die Volksbewegung für Einheit und gerechten Frieden zustande kam und deren Verfassungsentwurf bereits in allen Zonen auf breiter Basis diskutiert wurde, war geradezu eine geschichtliche Notwendigkeit. [...]
     Unsere Republik gehört heute zu den zehn leistungsfähigsten Industrienationen in der Welt, zu den knapp zwei Dutzend Ländern mit dem höchsten Lebensstandard. Und vergessen wir dabei nicht, dass der Wohlstand hierzulande weder aus der Erde sprudelt noch auf Kosten anderer erreicht wurde. Die DDR ist das Werk von Millionen, von mehreren Generationen, die in harter Arbeit ihren Arbeiter- und-Bauern-Staat aufgebaut haben, einen Staat mit moderner Industrie und Landwirtschaft, mit einem sozialistischen Bildungswesen, mit aufblühender Wissenschaft und Kultur. Schließlich - die DDR, eine Weltnation im Sport. Mit unseren Händen und Köpfen haben wir das zuwege gebracht unter Führung der Partei der Arbeiterklasse. [...]
     Wir werden unsere Republik in der Gemeinschaft der sozialistischen Länder, durch unsere Politik der Kontinuität und Erneuerung, auch künftig in den Farben der DDR verändern. Die Ziele sind im Programm unserer Partei niedergelegt. Es geht um die weitere Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Selbstverständlich ist dies kein Vorhaben, das binnen kurzer Zeit und nach fertigen Rezepten, ohne unablässige Suche nach den jeweils zweckmäßigsten Lösungen zu bewältigen wäre. [...]
     Das Leben in unserem Lande wie auch die internationalen Ereignisse stellen in unserer Zeit Fragen, die der klaren Antwort von einer festen Position aus bedürfen.
BlattanfangNächstes Blatt

   194   Dokumentiert Reden in Ost und West zum 40. Jahrestag  Voriges BlattArtikelanfang
Unsere Position leiten wir nicht von einem der Revolverblätter der BRD oder des dortigen Rundfunks und Fernsehens ab, sie ergibt sich nicht aus irgendwelchen veralteten Lehrsätzen, sondern aus der schöpferischen Anwendung des Marxismus-Leninismus, aus den Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen. Mit einem Wort, unsere Position ist die einer Politik nach dem obersten Grundsatz, alles zu tun für das Wohl des Volkes und seine friedliche Zukunft. [...]
     Die zügellose Verleumdungskampagne, die derzeit, international koordiniert, gegen die DDR geführt wird, zielt darauf ab, Menschen zu verwirren und Zweifel in die Kraft und in die Vorzüge des Sozialismus zu säen. Dies kann uns nur darin bestärken auch in Zukunft alles zu tun für ein friedliches europäisches Haus. [...]
(Zitiert nach »Neues Deutschland« vom 9. Oktober 1989)

UdSSR-Staats- und Parteichef Gorbatschow: Natürlich hat die DDR wie jedes andere Land ihre eigenen Entwicklungsprobleme, die ihre Durchdenkung und ihre Lösung erfordern. Sie sind sowohl vom inneren Bedürfnis der Gesellschaft zur ständigen Weiterentwicklung hervorgerufen als auch vom allgemeinen Prozeß der Modernisierung und Erneuerung, der jetzt im gesamten sozialistischen Lager vorgeht. Alle Staaten sind von Integrationsprozessen, von Veränderungen innerhalb der internationalen wirtschaftlichen und politischen Ordnung ergriffen. Keiner kann gegenüber den globalen Problemen und Erfordernissen der wissenschaftlich-technischen Revolution teilnahmslos bleiben. Wir zweifeln nicht daran, dass die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands mit ihrem intellektuellen Potential, ihren reichen Erfahrungen und ihrer politischen Autorität imstande ist, in Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Kräften Antwort auf die Fragen zu finden, die durch die Entwicklung der Republik auf die Tagesordnung gestellt wurden und die ihre Bürger bewegen.

Eigentlich geht es um die Entfaltung der Möglichkeiten die unserer sozialistischen Ordnung innewohnen - der Ordnung der Werktätigen, der Volksherrschaft. Die Sowjetunion ist aufrichtig daran interessiert, dass die Deutsche Demokratische Republik weiterhin erstarkt und sich entwickelt [...]
     Es scheint, als würden die Reformen in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern einige Politiker dazu verführen, diese oder jene ihrer alten Ansprüche wieder geltend zu machen. Es ging so weit, sogar eine zweifelhafte Interpretation der im Juni in Bonn unterzeichneten sowjetisch-westdeutschen Erklärung zu geben. [...]
     Vor allen Dingen sollten unsere westlichen Partner davon ausgehen, dass die Fragen, die die DDR betreffen, nicht in Moskau, sondern in Berlin entschieden werden. [...]
(Zitiert nach »Neues Deutschland« vom 9. Oktober 1989)

Vor dem Festakt im Palast der Republik hatte Gorbatschow - nach einer Erklärung seines Pressesprecher Gerassimow vor Journalisten - gegenüber Erich Honecker und den anderen Mitgliedern des SED-Politbüros erklärt: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«
     Elf Tage nach dem DDR-Jubiläum wurde Erich Honecker auf der 9. ZK-Tagung zum Rücktritt gezwungen, und sein Nachfolger Egon Krenz erklärte u. a.: »Fest steht, wir haben in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten.« ...

Zusammengestellt von Horst Wagner

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
www.berlinische-monatsschrift.de