179   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Nächstes Blatt
Die Samariter-Kirche in den achtziger Jahren

Die Dokumentation fußt auf einer Arbeit von Evelyn Schulz mit dem Titel »Gegenwartshistorische Analyse zur Rolle von einzelnen Kirchengemeinden im Kirchenkreis Friedrichshain in der Zeit von 1980 bis 1989«. Die Untersuchung bezieht sich auf vorgefundene Unterlagen und Dokumente der Friedrichshainer Gemeinden, die von der Autorin kommentiert wurden. Die Ausarbeitung entstand im Rahmen eines kirchengeschichtlichen ABM-Projekts. Sie wurde im September 1993 abgeschlossen und umfasst 232 Seiten.
     Frau Generalsuperintendentin i. R. Laudien stellte der Berlinischen Monatsschrift die Analyse freundlicherweise zur Verfügung. Die Auswahl des Textes für die Dokumentation wurde von Bernhard Meyer vorgenommen. Im Blickpunkt stand dabei nur die Samariter-Kirche. Text und Nummerierung der Quellenangaben wurden gegenüber dem Original nicht verändert.
      Die Redaktion

1980
Die Bereitschaft zur selbstständigen Mitarbeit der meist jungen Christen in Friedens-, Umwelt- und Dritte-Welt-Gruppen ist vom Staat als Einmischung in die von der herrschenden Partei kontrollierte Innenpolitik missverstanden worden. Die sowohl nach innen als auch nach außen sich abgrenzende DDR hatte überhaupt kein Interesse an den gestalterischen Potenzen ihrer Bürger. Aktivität, Eigeninitiative, die Entwicklung alternativer Modelle zur Lösung gesellschaftlicher Probleme oder Experimente zu neuen Formen des Zusammenlebens passten nicht zu dem Bild vom disziplinierten Staatsbürger, das die Regierenden der DDR bis zum Herbst 1989 versucht hatten aufrechtzuerhalten ...
     Eine Kirche, die sich als »Kirche für andere« (Bonhoeffer) verstand, musste es sich zur Aufgabe machen,

den Friedensgedanken, den Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung, die Ökumene und die Diakonie nach außen zu tragen. Dies schloss auch Initiativen zum Bewußtmachen und Verändern gesellschaftlicher Verhältnisse mit ein.
     Eindrucksvoll wird der Charakter der Auseinandersetzung zwischen staatlichen Behörden und Gemeinden am Beispiel der Bluesmessen deutlich. Diese publikumswirksamen Gemeindeveranstaltungen waren Gottesdienste, wenn auch in einer unkonventionellen Form, die nicht bei jedem Gemeindemitglied gleich großen Anklang fand. Die Behörden jedenfalls versuchten sie immer wieder zu verhindern.
     Auf Initiative des damaligen Kreisjugendpfarrers Rainer Eppelmann fanden bereits Ende der siebziger Jahre erste Bluesmessen im Kirchenkreis Friedrichshain statt. Alternativ zur offiziellen Jugendarbeit in der Freien Deutschen Jugend, fanden sich dabei junge Leute zusammen, die auf der Suche nach ihnen gemäßen Lebensformen waren. Ihre Hoffnungen und Sehnsüchte fanden sie glaubwürdig in der Musik, insbesondere im Blues, ausgedrückt. Gemeinsam mit Gleichgesinnten, mit denen sie auch die Skepsis gegenüber allen Autoritäten - besonders der staatlichen - teilten, fanden sie bei den Bluesmessen Gelegenheit des Austausches untereinander. Hier trafen sie auf Leute, die als Christen offen für ihre Probleme, Ängste und Wünsche waren. Die meisten dieser jungen Menschen hatten keine Beziehung zum christlichen Glauben, es waren einige darunter, die noch nie eine Kirche von innen gesehen hatten. Für die Gemeinden war ihre Unbefangenheit chancenreich und problematisch zugleich. Die Verbindung des alttestamentarischen Klagepsalms mit dem Blues, die eindringlichen Worte des Pfarrers, ja die ganze Atmosphäre einer solchen Veranstaltung vermittelten den Leuten, die aus dem ganzen Land zu den Bluesmessen anreisten, ein zuvor kaum erlebtes Zusammengehörigkeits-Gefühl.
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   180   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
Völlig frei konnten Erfindungen in den Gebeten der Bluesmessen formuliert werden: »Herr, höre meine Klage und mein Gebet! ... Mauern von Zwängen und Spott umgeben mich, zwischen Anweisungen und Verboten bin ich eingeschlossen wie hinter elektrischem Stacheldraht ... Was ich tue, steht bereits fest. Wie ich wirklich bin, weiß ich nicht, man hat mir den Willen abgenommen und zerbrochen ... Ich will nicht die Rolle spielen, die andere mir zuschreiben.
     ... Befreie mich von meiner Angst, zerschlage Spott und Machtgier und gib mir zurück, was mir gehört, damit ich froh sein und dich loben kann«.5) [...]
     Die Einschätzung der Jugendmitarbeiter Berlins vom Herbst 1979 war zutreffend, dass in immer stärkerem Maße Jugendliche von der Theorie und der Praxis des bei uns existierenden Sozialismus nicht zufriedengestellt, bei den Kirchen nach Antworten und Verständnis für ihre Fragen und Probleme suchen. [...] Ständig gab es Anwürfe des Staates gegen die Bluesmessen, auf die die Kirche reagieren mußte. Sowohl im Friedrichshainer Pfarrkonvent als auch in der Kirchenleitung bestanden unterschiedliche Auffassungen zu der Jugendarbeit Pfarrer Eppelmanns, insbesondere zu den Bluesmessen. Die aus den Unterlagen der Abteilung Inneres und des Referats für Kirchenfragen im Rat des Bezirkes Friedrichshain herauszulesende Absicht, Pfarrer Eppelmann von den übrigen Pfarrern und Pfarrerinnen zu isolieren, schlug allerdings fehl: Über die Hälfte der Pfarrer/innen des Kirchenkreises nahm regelmäßig an den Bluesmessen teil. [...] Am 25. Februar 1980 bestellte der Stellvertreter des Stadtbezirksbürgermeisters für Inneres Pfarrer Eppelmann ins Rathaus. Aus den Ratsakten geht hervor, dass es die Angst der staatlichen Behörden vor Kontrollverlust war, die hinter der Forderung nach Einstellung der Bluesmessen stand [...]
1981
In einem Brief vom 1. Juni 1981 an den Nationalrat der Nationalen Front, einer Organisation, in der alle Parteien und Organisationen, die es in der DDR gab, zusammengefasst waren, mahnte Pfarrer Eppelmann seine Rechte als Bürger an, die er in Verbindung mit den im Frühjahr 1981 anstehenden Wahlen zur DDR-Volkskammer brachte. Er kritisierte die bisher nicht erfolgte Beantwortung seiner Eingaben, das fehlende Verständnis für die Bluesmessen sowie die Berichterstattung der DDR-Medien über die Ereignisse in Polen. Er müsste feststellen, so teilte er dem Nationalrat mit, dass die zur Wahl stehenden Volksvertreter seine Interessen nicht vertreten würden, und sandte seine Wahlbenachrichtigung zurück. Außerdem zählte er eine Reihe von Problemen auf, mit denen sich der Staat beschäftigen sollte: Er thematisierte den Wehrkundeunterricht an den Schulen, den Umweltschutz, und die Reisebeschränkungen nach Polen bzw. ins westliche Ausland. Er sprach das Zuständigkeitsdilemma bei der Ausführung dringend notwendiger Bauarbeiten an der Samariterkirche an und machte staatliche Willkür z. B. gegen Bürger mit Tätowierungen öffentlich an.9) Dieser Brief wurde nie beantwortet. [...]
     Vom 8. bis 18. November 1981 fand die zweite Friedensdekade, diesmal unter einem Motto - »Gerechtigkeit - Abrüstung - Frieden«, statt. In einem während der Friedensdekade entstandenen Brief des Friedenskreises der Samaritergemeinde an den Friedensrat der DDR hieß es: »Damit der Frieden von Bestand ist, macht es sich erforderlich, Kinder und Jugendliche zum Frieden zu erziehen. Die Friedenserziehung muss schon in den Kinderkrippen und besonders in den Kindergärten beginnen. Der Friedensgedanke wird jedoch nicht durch Kriegsspielzeug jeglicher Art , durch Verherrlichung des Soldaten oder Besichtigung von NVA-Truppenteilen gefördert.
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   181   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
Durch diese Erziehung wird das Waffenhandwerk zur Selbstverständlichkeit erhoben. Bei den schulpflichtigen Jugendlichen muss auf den Wehrkundeunterricht und dem damit verbundenen Aufbau von Feindbildern, auf die Durchführung von Manövern und ähnlichem verzichtet werden. Es sollte ein Unterrichtsfach eingeführt werden, in dem Kinder und Jugendliche lernen, welche Möglichkeiten es gibt, auf internationaler Ebene Frieden zu erhalten und zu fördern. Es scheint uns von Wichtigkeit, der Jugend Möglichkeiten zu bieten, im Rahmen der DSF wirkliche Kontakte und über deren Rahmen hinaus auch mit Jugendlichen anderer Länder Freundschaften zu pflegen. Zur Förderung des Friedenswillens wäre es begrüßenswert, die Möglichkeit des Ableistens der Wehrpflicht als Bausoldat durch die Einrichtung eines »Sozialen Friedensdienstes« zu erweitern. Dieser »Soziale Friedensdienst« sollte auch diejenigen einschließen, die gerade ihren Grundwehrdienst leisten bzw. schon abgeleistet haben.« [...]
     Der mit 100 Unterschriften versehene Brief ging auch an den Staatsratsvorsitzenden Honecker, den Zentralrat der FDJ, das Volksbildungsministerium, die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, den Kreiskirchenrat von Friedrichshain und den Gemeindekirchenrat der Samaritergemeinde. [...]

1982
Am 25. Januar 1982 wandte sich Pfarrer Eppelmann mit dem Berliner Appell »Frieden schaffen ohne Waffen« an die Politiker und eine breite Öffentlichkeit.
     Der Berliner Appell war eine Herausforderung, ja eine Provokation: Nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki waren sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik Deutschland auf »gutnachbarliche Beziehungen zum gegenseitigen Vorteil« bedacht. Die Forderung nach Abzug der Besatzungsmächte aus beiden Teilen Deutschlands zielte auf eine Veränderung des so genannten Status quo in Europa. [...]

Die in der Bundesrepublik erscheinende Zeitung »Frankfurter Rundschau« veröffentlichte den Berliner Appell am 9. Februar 1982 im Wortlaut. Noch am selben Tag erwirkte der Generalstaatsanwalt der DDR die Festnahme von Pfarrer Eppelmann. Die Leitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg hatte protestiert und am 11. Februar wurde das Verfahren eingestellt und Pfarrer Eppelmann aus der Haft entlassen.[...]
     Die Kirchenleitung stellte sich im Großen und Ganzen hinter die Inhalte in der Friedensfrage, kritisierte aber die Methode. Die Kirche in der DDR war nicht wirklich frei. Ihre Positionsbestimmung im Staat, das Ringen um Freiräume und der Anspruch, Zeugnis- und Dienstgemeinschaft zu sein, forderten sie immer wieder heraus. Die Gefahr, der die Kirche stets ausgesetzt war, bestand darin, vom Staat in das allgemeinbekannte Klassenfeindschema gepresst zu werden. Alternatives Gedankengut war in der DDR nicht zu veröffentlichen. Wahrscheinlich hat Pfarrer Eppelmann Konflikte sowohl mit dem Staat als auch mit der Kirchenleitung ganz bewusst einkalkuliert, als er sich zur Veröffentlichung in den Westmedien entschloß. Welche andere Möglichkeit, auch die der Kirche fernstehende Öffentlichkeit zu erreichen, hätte es gegeben?[...]
     Für den 23. Februar 1982 wurde eine Sondersitzung des GKR der Samaritergemeinde mit folgender Tagesordnung einberufen: Vorgeschichte und Vorstellung der Entwicklung, die zum Berliner Appell geführt hat. Warum gab es vorab keine Information an den GKR? Fragen des GKR an Pfarrer Eppelmann Wie geht es weiter? Auf Grund der angespannten Situation hielt es der GKR für angebracht, Robert Havemann als Mitunterzeichner des Berliner Appells vorerst nicht in die Gemeinde einzuladen.18) [...]
     Mit dem Tod Robert Havemanns am 17. April 1982 verlor die sich formierende Opposition in der DDR einen ihrer Theoretiker.
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   182   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
Die den Wissenschaftler und marxistischen Systemkritiker würdigenden Worte Rainer Eppelmanns, die er während der Beisetzungsfeier sprach, lösten erhebliche theologische Bedenken bei der Kirchenleitung aus. Er verband diese Feststellung mit dem Aufruf, Havemanns Beispiel zu folgen und sich »mit gleicher Entschiedenheit, mit der gleichen Opferbereitschaft ... für Frieden und Verständigung einzusetzen.«21) [...]
     Die Friedensdekaden der achtziger Jahre wurden zu einem Podium für den freimütigen Gedankenaustausch Andersdenkender. Deshalb wurden gerade sie vom Staat argwöhnisch beobachtet. Er fand Mittel und Methoden der Repression, von der konspirativen Beobachtung bis hin zu Versuchen der Erpressung und Beeinflussung kirchlicher Mitarbeiter, Teilnehmer an Friedenskreisen, interessierter Bürger und engagierter Künstler. Seit Bestehen der Friedensdekaden sind die Veranstaltungen von als »Teilnehmer« getarnten so genannten »Agitatoren« genau beobachtet und protokolliert worden. Die »Teilnehmer« sollten Diskussionen lenken und »gegensteuern«, vor allem aber sollten sie Bericht erstatten und Namen übermitteln. Die auf diese Weise zu Stande gekommenen Informationen wurden in der Abteilung Inneres beim Rat des Stadtbezirks ausgewertet und »entsprechende Maßnahmen« eingeleitet. Eine weitere Popularität der Friedensdekaden sollte verhindert werden. Empfindlich reagierten die Behörden auf die Anwesenheit westlicher Journalisten, die über ihre Medien für eine breite Öffentlichkeit der Dekaden sorgten [...]

1983
Auftakt zu den kirchlichen Feierlichkeiten zum 500. Geburtstag Martin Luthers war die Eröffnungsveranstaltung im Mai in Eisenach. Die sieben regionalen Kirchentage in der DDR fanden unter dem nicht unumstrittenen Motto »Vertrauen wagen« statt. Vertrauen untereinander war für engagierte Gemeindeglieder unabdingbare Voraussetzung.

Inwiefern konnte man aber dem Staat Vertrauen entgegenbringen, einem Staat, der seinen Bürgern mit größtem Misstrauen begegnete? In einem von Pfarrer Eppelmann und dem Schriftsteller Lutz Rathenow unterschriebenen Brief von Christen aus Berlin und Jena an die im Mai 1983 in Westberlin stattfindende Konferenz für Europäische Abrüstung vom hieß es u. a. »Wir werden uns geduldig und beharrlich bemühen, ein innenpolitisches Klima zu fördern, das den außenpolitischen Friedensinitiativen unserer Regierung mehr Glaubwürdigkeit verleiht. Wir werden nicht aufhören, dort zu widersprechen, wo die Friedensgesinnung von Menschen in unserer Gesellschaft Schaden nehmen kann.«28) [...]
     Am 1. September 1983 erreichte Pfarrer Eppelmann ein Anruf des Stellvertreters des Bezirksbürgermeisters für Inneres, der in einem Gedächtnisprotokoll durch Pfarrer Eppelmann wiedergegeben wurde: Inneres hätte erfahren, dass am nächsten Tag um 20.00 Uhr in der Samaritergemeinde eine Ausstellung eröffnet werden sollte. Dies wäre keine gottesdienstliche Veranstaltung und müsste daher beim Erlaubniswesen der Volkspolizei auf dem zuständigen Polizeirevier angemeldet werden. Der Bezirksrat hätte sich informiert - eine solche Anmeldung hätte nicht vorgelegen und er würde Pfarrer Eppelmann dringend empfehlen, dies noch am selben Tag nachzuholen, damit die Erlaubnis erteilt werden könnte. Daraufhin antwortete Eppelmann, woher er denn wüsste, dass diese Veranstaltung kein Gottesdienst wäre. Er würde den Ablauf nicht kennen und es ginge hier doch um unterschiedliche Auffassungen von zuständigen staatlichen Stellen und der Kirche. Das könnte hier in Friedrichshain nicht gelöst werden.
     Am 2. September 1983 kam ein erneuter Anruf von Inneres, in dem Pfarrer Eppelmann aufgefordert wurde, noch am selben Tag bei Inneres zu erscheinen. Eppelmann kam dieser Aufforderung nach. Bei dem Gespräch war noch Samariter-Pfarrer Siegfried Mueller-Schlomka dabei.
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   183   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
In diesem Gespräch teilte man den Pfarrern im Auftrag des Rates mit, da von ihnen keine Erlaubnis beantragt worden wäre, auch vom Rat keine erteilt werden könnte, und darum würde die Veranstaltung am Abend nicht stattfinden. Es wären schon alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet worden. Pfarrer Eppelmann antwortete daraufhin, dass der Gottesdienst, in dessen Rahmen die Ausstellung zum Thema »Frieden« eröffnet werden sollte, stattfinden würde [...]
     Die Unterlagen der staatlichen Behörden belegen eindeutig die Versuche, kirchliche Mitarbeiter, insbesondere Pfarrer, in sogenannten Vieraugengesprächen zu beeinflussen und auf diese Art Informationen über innerkirchliche Vorgänge zu sammeln. Über die Pfarrer des Kirchenkreises und die Superintendentin wurden von der Abteilung Inneres Dossiers angelegt, die inhaltlich und stilistisch den Charakter von Schülerbeurteilungen trugen, wie sie an DDR-Schulen üblich waren. Äußerungen von Kirchenleuten wurden fast immer verzerrt wiedergegeben, man versuchte auf diese Art und Weise innerhalb der Pfarrerschaft zu »differenzieren«, was den Versuch bedeutete, die Pfarrer und Pfarrerinnen direkt zu beeinflussen, um innerhalb des Pfarrkonventes Unstimmigkeiten und gegenseitige Abneigungen zu provozieren. Dies war nach Aussagen der befragten Pfarrer des Kirchenkreises nicht gelungen[...]

1984
Wie wichtig eine Zusammenarbeit mit anderen Gruppen für die aktiven Glieder der Samaritergemeinde war, zeigt ein Aufruf des Arbeitskreises »Frieden stiften« vom 3. März 1984: »Auf Grund der ständig sich verschärfenden politischen Lage rufen wir alle Friedenskreise in der DDR auf: Mit mindestens zwei Friedenskreisen in der DDR festen Kontakt zu halten; sich über Aufgaben, Probleme, anstehende Fragen auszutauschen.

Sich schriftlich an die Regierung und an die Kirchenleitung zu wenden und um einen Aufstellungsstop für jegliche Massenvernichtungswaffen auf dem Territorium der DDR zu bitten.
     Der Regierung Mut zu machen, sich wieder für konkrete Verhandlungen einzusetzen. Bei Gesprächen mit staatlichen Organen oder Stellen seinen Standpunkt immer wieder zu bekräftigen. Schließt mit Personen oder Gruppen aus anderen Ländern »Friedensversprechen« ab!42) [...]
     Es gehörte zur Praxis des Staates, Kontakte zwischen westdeutschen/ westberliner Gemeinden und Gemeinden aus der DDR zu erschweren. Die Möglichkeit, persönliche Begegnungen zu verhindern, lag vor allem in der Verweigerung der Einreisegenehmigungen. Manchmal wurden die Besucher auch erst an der Grenze mit der Begründung zurückgewiesen, unerwünscht zu sein. Meist aber wurden von den Behörden keine Begründungen gegeben. Die Samaritergemeinde teilte dem Konsistorium schriftlich am 19. September 1984 mit, dass vier Mitarbeiter bzw. Gemeindeglieder der Geesthachter Partnergemeinde keine Einreise in die DDR bekamen, die Glaubwürdigkeit der Bundessynode von 1983 wurde angemahnt [...]
     Die Aktion der Gruppe »Frieden stiften«, die sich ohne vorherige Information an die Volkskammer gewandt hatte, wurde vom Gemeindekirchenrat der Samaritergemeinde kritisiert. Die Gruppe forderte in einem Schreiben vom 4. Oktober 1984 an die Volkskammerabgeordneten, sich als gewählte Volksvertreter dafür einzusetzen, dass Kriegsspielzeug in der DDR nicht produziert und verbreitet wird. Es wurde auf eine Meinungsumfrage im Freundes- und Bekanntenkreis verwiesen, nach der sich 7 483 der Befragten durch ihre Unterschrift für ein Verbot und nur 17 für Produktion, Verbreitung und Einfuhr von Spielzeug mit militärischem Charakter einsetzten. Die Volkskammer reagierte auf das Schreiben nicht [...]
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   184   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
Die Friedensdekade 1984 stand unter dem Motto »Leben gegen den Tod« und fand vom 11. bis 21. November statt. Die Veranstaltungen in der Samaritergemeinde wurden von durchschnittlich etwa 270 Menschen täglich besucht. Das Motto stand für die Bereitschaft der kirchlichen Friedensbewegung, trotz Raketenstationierung in Ost und West und anhaltender Ausreise von DDR-Bürgern Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung zu übernehmen. Eine Änderung des Lebensstils, u. a. Konsumverzicht und ein geändertes Verhalten der Natur gegenüber, wurde angemahnt [...]

1985
Im Januar traf sich der Friedenskreis der Samaritergemeinde zur Vorbereitung der Friedenswerkstatt 1985. [...] Bei den Künstlern, die um Teilnahme gebeten wurden, handelte es sich um DDR-kritische Schriftsteller/ Sänger, die renommiert und auch über die Grenzen hinaus bekannt waren, die sich den Funktionären aber nicht anbiederten und die in der DDR als moralische Instanz galten, z. B. Jurek Becker, Volker Braun, Günter de Bruyn, Stefan Heym, Rolf Schneider u. a., aber auch um Leute, die fern vom offiziellen Kunstbetrieb Alternatives in ihrem Werk darstellten und damit das kulturelle Klima zumindest in Berlin wesentlich mitbestimmten, z. B. Lutz Rathenow, Peter Wawerzinek, Stephan Krawczyk u. a. Sie vermittelten der ansonsten nach außen sich abschottenden DDR so etwas wie kulturelle Offenheit. Selbst wenn sich nach der »Wende« herausstellte, dass sich auch Künstler durch Zuträgerschaft für die Staatssicherheit diskreditierten, kann man doch zu jenem Zeitpunkt von einer eigenständigen Alternativszene sprechen. Künstler erhielten für ihre Auftritte im kirchlichen Raum keine Honorare, manchmal jedoch Aufwandsentschädigungen. Nachdem die Behörden für einzelne Künstler, die der »staatsfeindlichen Hetze« beschuldigt wurden, Auftrittsverbot verhängten, war der Auftritt in den Gemeinden die einzige Möglichkeit, durch eine für sie bestimmte

Kollekte, den Lebensunterhalt für eine Weile zu bestreiten [...]
     Der für den 11. November geplante Liederabend mit Gerhard Schöne in der Samariterkirche musste wegen Krankheit des Liedermachers ausfallen. Stattdessen interpretierte Stephan Krawczyk Texte verschiedener Autoren. Im Nachklang zu dieser Veranstaltung schrieb ein Rezensent in der Berliner Kirchenzeitung: »Die anfängliche Enttäuschung der vorwiegend jungen Besucher war bald durch das Programm und die Ausstrahlungskraft des Interpreten überwunden. Es war beeindruckend, wie Stephan Krawczyk seine Lieder und Mimik gestaltete. Sie zielten auf eine verbreitete Blind-, Stumm- und Dummheit des einzelnen und dem oft daraus entstehenden Kleinkrieg zwischen Menschen.« Der Rezensent befürchtete, »dass Jugendliche manchmal die leisen Zwischentöne eines solchen Programms nicht aufnehmen und verarbeiten können, weil diese im Alltag so selten eine Rolle spielen. Das Problem sollte in der kirchlichen Jugendarbeit bedacht werden und außer spektakulären Angeboten auch mit den Jugendlichen eigene Betroffenheit entdeckt und Zusammenhänge aufgedeckt werden.«57) Am nächsten Abend traten neben bekannten Liedermachern Stephan Krawczyk und Freya Klier mit ihrem Programm »Steinschlag« - Lieder, Texte und Szenen aus dem Ehealltag - in der Samariterkiche auf [...]

1986
Am 24. Januar 1986 gründete sich in Berlin eine Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM). Sie war eine nichtkirchlich getragene Gruppe kritischer Bürger, offen für alle Weltanschauungen und Berufe. So fanden sich in ihr u. a. Wissenschaftler, kirchliche Mitarbeiter und Künstler. Zu kirchlichen Gruppen gab es Verbindung. Vier Bürger, unter ihnen auch der Pfarrer der Samaritergemeinde Rainer Eppelmann, verfassten einen Appell zum UNO-Jahr des Friedens an die Regierung der DDR, der von Honecker nicht beantwortet wurde.

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   185   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
     Hier die wichtigsten Inhalte des Aufrufes:
Vorschläge zur Durchsetzung von Menschenrechten sollen öffentlich diskutiert werden
Einschränkungen der Reisefreiheit werden als Misstrauen des Staates seinen Bürgern gegenüber gewertet, Reisefreiheit wird als Menschenrecht gesehen und muss daher einklagbar sein
die Anwendung der Verfassungsartikel 106, 107, 218 auf die Verfolgung politischen Engagements wird als juristisch fragwürdig abgelehnt
Volksaussprachen und Meinungsumfragen sollen als Korrelativ genutzt werden
Demokratisierung des Wahlsystems wird ebenso gefordert wie Versammlungs- und Kundgebungs- und Meinungsfreiheit
die Möglichkeit, den Wehrdienst straffrei zu verweigern, sollte eingeführt werden
die Schule muss entmilitarisiert werden
der Staat sollte Dialogbereitschaft mit Andersdenkenden zeigen.61) [...]

     Am 5. Juni 1986 schrieben Gemeindemitglieder der Samaritergemeinde und ihr Pfarrer einen Brief an Erich Honecker als Reaktion auf den Störfall von Tschernobyl. Ausgehend von einem in dem Brief zitierten Gorbatschow-Wort, »dass die nukleare Epoche ein neues politisches Denken und eine neue Politik erfordert«, appellierten die Gemeindeglieder an die Regierung der DDR, ihre Einstellung zur Kernkraftnutzung grundsätzlich zu überdenken und die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen.
     In dem an Honecker gerichteten Brief wurde u. a. folgendes vorgeschlagen:
»... 7. Die Regierung der DDR unternimmt alle ihr möglichen Schritte, um in der internationalen Energiebehörde daraufhin zu wirken, dass die dortige Zusammenarbeit - einschließlich der sofortigen und umfassenden und allgemeinen Informationspflicht bei Havarien - deutlich verbessert wird.
8. Einrichtung eines obligatorischen Schulfaches mit dem Ziel, in ihm Fragen des Friedens, der Gerechtigkeit, des Umweltschutzes und eines neuen verantwortlicheren Lebensstils zu vermitteln. 9. Nutzung aller Medien, der Zeitungen und Zeitschriften, der Literatur und Kunst, um vor den Risiken der Atomenergie zu warnen und die Bevölkerung auf den geplanten Ausstieg vorzubereiten.«65) [...]
     Am 15. September 1986 organisierte der Friedenskreis der Samaritergemeinde einen Abend, an dem man sich über Fragen von Wehrdienst, Wehrersatzdienst und Totalverweigerung austauschte. Um die Probleme auf rechtlicher Grundlage diskutieren zu können, hatte Pfarrer Eppelmann den Rechtsanwalt Wolfgang Schnur eingeladen. Der spätere Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs von 1989 wurde 1990 als inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes enttarnt. In den Akten des Rates, Abteilung Inneres, die zur Auswertung für diese Arbeit vorlagen, finden sich keinerlei Hinweise auf das doppelte Spiel des Anwalts, zu dessen Mandanten bekannte Leute der Opposition zählten [...]

1987
Vom 3. Mai bis 30. Juni war täglich eine Ausstellung »750 Jahre Berlin« in der Samariterkirche zu sehen. Ebenfalls im Rahmen des Kirchentages hielt Reimar Gilsenbach einen Vortrag über die Sinti und Roma in Deutschland. Dazu wurde Original Sinti-Musik mit dem Sinti-Swing-Sextet geboten. Am 26. Juni 1987 lud die Samaritergemeinde zu einem »Altberliner Abend« ein. Ab 19.30 Uhr gab es im Gemeindehaus neben Essen und Trinken viel Geselligkeit bei Altberliner Küchenliedern mit Leierkastenbegleitung und Tanz. Gegen 21.30 Uhr lasen Autor Lutz Rathenow und Fotograf Harald Hauswald aus ihrem Text-Bild-Band »Berliner Ansichten«.

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   186   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
Zur selben Zeit fand in der Samariterkirche eine Aufführung von Büchners »Woyzeck« durch das Hoftheater Prenzlauer Berg statt. Am 27. Juni traten unter dem Motto »Lieder in Berlin« die Liedermacher Karl-Heinz Bomberg und Stephan Krawczyk sowie die Jazz-Rockgruppe »Schotterknechte« auf. [...]
     Die Samaritergemeinde bezog sich in ihren Veranstaltungen zur Friedensdekade 1987, die vom 8. bis 18. November durchgeführt wurde, auf einen Ausspruch Martin Luther Kings: »Wenn wir nicht lernen als Menschen miteinander zu leben, werden wir als Narren miteinander untergehen«, denn die Dekade stand unter dem Motto »Miteinander leben«.
     Der Familiengottesdienst »Wir alle in einem Boot« und Stephan Krawczyks Liederabend »Widerstehen« waren ebenso gut besucht wie die Lesung des Schriftstellers Ullrich Plenzdorf »Kein runter - kein rauf«, der Gottesdienst »Miteinander leben - das Recht auf Ungehorsam« oder der Vortrag von Pfarrer Markus Meckel über »Neues Denken in der DDR«. Ebenfalls im Rahmen der Friedensdekade fand am 17. November 1987 ein Podiumsgespräch in den Räumen der Lazarusgemeinde statt. Zu den »Möglichkeiten kirchlicher Friedensarbeit in der DDR« diskutierte u. a. Bischof Dr. Forck mit engagierten Christen und interessierten Bürgern. [...]

1988
Am Februarsonntag Invokavit des Jahres 1988 predigte Superintendentin Laudien zu Lukas 22, 31-34 in der Samaritergemeinde. Die tröstenden Worte Jesu aus dem Lukasevangelium »Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre« wurden von der Pfarrerin in einen direkten Bezug zu den gegenwärtigen Hoffnungslosigkeiten, durch die manch ein Leben in der DDR gekennzeichnet war, gebracht: »Den Gedanken kennt wohl jeder: Ich habe genug - ich gehe aus der Familie, ich gehe aus dem Beruf, ich gehe aus dem Land! Unsere Gemeinde ist in den letzten Tagen sehr oft im Radio und im Fernsehen des Westens genannt worden. Es gibt wohl keinen unter uns, der das nicht gehört hat. Aber Sie - Sie sind heute hier!

Sie haben nicht gesagt: Jetzt gehe ich da nicht mehr hin, wo ich nicht sicher sein kann, ob nicht nur der, dem ich etwas erzähle und erzählen will, das hört, sondern wo ich damit rechnen muss, dass das auch noch andere hören, mir ganz Unbekannte, und das dann irgendwann und irgendwo ausgewertet wird. Sie sind hier. Und dafür danke ich Ihnen! Wir müssen nun darüber nachdenken, wie wir mit der Tatsache zurecht kommen, dass es Menschen und Mächte gibt, die uns in Unruhe versetzen, die uns auch gegeneinander aufbringen wollen. Ich bin dankbar, dass ich für heute und für die Zukunft das Wort habe >Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre<.«78) [...]
     Am 11. Mai 1988 fand in der Samaritergemeinde eine Diskussionsrunde zum SPD-SED-Papier statt. Das 1987 von der Grundwertekommission beider Parteien gemeinsam erarbeitete Papier »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit [...] stellte für die DDR einen nicht zu unterschätzenden innenpolitischen Wirkungsfaktor dar«, wie Manfred Becker ausführte.79) Unter den damals Eingeladenen befanden sich neben Mitgliedern oppositioneller Gruppen, Kirchenvertretern und Gemeindegliedern auch einige als IM (Inoffizielle Mitarbeiter) für die Staatssicherheit tätige Leute, die nach der »Wende« enttarnt wurden. [...]
     Am 9. November 1988 gedachte man des 50. Jahrestages der Pogromnacht gegen die jüdische Bevölkerung Deutschlands. Innerhalb der Friedensdekade, vom 6. bis 16. November 1988 von den Gemeinden ausgerichtet, wurde auch an dieses Ereignis erinnert. Unter dem Motto der Dekade »Friede den Fernen und Friede den Nahen« fand in der Samaritergemeinde ein Familiengottesdienst statt. Innerhalb der Veranstaltungen zur Friedensdekade hielt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde OstBerlins Dr. Peter Kirchner einen Vortrag zum Thema »Die Jüdische Gemeinde in Berlin, damals und heute«. Die Gruppe »Aufwind« interpretierte Lieder nach jiddischsprachigen Texten und die Evangelische Spielgemeinde »Die Boten« gaben eine Aufführung des Antirassismusstückes »... und raus bist du!«.
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   187   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
An einem Podiumsgespräch zum »Verhalten der Deutschen zwischen 1933 und 1945« waren neben den Gemeindepfarrern Rainer Eppelmann und Hans-Peter Schneider der Rechtsanwalt Gregor Gysi, der Schriftsteller Rolf Schneider und der Publizist Paul Oesterreicher beteiligt. Zu diesen Veranstaltungen parallel lief eine Fotoausstellung »Juden in Berlin«. »Israel heute« war ein Dia- und Informationsabend im Café Schalom gewidmet. Den eindrucksvollen Vortrag über das Thema der »Verfolgung der Sinti und Roma - ein Weg, der nach Auschwitz führte« von Reimar Gilsenbach begleitete Hannelore Kurth mit Musik der Sinti und Roma. [...]

1989
Der kirchliche Raum wurde als Ort des Informationsaustausches jetzt auch auf wesentlich breiterer Basis genutzt. Darauf stellten sich die Behörden mit einem ungeheuren Aufwand an Polizei und Sicherheitskräften ein. Zu Beginn des Jahres 1989 war ihre Taktik unverändert. Gruppen und Einzelpersonen wurden konspirativ überwacht. Ein Lauschangriff gegen Pfarrer Eppelmann, er entdeckte im Dezember 1988 Abhörgeräte an verschiedenen Stellen in seiner Dienstwohnung, war die bisher schwerwiegendste Kampagne neben den Haftandrohungen gegen den Pfarrer. Rainer Eppelmann erstattete Anzeige und schaltete den Rechtsanwalt Gregor Gysi ein. [...]
     Da kein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, richtete Rechtsanwalt Gysi im Auftrag seines Mandanten eine Beschwerde an den Staatsanwalt. Es war bereits zu DDR-Zeiten bekannt, dass die Staatssicherheit sich derartiger Methoden der Personenüberwachung bediente. Welcher Staatsanwalt wollte (und konnte kraft seines Amtes) schon dagegen einschreiten. Der Friedenskreis der Samaritergemeinde organisierte für den 19. April 1989 eine Podiumsdiskussion zum Thema »Anspruch und Wirklichkeit - das SPD-SED-Papier heute«.

Über diese Veranstaltung, die in gespannter Atmosphäre stattfand, berichtete der eingeladene Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer: »Zum 19. April 1989 hatte Rainer Eppelmann in den Saal der Samaritergemeinde eingeladen. Er wollte erreichen, dass die Gespräche zwischen SPD und SED im Schloss Hubertusstock aus ihrer Isolierung herauskommen und der Dialog in der Gesellschaft vor der gesellschaftlichen Öffentlichkeit stattfinden könnte. Alles andere sah er, sahen wir als eine Verhöhnung an. So lud er als Koautoren Thomas Meyer von der SPD als auch Rolf Reißig von der SED und dazu Bärbel Bohley und mich zum Gespräch ... Das Papier forderte zur Dialogkultur in der geschlossenen Gesellschaft der DDR geradezu heraus. Aber der geladene Professor erschien nicht. (Er sagte später, er habe das Einladungsschreiben erst nach dem Termin erhalten.) Wegen der Brisanz war die westliche Presse zahlreich erschienen. Die Teilnahme von Bürgern hielt sich indes in Grenzen. Ich erinnere mich, wie ich mit trockenem Mund mein Eröffnungsstatement gesprochen habe, wissend, dass die »Geduld des Staates« nun zu Ende sein könnte, wie man mir mehrfach angedroht hatte.«86) [...]
     Die Superintendentin Frau Laudien ging in Gesprächen mit dem Stadtbezirksbürgermeister, dem Stellvertreter Inneres und dem Mitarbeiter Kirchenfragen auf dieses Thema ein. Sie brachte zum Ausdruck, dass im Pfarrkonvent keinerlei Zweifel am Mandat der Abgeordneten bestehen, wohl aber Zweifel an der veröffentlichten Zahl der Gegenstimmen. Die Addition der öffentlich bekannt gegebenen Gegenstimmen in den einzelnen Wahllokalen habe nach Feststellung kirchlicher Zählgruppen deutliche Differenzen zum offiziell veröffentlichten Wahlergebnis gebracht. Zu einer solchen Unkorrektheit könne man einfach nicht schweigen. In der Samariter-, Verheißungs- und Andreas-Markus-Gemeinde wurden die Aushänge zum Wahlergebnis nach einer gewissen Zeit wieder entfernt. [...]
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   188   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
     Am 8. Mai 1989 stellte der »Freundeskreis der Wehrdienst- und Totalverweigerer« an der Samariterkirche die zur Friedenswerkstatt 1988 angefertigte Plastik »Dem unbekannten Deserteur« von Michael Frenzel auf, nachdem die Plastik auf Beschluss des Gemeindekirchenrates der Lichtenberger Erlösergemeinde dort nicht mehr verbleiben durfte. Das der abstrakten Kunst verpflichtete Werk fand nicht die ungeteilte Zustimmung der Gemeinde, für den Staat aber war sie eine ernstzunehmende Herausforderung zur Wehrdienstverweigerung, der er unnachgiebig begegnete. In einem Schreiben vom 5. Juli 1989 an die Superintendentur des Kirchenkreises Friedrichshain und den Gemeindekirchenrat der Samaritergemeinde teilte das Konsistorium mit: »Herr Stadtrat H... hat in einem Gespräch mit Herrn Konsistorialpräsident Stolpe am 28. 6. 89 die Forderung des Magistrats erneuert, das Denkmal für den unbekannten Deserteur vor der Samariterkirche zu entfernen. Er machte nochmals geltend, es stünde auf volkseigenem Grund und Boden. Er bezeichnete es als einen Schandfleck. Der Staat sei berechtigt, dieses Denkmal zu entfernen, da eine solche Nutzung (des Geländes, Anm. d. Verf.) der Kirchengemeinde nicht zugestanden sei. Man wolle eine Entfernung gegen den Willen der Kirchengemeinde nach Unmöglichkeit vermeiden und bitte daher, dass die Kirchengemeinde selbst handeln möchte. Wir bitten, im Gemeindekirchenrat dazu nochmals Stellung zu nehmen.«92) [...]
     Ein Klagegottesdienst »China im Juni 1989«, an dem über 1500 Menschen teilnahmen, fand am 28. Juni 1989 in der Samariterkirche statt. Dazu wurde eine Ausstellung in der Kirche gezeigt, die die unterschiedliche Widerspiegelung der Pekinger Ereignisse in der Ost- und Westpresse darstellte. Das wurde auch von den Friedrichshainer Behörden registriert: »In der Samariter-Gemeinde wurde im Anschluss an den Fürbitt-Gottesdienst
im Juni für die Opfer der Ereignisse in China eine Ausstellung zum gleichen Thema gezeigt. In dieser Ausstellung sollte durch Gegenüberstellung verschiedener Pressestimmen aus anderen Ländern deutlich gemacht werden, dass ausländische Medien die Ereignisse im Juni in Peking anders bewerten, als die Medien unseres Landes.«94) [...]
     Die Montagsgebete unter den Augen von Staatssicherheit und Volkspolizei in den Kirchen des Landes wurden von immer mehr Menschen besucht. Als es am 2. Oktober 1989 im Anschluss an ein wöchentliches Friedensgebet zu einer Demonstration von mehr als zehntausend Menschen in der Leipziger Innenstadt kam, schritt die Staatssicherheit in Verbund mit der Polizei ein und löste die Demonstration gewaltsam auf. Hunderte wurden verhaftet.
     Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR, kam es bei Gegendemonstrationen zu den offiziellen Feierlichkeiten in den Berliner Bezirken Prenzlauer Berg und Mitte zu erneuten Zuführungen. Intensiv setzte sich die Kirche für die Inhaftierten ein. Am Sonntag, den 8. Oktober, wurde in den Gottesdiensten zu Besonnenheit und Gewaltverzicht aufgerufen.
     Anlässlich des Kirchweihfestes der Offenbarungsgemeinde predigte Superintendentin Laudien aus dem 13. Kapitel des. 1. Korintherbriefes: »Liebe Gemeinde, wir fühlen uns alle krank ... seit den Bildern, die wir sahen ... Wir fühlen uns schon seit Wochen krank. Wenn wir vor dem Fernseher sitzen, kommen uns die Tränen - bei beiden Sendern. Bei dem einen, weil so getan wird, als wäre nichts - die Republikfeierlichkeiten nahmen und nehmen ihren Lauf.
     Bei dem anderen, weil er uns immer wieder Gesichter zeigt, Gesichter der Weggegangenen, Gesichter der jungen Menschen, die bleiben wollen und die verändern wollen. Vor allem aber kommen wir uns vor wie Trauernde, wie Hinterbliebene.« [...]
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   189   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattNächstes Blatt
Wie es sich so mit der Macht verhält, die Menschen über Menschen ausüben, sprach sie direkt an: »Alle, die einen leitenden Posten haben, sei es im Betrieb, sei es in der Kirche, sei es auch in der Familie, die wissen, wie schwer es ist, sich in die Karten kucken zu lassen ... Wahrhaftigkeit und Offenheit sind nahe beieinander und dazu kommt die Liebe, die vieles möglich macht. Der Apostel Paulus sagt - alles. Die Liebe ist sozusagen der Ton, der die Musik macht. Die Liebe kommt auf Ideen, vielleicht auf die Idee, sich einmal auf den anderen Stuhl zu setzen. Was würde ich z. B. tun, wenn ich im Rathaus Friedrichshain säße, eingebunden in meinen Funktionsplan, in den Fünfjahrplan, in die Beschlüsse der Stadtbezirksverordnetenversammlung, in die Parteidisziplin? Ich würde Spielräume ausschöpfen und ständig erweitern ... Ich würde mir auch Freunde schaffen, die ganz anders denken als ich, die ganz anders geschult sind. Ein jeder Marxist braucht einen Christen zum Freund und umgekehrt stimmt das auch.
     ... Wir wollen den anderen nicht so machen, wie wir sind. Wir wollen an seinem Reichtum Anteil nehmen und auch an seiner Armut, und wir wollen beides mit ihm teilen, auch die Folgen seiner Fehler. Das hohe Lied der Liebe ist ein Lied für das Irdische, für das Gesellschaftliche, für das Zwischenmenschliche. Es ist auch ein Lied, das über das Irdische hinausgreift. Der Himmel wird sozusagen auf die Erde geholt und die Erde in den Himmel gehoben, wenn gesungen wird »nun aber bleibt Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, aber die Liebe ist die Größte unter ihnen«. Gott, der die Liebe ist, schaut auf uns, ist mitten unter uns. Das macht mich ruhig in einer unruhigen Zeit, und das läßt mich träumen von einer guten Zukunft, in der nichts wichtiger ist, als Wahrheit, Liebe und Gottvertrauen. Amen«97) [...]
     Zu einem bemerkenswerten Gespräch zwischen dem Friedrichshainer Bezirksrat für Inneres, zwei Referenten für Kirchenfragen und den Pfarrern Cyrus, Schneider und Superintendentin Laudien kam es am 7. November 1989.
Hierbei räumte die staatliche Seite zum ersten Mal politische Fehler ein und stimmte den Kirchenvertretern in der Beurteilung der Situation im Lande zu. Das zwei und eine viertel Stunde dauernde Gespräch liegt als Gedächtnisprotokoll vor, von Superintendentin Laudien angefertigt und hier in seinen wichtigsten Aussagen zitiert: »B...: (d. i. Bezirksrat B., Anm. d. Verfasserin) Als Mitglieder der SED sind wir betroffen und beklommen, weil wir heute vor einer Situation stehen, auf die Sie seit Monaten hingewiesen haben. Unsere Reaktion darauf ist ausgeblieben. Wir wollen uns nicht nur Asche aufs Haupt streuen, sondern sehen, wo Unrecht geschah. Manches ist bei uns auf der mittleren Ebene schon in Bewegung, auf der höheren Ebene nicht. Es ist uns nicht leicht ums Herz (bei) so einer Begegnung mit Ihnen, in der müssen wir schuldbewusst auftreten und wollen das auch. Wir akzeptieren die Vorwürfe. Wir treten an mit der Verantwortung und wollen klären und auch sagen, wo unsere Grenzen sind und auch waren. [...] Wenn es zu einer >Wende< gekommen ist, dann nicht vom ZK oder Politbüro inszeniert, sondern von den Bürgern dieses Landes erzwungen, von denen, die in der Kirche waren und auf der Straße.
     Die Kirche hat großen und entscheidenden Anteil, (an) dem, was geschieht. Sicher denken nicht alle im Stadtbezirk so. Wir wollen weg von einer Einigkeit, die nur künstlich war. Es fällt uns nicht leicht, Ihnen so gegenüberzutreten, zumal wir voller Sorge sind. Die Wende ist noch nicht erreicht, sie ist aber eingeleitet. Wir stehen vor vielen Problemen: - Volksbildung, - ziviler Wehrdienst, - Umweltschutz. Ein orientierendes Wort von oben wäre nötig. Die Richtung ist noch nicht da. Wir setzen unsere Hoffnung in die nächsten drei Tage. Wir stehen vor unlösbaren Problemen im Stadtbezirk, was das Bauen und das Wohnen betrifft. Das Reisegesetz, gestern veröffentlicht, ist unzureichend und hat neuen Zorn hervorgerufen ... Was den Wehrersatzdienst betrifft, wir waren gezwungen, die offizielle Meinung zu vertreten ...«98) [...]
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   190   Dokumentiert Samariterkirche und Bürgerbewegung  Voriges BlattArtikelanfang
     Die Friedensdekade 1989 unter dem Motto »Kain und Abel - und was es heißt ein Mensch zu sein« fand vom 12. bis 22. November statt. Wie in jedem Jahr waren die Nachmittage und Abende von den Gemeinden sorgfältig vorbereitet worden, die Gäste rechtzeitig angeschrieben worden. Die politischen Tagesereignisse stürzten auf die Menschen ein, und es fiel schwer, die Friedensdekade trotz attraktiver Veranstaltungen durchzuhalten - zu sehr waren die Menschen in die sich stündlich ändernden Verhältnisse eingebunden. So fehlte vielen die innere Ruhe, die sich anbahnenden Veränderungen konnten gar nicht so schnell wahrgenommen werden. Wofür man sich seit Jahren, auch während der Friedensdekaden immer wieder engagierte, konnte plötzlich von einer Stunde auf die andere Wirklichkeit werden.
     Als der SED-Chef von Berlin am späten Donnerstagnachmittag des 9. November 1989 über das Fernsehen der DDR verkündete, dass die Ausreise aus der DDR allen, die dies wollten, ab sofort gestattet sei, konnte zunächst kaum einer so richtig begreifen, was das für die Bürger der DDR bedeutete. [...] So konnte es nicht verwundern, dass zu den Veranstaltungen der Friedensdekade 89 im Kirchenkreis manchmal nur die Organisatoren anwesend waren. [...]
     Ein Gebet, während des Eröffnungsgottesdienstes anlässlich der Friedensdekade 1989 gesprochen, hat von seiner Aktualität bis heute nichts eingebüßt: »Herr, es ändert sich so vieles in unserer Zeit. Reformen sind notwendig, Regierungen müssen neu gebildet werden, viele Menschen verlassen ihr Land - wo auch immer. Es wird viel geredet und wir hören uns viel an. Wir müssen Worte finden füreinander und miteinander. Bedenken melden sich gegen Altes - gegen Neues. Herr, hilf uns die richtigen Worte zu sagen und gib uns die Kraft, das alles ehrlich durchzustehen und dass wir die Worte in Taten umsetzen. Amen.«99)
Quellen:
5 Vgl. Akte Nr. 17, Superintendentur Friedrichshain
9 Vgl. Akte Ausgeschiedene Pfarrer, Superintendentur Friedrichshain
18 Vgl. GKR-Protokollbuch der Samaritergemeinde.
21 Vgl. Akte Ausgeschiedene Pfarrer, Superintendentur Friedrichshain
28 Vgl. Brief an die Konferenz ... Hektographierter Abzug. Akte Ausgeschiedene Pfarrer, Superintendentur Friedrichshain
42 Vgl. Akte Friedensarbeit, Samaritergemeinde.
57 Vgl. Archiv der Wochenzeitung DIE KIRCHE (Berliner Ausgabe), Jahrgang1 1985
61 Vgl. Akte Friedensarbeit, Samaritergemeinde
65 Vgl. Akte Friedensarbeit, Samaritergemeinde
78 Laudien, I.: Predigt, im Besitz der Verfasserin
79 Becker, M.: Neues Denken - Neue Sprache Friedensdolmetschen, in: Sprache des Friedens II, Materialien des gemeinsamen Seminars vom Bund der Ev. Kirchen in der DDR und der Christlichen Friedenskonferenz, Prag 1988
86 Friedrich Schorlemmer, Worte öffnen Fäuste. Die Rückkehr in ein schwieriges Vaterland, München 1992
92 Vgl. Akte Friedensarbeit, Samaritergemeinde
94 Vgl. Kopie der Akten des ehem. Stellvertreters des Stadtbezirksbürgermeisters für Inneres, Superintendentur Friedrichshain
97 Laudien, I.: Predigt, im Besitz der Verfasserin
98 Vgl. Kopie der Akten des ehem. Stellvertreters des Stadtbezirksbürgermeisters für Inneres, Superintendentur Friedrichshain
99 Vgl. Materialien zur Friedensdekade 1989, I. Laudien privat
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
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