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Bernhard Meyer
Rekonstruktion und Neubau der Charité

Der stürmischen Entwicklung der medizinischen Wissenschaft und den sozialen Ansprüchen auf eine komfortable Krankenhausunterbringung war die Charité in den 60er und der 70 Jahren immer weniger gewachsen. Die Ausgangs des 19. Jahrhunderts von Friedrich Althoff (1839-1908) auf den Weg gebrachten zahlreichen Neubauten, jene das Charitébild prägenden roten, mit wildem Wein bewachsenen Backsteingebäude, erwiesen sich nach knapp 70-jähriger Nutzung für einen modernen klinischen Betrieb zunehmend als unzureichend. Wollte die Charité ihrer Tradition als international anerkannte Stätte der Forschung und Ausbildung fernerhin entsprechen, mussten bauliche Maßnahmen von beträchtlicher Dimension eingeleitet werden.
     Das Politbüro der SED und die Regierung der DDR fassten 1975 den Beschluss, der Charité durch großzügig gestaltete Neubauten und umfassende Rekonstruktion vorhandener Gebäude ein modernes Antlitz zu geben. Damit wurde das größte Bauvorhaben in der 265-jährigen Geschichte der Charité und gleichzeitig des Gesundheitswesens der DDR überhaupt gestartet.

Trotz der angespannten Finanz- und Devisenlage sollte eine vor allem in der Bundesrepublik und in West-Berlin beachtete moderne Lösung für die hochspezialisierte Forschung und Patientenbetreuung geschaffen werden. Im Vorfeld der Entscheidungen wurden mehrere Varianten für den Standort der Charité diskutiert, so u. a. ein Gebiet entlang der Prenzlauer Allee im damaligen Bezirk Pankow und ein Gelände der Krankenanstalten Berlin-Buch. Diese Absichten wurden verworfen und dem Wunsch der Charité-Mitarbeiter entsprochen, die Neugestaltung am bisherigen Standort vorzunehmen. Damit sollten bewusst auch Traditionslinien erhalten bleiben und die wissenschaftliche und organisatorische Anbindung an die im Zentrum gelegene Humboldt-Universität gewährleistet bleiben.
     Die zum Beschluss erhobene, mit Wissenschaftlern, Schwestern und Studenten beratene Generalkonzeption wurde allgemein akzeptiert. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass der Breite der medizinischen und naturwissenschaftlichen Forschung ebenso entsprochen werden musste wie den Anforderungen an die spezialisierte medizinische Betreuung. Das erforderte Querverbindungen, eine noch ungewohnte komplexe, interdisziplinäre Betrachtungsweise, Zusammenarbeit und Ergänzungen in funktionellen, organisatorischen und räumlichen Arbeitseinheiten.
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Zugleich gehörten zur Konzeption einige Festlegungen zu Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen, unter denen sich Forschung, Betreuung und Studium vollziehen sollten.
     Der nach außen hin sichtbarste Ausdruck der neugestalteten Charité sollte das Bettenhochhaus werden, in dem alle chirurgisch orientierten Fachgebiete ihr Domizil fänden. Die oberen 15 Etagen des insgesamt 21 Stockwerke hohen Gebäudes wurden der Patientenbetreuung zugeordnet, während die ersten vier Stockwerke mit diagnostischen Einrichtungen und Operationssälen ausgestattet wurden. In zwei Kelleretagen befindet sich u. a. die zentrale Bettensterilisation und -aufbereitung. Die Kliniken entlang der damaligen Hermann-Matern-Straße (heute Luisenstraße) erhielten durch An- und Umbauten die Voraussetzungen für den poliklinischen Betrieb.
Das Bettenhochhaus der Charité und angrenzende Neubauten. Im Vordergrund das Robert-Koch-Denkmal
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     In die frei gewordenen Kliniken zogen vor allem theoretische und experimentelle Fachgebiete der Medizin, deren Zahl sich innerhalb der modernen Naturwissenschaften beträchtlich vergrößert hatte. Für die Mitarbeiter entstand ein umfängliches Versorgungszentrum mit Zentralküche, Speisesälen, Restaurant und Bistro. Es war das erste Sozialgebäude in der Geschichte der Charité. Ferner baute man 384 Wohnungen einschließlich Kinderkrippe und Kindergarten besonders für Krankenschwestern am Rande des Invalidenparks (Habersaathstraße).
     Schließlich rückte man mit dem Bau eines Heizkraftwerkes ausschließlich für die Belange der Charité der seit Jahren immer wieder kritisierten Kalamität der instabilen Wärmeversorgung zu Leibe. Das Heizkraftwerk mit dem weithin sichtbaren Schornstein fand seinen Platz am Rande des inzwischen abgerissenen Stadions der Weltjugend (zuvor Walter-Ulbricht-Stadion und Stadion Mitte).
     Nach ausgedehnten Recherchen und Studien der Bau- und Medizinexperten zur Errichtung und Ausstattung von Großkrankenhäusern in Ost- und Westeuropa erfolgte am 27. April 1976 der erste Spatenstich zum Versorgungszentrum durch den Minister für Hoch- und Fachschulwesen Hans-Joachim Böhme. Nach dem Richtfest Ende September 1977 wurde das Zentrum am 5. Oktober 1978 seiner Bestimmung übergeben.
Die moderne Großküche produzierte fortan täglich 6 000 Essen einschließlich zahlreicher Diätangebote, in den Speisesälen fanden 600 Mitarbeiter Platz. Am 30. September 1977 folgten die Grundsteinlegungen für das Bettenhochhaus und das Heizkraftwerk sowie die Übergabe der ersten Wohnungen an der Habersaathstraße. Während das Heizkraftwerk im November 1979 den Dauerbetrieb aufnahm, wurde der Rohbau des Bettenhochhauses im Juli 1981 fertig gestellt. Schrittweise übernahmen nun die Mitarbeiter der Charité einzelne Bereiche, so u. a. im März 1981 den Funktionaltrakt mit der Röntgendiagnostik und im März 1982 die Operationssäle. Am 14. Juni 1982 übernahm die Charité mit dem Bettenhochhaus ihr monumentalstes Gebäude, das auf dem Dach des 19-Etagenbauwerks den weithin leuchtenden Schriftzug „Charité" montiert bekam. Mit diesem Gebäude erhielt die Silhouette des Zentrums von Berlin einen markanten Zuwachs und Orientierungspunkt. Zugleich wirkte das Gebäude in unmittelbarer Nähe der Grenze zusammen mit dem Handelshochhaus in der Friedrichstraße imposant nach West-Berlin. Das Haus beherbergt 30 Stationen mit je 32 bis 36 Betten, 24 Operationssäle für ca. 18 500 Operationen jährlich (1975: 1 200 Operationen), ferner 14 schnellfahrende Aufzüge bei 400 000 Kubikmetern umbaute Raum und 65 000 Quadratmetern Nutzfläche.
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Dazu 105 Betten für Intensivmedizin und die Entbindungsstation mit acht Plätzen für 2 500 Geburten pro Jahr. Nutzer dieses Hauses sind außerdem die Rettungsstelle, die Physiotherapie, das Zentrallabor mit 3 000 Quadratmetern Fläche und die unterschiedlichsten Diagnosebereiche. Jedes Patientenzimmer besitzt einen eigenen Sanitärbereich mit Dusche, WC und Waschbecken, Telefon- und Fernsehanschluss. Die Kapazität wurde auf 20 000 stationäre Behandlungen jährlich ausgelegt.
     Am Tag der Übergabe erwies die politische DDR-Prominenz der altehrwürdigen Charité ihre Reverenz. Für das Gesundheitswesen der DDR und Ost-Berlins vollzog sich mit der Schlüsselübergabe von Obermeister Willi Ritter an den Prodekan für Medizin Jürgen Grosser kurz vor dem 275-jährigen Bestehen der Charité ein denkwürdiges Ereignis. Hier leistete sich die DDR ein Gebäude und eine technisch-medizinische Ausstattung, die zwar dem postulierten Anspruch auf Gewährleistung einer leistungsfähigen medizinischen Betreuung für jedermann entsprach, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit jedoch das Äußerste abverlangte. Zwar wurden z. B. für den Innenausbau eine Reihe von neuartigen Materialien wie abwaschbare, desinfektionsmittelfeste Wandgewebe aus Glasfaser und Kunststoffen entwickelt, dennoch musste besonders die leistungsfähige Medizintechnik von Firmen des so genannten »nichtsozialistischen Währungsgebietes« gegen Devisen gekauft werden.
     Neubau und Rekonstruktion der Charité waren wohl von der baulichen Seite her nur möglich, weil das Vorhaben in die mit Vollmachten und grünem Licht ausgestattete »Aufbauleitung Sondervorhaben Berlin« eingeordnet wurde. Dieses von Direktor Erhardt Gißke (1924-1993) geleitete Unternehmen zeichnete u. a. für das Entstehen des Fernsehturms, des Schauspielhauses, des Freizeit- und Erholungszentrums am Friedrichshain und für die Neubauten im Pionierpark »Ernst Thälmann« verantwortlich. Zu den Sondervollmachten gehörte auch das Privileg, für die Hauptstadt Ost-Berlin Bauleute aus den Bezirken und Soldaten der Nationalen Volksarmee einzusetzen.
     Nach einem Jahr voller Betriebsfähigkeit konnte eine Bilanz mit 40 000 stationär behandelten Patienten und 930 000 ambulanten Konsultationen gezogen werden. Zwei Drittel der stationären Behandlungen und 75 Prozent der ambulanten Arztbesuche entfielen auf Ostberliner. Als 1985 das Doppeljubiläum 175 Jahre Universität und 275 Jahre Charité gefeiert werden konnte, waren die letzten Baumaßnahmen abgeschlossen.

Bildquelle: Repro LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
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