108   Berichte und Rezensionen   Nächstes Blatt
Werner Raddatz/ Friedrich Winter
Geteilte Einheit.

Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg 1961 bis 1990.
Mit einem Vorwort von Wolfgang Huber
Wichern-Verlag Berlin, 2000; 288 Seiten, ISBN 3-88981-118-3

Vorbemerkung
Diese Arbeit erschien ein Jahr nach dem großen Sammelband »1000 Jahre Kirchengeschichte Berlin-Brandenburg«, deren umfassende Beiträge sich mit ebendieser Zeit der Kirche in den beiden deutschen Staaten beschäftigten.
     Sie wurden von ihren Verfassern Gerd Heinrich und Gerhard Besier unter der Leitfrage abgehandelt, ob und wie weit sich die evangelische Kirche hüben und drüben auf den real existierenden bzw. in West-Berlin auf einen sozialrevolutionären Sozialismus eingelassen habe.
     Diese einseitig profilierte Fragestellung musste zu einer Darstellungsweise und zu Ergebnissen führen, die nicht nur die an dieser Geschichte Beteiligten unbefriedigt lässt - vor allem, wenn die ideologische Parteilichkeit der Zeitgeschichtler so offen und apodiktisch zum einzig möglichen Stand- und Betrachtungspunkt erklärt wird, wie das Heinrich und Besier tun.
     So will das Buch von Raddatz und Winter auch ein Korrektiv dieser Sicht- und Darstellungsweise sein und das komplexe Leben der Kirchenregionen im jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontext darstellen, implizit auch die eigene Rolle der Verfasser reflektieren - beide waren in dieser Zeit in kirchenleitenden Funktionen tätig.

Friedrich Winter: Auf dem Weg zur missionarischen Kirche
Christliche Existenz in der sozialistischen säkularen Welt - die Region Ost

Dem Buch hätte die umgekehrte Reihenfolge der Darstellungen besser getan. Denn der Beitrag Friedrich Winters ist nicht nur ausführlicher und klarer strukturiert als die Darstellung von Raddatz; er macht auch deutlich, dass die DDR mit der SED als gesellschaftlich und politisch führende Kraft das Gesetz des Handelns für die Kirche in beiden Teilen vorgab. Winter trägt dem dadurch Rechnung, dass er nicht nur einen gerafften Abriss der Geschichte der Landeskirche und der Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bringt, sondern auch die leitenden kirchenpolitischen Motive der DDR/ SED und die Epochen ihrer Umsetzung sehr prägnant skizziert: Das Ziel waren »russische Verhältnisse«, d. h. eine Kultkirche ohne gesellschaftlich prägende Bedeutung in den Grenzen des staatlichen Hoheitsgebietes - Religion als Privatsache gemäß der Verfassung der DDR. Gegen die traditionell protestantische Prägung vor allem des Landes Brandenburg suchten Staats- und Parteiführung einen humanistisch und sozialistisch geprägten Atheismus als »Leitkultur« durchzusetzen. Sie mussten aber trotz rigider Eingriffe in das kirchliche Leben vor allem in den fünfziger Jahren immer wieder Kompromisse eingehen, besonders im Blick auf das diakonische Engagement der Kirche, das vorerst unentbehrlich schien.
     Der Kontakt zum anderen Teil der Landeskirche in West-Berlin war und blieb belastet vom politischen Subversionsverdacht, verständlicherweise, da die Kirchenvertreter aus dem Westen in den wenigsten Fällen Freunde des real existierenden Sozialismus waren.

BlattanfangNächstes Blatt

   109   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
So entsprach dem gespannten Binnenverhältnis Kirche - Staat - Gesellschaft in der DDR das kritische, ablehnende Verhältnis von Staat und Partei zum Festhalten an der kirchlichen Einheit und zu den unbeirrt durchgehaltenen Verbindungen - die Lage konnte nicht anders als vertrackt sein.
     Winter gelingt es, diese Rahmenbedingungen kirchlichen Lebens in der DDR transparent zu machen und das kirchliche Leben innerhalb dieses Rahmens umfassend, wenn auch notwendigerweise summarisch darzustellen. Dabei setzt er - im Unterschied zu den rein (kirchen-) politisch interessierten Zeitgeschichtlern - bei der kirchlichen Basis, den Gemeinden, an und beschreibt ihre Entwicklung in den verschiedenen Arbeitsformen und Lebensäußerungen. So entsteht das Bild einer sehr komplexen, aber lebendigen Gemeinschaft, die sich widerstrebend in die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse einfügt, die aber trotz massiver Einbrüche - z. B. das Zerbrechen der volkskirchlichen Tradition der Konfirmation - offensiv nach neuen Formen kirchlichen Lebens sucht. Den hohen Austrittszahlen bzw. der klammheimlichen Verabschiedung aus der Kirche entspricht eine größere Bewusstheit und Entschiedenheit der Kirchenchristen, die ihre Zugehörigkeit nicht nur öffentlich vertreten mussten, sondern teilweise auch erhebliche Nachteile in Bildung, Berufswahl und beruflichem Fortkommen in Kauf zu nehmen hatten. So erscheint bei Winter gegenüber den gängigen Darstellungen von der »Kirche im Sozialismus« das Bild eines reichen Alltags unter besonderen, nicht gerade kirchenfreundlichen Bedingungen, das der Wunschvorstellung vom »Auslaufmodell Kirche« widerspricht. Er geht auch auf die innerkirchlichen Konflikte im Verhältnis zum Staat ein, wo in Zielsetzung und Methode die Auffassungen der führenden Kirchenleute oft auseinander gingen, weist aber nach, dass - abgesehen vom Austritt eines Mitglieds der Kirchenleitung (Superintendent Steinlein nach dem Gespräch mit Honecker 1978) - die kirchenleitenden Organe - Synode, Kirchenleitung, Generalsuperintendenten,
Konsistorium - nicht auseinanderbrachen, sondern immer wieder zu einer gemeinsamen kirchenpolitischen Linie fanden. Auffällig ist auch, dass zwar von der kirchlichen Basis zeitweilig heftige Kritik an Kirchenleitung und Konsistorium laut wurde, sei es wegen ungenügender Informationen, sei es wegen der Art der finanziellen und personellen Mangelverwaltung, dass aber das grundlegende Einvernehmen und Vertrauensverhältnis trotzdem bestehen blieb. Staat und Partei gelang es daher nicht, die Evangelische Kirche in der DDR in einen »progressiv staatsaffinen« und einen »reaktionärfeindlichen« Teil zu spalten. Vielmehr konnte diese Kirche zum Ende der DDR im friedlich verlaufenen Wandlungsprozeß eine wichtige Rolle übernehmen.

Werner Raddatz: Auf der Insel
Das Zeugnis kirchlicher Praxis zwischen »roten Pfarrern« und »Recht und Ordnung« - Die Region West

Raddatz macht die Leitungsebene zur vorherrschenden Betrachtungsebene und wirft auf das kirchliche Leben an der Basis nur Seitenblicke - ein Defizit, das er selbst eingesteht. Eingangs schildert er die wachsende Einbindung in die unterschiedlichen Machtbereiche, deren Zementierung mit dem Bau der Mauer durch Berlin 1961 abgeschlossen ist. Kirchenleitung und Synode hatten für diesen Fall durch entsprechende Regelungen zur Bildung von Teilsynoden, Kirchenleitungen und Konsistorien in den beiden Kirchenprovinzen vorgesorgt; die verbindende Klammer sollte das Bischofsamt darstellen, auch die Grundordnung der Kirche sollte bei notwendigen Anpassungen in den Teilbereichen an den »Vorspruch zu Schrift und Bekenntnis« und die »Grundsätze zu Amt und Gemeinde« nicht rühren. Mit der Mauer wurde die äußere Einheit zur unbestimmten Hoffnung transzendiert, die innere Einheit zum unaufgebbaren Postulat landeskirchlichen Selbstverständnisses.

BlattanfangNächstes Blatt

   110   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Aber die DDR wollte nur eine kirchliche Organisation akzeptieren, die mit ihrem staatlichen Hoheitsbereich identisch war. So war 1966 die Weigerung, Bischof Scharf, den Nachfolger von Dibelius, in Ost-Berlin und Brandenburg amtieren zu lassen, nur konsequent.
     Seit 1968 wird die Kirche in West-Berlin in die von den Studentenunruhen ausgelösten Auseinandersetzungen um die gesellschaftlichen Veränderungen in der westdeutschen Demokratie hineingezogen. Studentengemeinden und theologischer Nachwuchs werden zu aktiven Kräften in dieser Bewegung. »Rote Pfarrer« und »Recht und Ordnung« - diese Schlagworte kennzeichnen die Art und Weise, wie die evangelische Kirche in West-Berlin in das öffentliche Bewußtsein trat. Der Westberliner Antikommunismus prägte auch den überwiegenden Teil der Gemeindeglieder und bestimmte ihren Blick auf das kirchliche Geschehen im eigenen Teil der Stadt ebenso wie im Ostteil der Landeskirche. Man wollte eine »unpolitische« Kirche, musste jedoch zur Kenntnis nehmen, dass vor allem Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter sich den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht entziehen konnten. An der Amtsführung von Bischof Scharf (Amtszeit von 1966-1977) macht Raddatz deutlich, wie unvermeidlich eine Kirche mit dem protestantischen Anspruch auf gesellschaftliche Diakonie in die Konflikte hineingezogen und verheizt wird: Die Kernpunkte waren die Demonstrationen während der Studentenunruhen 1968 und die Konflikte um die Besetzung der Kirche zum Heiligen Kreuz anläßlich des Hungerstreiks und der Haftbedingungen der Baader-Meinhof-Gruppe 1974, als die Springerpresse Bischof, Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter zu Sympathisanten der Terroristen stempelte. Die rapide steigenden Austrittszahlen zeigten: War den einen die Kirche zu politisch, d. h. »links«, war sie den anderen nicht engagiert und entschieden genug.
Aber die Statistik, die Raddatz anführt, zeigt, dass in den anderen Landeskirchen, vor allem in den Großstädten wie Hamburg, München und Köln, die Zahlen ähnlich, zum Teil noch spürbar höher lagen.
     Unter all diesen Belastungen gingen jedoch die alltäglichen Kontakte zur anderen Kirchenprovinz durch Kurierdienst, Treffen im östlichen Ausland, materielle Unterstützungen auf privaten Kanälen und Absprachen zu den grundlegenden Entscheidungen in den beiden Teilen der Landeskirche weiter. Mit dem Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten 1972 und den anschließenden Besuchsregelungen wurden die Verbindungen erheblich erleichtert, wenn auch das Misstrauen der DDR gegen westliche Indoktrination auf kirchlichen Kanälen immer lebendig blieb.
     Unter Martin Kruse (Amtszeit von 1977-1994), Scharfs Nachfolger im Bischofsamt, tritt zunächst eine spürbare innerkirchliche Beruhigung und eine Konsolidierung der kirchlichen Arbeit ein, die aber mit dem Konflikt um die Hausbesetzungen in West-Berlin ein jähes Ende findet. Wieder begibt sich die Kirche in Konfrontation mit der städtisch-staatlichen Gewalt, nehmen kirchliche Kreise Partei für die »Instandbesetzer«, wieder vermitteln Bischof und andere kirchliche Funktionsträger, wieder wird der Kirche vorgehalten, sie überschreite ihre Kompetenzen - Probleme, an denen die Ostregion der Landeskirche weder äußerlich noch innerlich partizipieren konnte. In Kruses Amtszeit fällt noch die Öffnung der Mauer und das Zusammentreten der getrennten Synoden und die organisatorische Wiederherstellung der landeskirchlichen Einheit, die mit der Neufassung der Grundordnung im November 1994 abgeschlossen wurde.
     So plastisch es Raddatz gelingt, das Agieren und Reagieren der Kirche in diesen Konflikten darzustellen, so blass und pauschal bleiben doch seine Ausführungen über das kirchliche Leben in den Gemeinden und Kirchenkreisen.
BlattanfangNächstes Blatt

   111   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Man wünschte sich, dass er wenigstens exemplarisch die Bemühungen um die Gemeinwesenarbeit in den großen Westberliner Neubaugebieten - Gropiusstadt, Märkisches Viertel, Falkenhagener Feld - oder das Engagement der Gemeinden um eine alternative Sanierung im Wedding und in Kreuzberg dargestellt hätte, um die Neuansätze in der Kirche nach 1968 deutlicher zu machen. Auch wichtige soziale Werke der Kirche sowie ihre Bildungseinrichtungen, die doch jenseits von Gemeinden und Gottesdiensten die Menschen erfassten und mit der Kirche in Berührung brachten, bleiben außer Acht.
     So bleibt seine Darstellung im Vergleich mit Winters grundlegenden und präzise strukturiertem Beitrag auf die Oberfläche von Kirchenleitung und Synoden beschränkt und inhaltlich von den stadtpolitischen Herausforderungen bestimmt - West-Berlin als »Insel im roten Meer«, eine Episode in der Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte.

Nachbemerkung
Unter welchen Ansprüchen und Kriterien haben die beiden Teile dieser Landeskirche an ihrer Einheit während der erzwungenen Trennung in zwei Kirchenregionen festgehalten? Es gab ja im Ostteil Bestrebungen, die Staats- und Gesellschaftsgrenzen auch zur Kirchengrenze zu machen und die organisatorische Einheit der Landeskirche (und die Zugehörigkeit zur Evangelischen Kirche in Deutschland) aufzugeben. Vor allem aber galt, dass die Christen vor Ort in ihren Gemeinden - im Ostbereich wie im Westen - ihr kirchliches Leben und ihren Glauben im jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen lebten, wobei das Hemd der Gemeinde ihnen immer näher war als der Rock der Landeskirche oder der Kirchenregion.
     Sie dürften für drei Motive maßgebend gewesen sein, die die kirchenleitenden Organe an der landeskirchlichen Einheit mit Zähigkeit

und großem Aufwand festhalten ließen: Die bisherige Geschichte als Landeskirche und das daraus resultierende innere und äußere (strukturelle) Beharrungsvermögen,
     der Selbsterhaltungstrieb als religiöse Institution in einer immer spürbarer säkularen Welt, welcher gesellschaftlichen und politischen Gestalt auch immer,
     das Selbstverständnis als Kirche, gegründet in dem Auftrag aus Bibel und reformatorischer Geschichte, versöhnende Kraft und kritische Instanz in der jeweiligen »Welt« zu sein.
     Die Umsetzung dieser Motive in Alltagsgestalt von Kirche in Gemeinden und Werken einerseits und in kirchenleitendes, kirchenpolitisches Handeln andererseits musste in den beiden Teilen der Landeskirche entsprechend der staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschieden ausfallen. Es blieb aber, wenn auch nicht ohne Spannungen und Zerreißproben, immer aufeinander bezogen, so effektiv, dass nach dem Fall der Mauer 1990 beide Teile der Berlin-Brandenburgischen Kirche sich scheinbar problem- und reibungslos wieder zusammentun konnten. Doch der Ton liegt hier auf »scheinbar«, denn die so verschiedenen Erfahrungen mit Kirche und Christsein in zwei konträren gesellschaftlichen Systemen haben das Verständnis und die Praxis nachhaltig bestimmt, sodass die Unterschiede und Brüche bis heute als Belastung und Herausforderung zu spüren sind.
     Die Erfahrungen der DDR-Kirche als missionarische Diaspora in volkskirchlicher Tradition sind in die heutige Gestalt der Landeskirche nicht eingegangen, obwohl sie der heutigen Zeit viel eher entsprochen haben, als das Modell einer staatlich und gesellschaftlich eingebundenen und finanziell ausgehaltenen Kirche, deren Mitgliederstand und innere Kraft mit ihrer zugeschriebenen Rolle längst nicht mehr korrespondiert.
BlattanfangNächstes Blatt

   112   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Heute erzwingen die finanziellen Probleme Einschränkungen im bisher flächendeckenden Netz kirchlicher Präsenz, die trotz der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse die Diasporasituation in der ehemaligen DDR zum kirchlichen Alltag in Berlin und Brandenburg machen.
     Klaus Duntze

Vielen Dank für Deine schöne Karte!

Historische Postkarten aus Berlin-Weißensee, herausgegeben vom Verein Weißenseer Heimatfreunde e.V., Berlin 2001, 48 Seiten

Der als Herausgeber firmierende rührige Weißenseer Heimatverein hat sich mit dieser Publikation zu seinem 10. Geburtstag am 27. Februar 2001 selbst ein Geschenk auf den Gabentisch gelegt, das auch bei nicht im Verein als Mitglied eingetragenen Freunden und Interessenten auf dem Gebiet der Ortsgeschichte viel Freude auszulösen geeignet ist: Eine Sammlung von rund einem Dreiviertelhundert Ansichtskarten wird dargeboten, mit der ein visueller Spaziergang durch Weißenseer Ortsgeschichte im 20. Jahrhundert unternommen werden kann. Manchmal werden durch nebeneinander gestellte Ansichten derselben Örtlichkeit aus verschiedenen Jahrzehnten Entwicklungsphasen verdeutlicht - nicht unbedingt sind die daraus entspringenden Emotionen (denkt man z. B. an bauliche Substanzverluste durch den Zweiten Weltkrieg oder die architektonische »Vernüchterung« in den ersten Jahren des industriellen Bauens) dazu geeignet, in Jubelschreie über die großen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts auszubrechen,

und die von jeder Euphorie freien Begleittexte entsprechen einer solchen Gefühlslage durchaus.
     Die Bildmotive sind aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt worden - ein schönes Zeichen für das Einwohnerinteresse am Wirken des Vereins. Zwei der Postkartenbesitzer sind darüber hinaus mit persönlichem Engagement in die Publikation involviert: die für Motivauswahl und für Gestaltung des Bändchens verantwortlich zeichnende Eva Luchtmann und der Autor der kommentierenden Texte zur Ortsgeschichte, Joachim Bennewitz. Letzterer gibt im Einleitungstext noch einen Abriss zur Geschichte der Ansichtskarte, und man erfährt, dass die immer wieder im Erstaunen versetzende Beschriftung der Ansichtskarten auf der Bildseite ganz einfach damit zusammenhängt, dass die nicht bebilderte Seite der Karte ursprünglich bei der Einführung der Postkarte (in unseren Gefilden 1870) ganz allein der Empfängeradresse vorbehalten war. Offenbar hinkte über die lange Zeit von runden vier Jahrzehnten die amtliche Festlegung, was eine Postkarte sei, hinter der Entwicklung von Fotografie und Reproduktionstechnik hinterher. Die Aufteilung in Postkarte als Textkommunikator und Postkarte als Illustrationsübermittler wurde postalisch nicht zur Kenntnis genommen und eine der beiden Seiten zur Gänze stur der Adresse vorbehalten. Vier der vorgestellten Karten zeigen dann auch handschriftliche Mitteilungen auf der Bildseite - zwei davon (beide von 1902) sind derart beschrieben, dass es uns Heutigen Hochachtung abzunötigen vermag, wie man eine solche Fülle an handschriftlichem Text auf so beengtem Raum unterzubringen wusste: Das Geheimnis lüftet sich, wenn der heutige Leser weiß, dass man damals mit Stahlfedern schrieb, deren Spitzen diese feine und dennoch deutliche Schrift ermöglichten.
BlattanfangNächstes Blatt

   113   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
     Die Einteilung der Motive nach Sachkapiteln ist zu begrüßen. Vorgestellt werden Ansichten aus den örtlichen Umfeldern Berliner Allee, Gründerviertel, Komponistenviertel (ursprünglich »Französisches Viertel«), Moselviertel, Weißer See. Etwas unlogisch sind darin eingestreut ein Kapitel »Bekannte Architekten« und ein separates über Schulen. Das Architekten-Kapitel enthielte durch die Würdigung des 1906-1915 als Gemeindebaurat tätigen Carl James Bühring (1871-1936) genug Material für ein eigenes Kapitel »Munizipalviertel« - zumal die großzügige Planung der ganzen Anlage und die weitgehende Verwirklichung dieser kühnen Konzeption außerhalb des Kreises der heimatgeschichtlich interessierten Weißenseer wahrscheinlich doch Erstaunen hervorzurufen vermag, denn welche der damals um Berlin aufstrebenden Gemeinden (selbst solche mit Stadtrecht, das ja Weißensee erst zu erwerben trachtete) ging mit einer so durchdachten Planung an den Aufbau eines eigenen Zentrums? Weil wesentliche Teile des Munizipalviertels in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges diesem zum Opfer fielen, lässt der heute mögliche Eindruck die ganze Bedeutung des von Bühring und Gemeindevorsteher Carl Woelck (1868-1937) initiierten großen Wurfs nicht mehr leicht nachvollziehen. Erst diese Postkartenansichten machen klar, dass Bühring in einer Projektgröße dachte, wie sie sonst in Europa erst nach dem Ersten Weltkrieg (beim Bau der Bat'a-Stadt Zlin in Mähren) realisiert wurde.
     Als Hauptort eines Groß-Berliner Verwaltungsbezirks konnte Weißensee - zum Bedauern seiner Gemeindeväter trotz bedeutender Anstrengungen im Hohenzollern-Reich nicht in den Besitz von Stadtrechten gelangt - im Oktober 1920 einem Gemeinwesen seinen Namen geben, das mit etwa 55 000 Einwohnern die Bevölkerungsgröße einer gewaltigen Anzahl deutscher Städte überragte.
Zu dem Zeitpunkt, an dem das Bändchen das Licht der Welt erblickte, ist Weißensee wieder in den Status eines Ortsteils zurückgefallen, und im Moment, da diese Rezension geschrieben wird, ist keinesfalls sicher, ob die höchst umstrittene Entscheidung der kommunalen Volksvertreter, Weißensee unter »Pankow« zu subsumieren, doch noch korrigiert wird. Das kleine Werk stimmt auf die Zukunft sehr geschickt ein, indem es an den Schluss der Motivzusammenstellung auf Seite 49 drei Aufnahmen der legendären »Spitze« stellt und dazu abschließen kommentiert: »Von 1920 bis 2000 berührten sich an dieser Stelle die drei Bezirke, die heute den Großbezirk bilden.«
     Schon 1994 hatte übrigens das Heimatmuseum Weißensee mit einer Ausstellung »Grüße aus Weißensee« ortsbezogene Postkarten vorgestellt. Diese war nicht ganz unschuldig am Zustandekommen der vorliegenden Publikation. Sie hat offensichtlich ihrerseits neue Quellen sprudeln lassen, sodass Anfang März mit dem Titel der Publikation eine erweiterte Version der 94er Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte. Geöffnet ist sie in der Pistoriusstraße 8 am Dienstag von 10-16 Uhr, Mittwoch und Donnerstag von 12-18 Uhr und am Sonntag von 14-18 Uhr.
     Kurt Wernicke
BlattanfangNächstes Blatt

   114   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Juden in Berlin.
Herausgegeben von Andreas Nachama/ Julius Schoeps/ Hermann Simon,
Henschel Verlag, Berlin 2001, 264 Seiten

Drei prominente Mitglieder der in neuem Aufstreben befindlichen Jüdischen Gemeinde Berlins fungieren als die Herausgeber des Bild-Text-Bandes »Juden in Berlin«: Andreas Nachama, Gemeindevorsitzender und langjähriger geschäftsführender Direktor der Stiftung »Topographie des Terrors«; Julius H. Schoeps, Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam; Hermann Simon, Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum. Sie bestreiten auch jeder eines der das Buch ausmachenden sechs Kapitel. Unter den drei anderen Autoren (Michael Brenner, Claudia-Ann Flumenbaum, Chana C. Schütz) ist auch Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur in München, bereits durch etliche Standardwerke zur deutsch-jüdischen Geschichte profiliert hervorgetreten. Die Namen der Autoren stehen also als Garantie für ein qualitativ beachtenswertes Werk. Der Leser wird dann in seinen Erwartungen auch nicht enttäuscht. Das ganze Unternehmen ist allerdings schon seit einiger Zeit überfällig, denn trotz der seit etwa zwei Jahrzehnten festzustellenden Zunahme von Einzeluntersuchungen zum jüdischem Leben in Berlin fehlt dringend eine Gesamtdarstellung zu dem Thema.
     Da mit einer Fortsetzung des 1871 erschienenen noch immer unentbehrlichen (daher 1989 in Reprint erschienenen) wissenschaftlichen Werks von Ludwig Geiger »Geschichte der Juden in Berlin« so bald nicht zu rechnen sein wird, bedurfte die Berliner Öffentlichkeit schon seit längerem wenigstens einer fundierten Übersicht, die bis in unsere Gegenwart reicht.

Die liegt nun vor, und sie ist nicht nur instruktiv, sondern auch durch die Bank gut lesbar geschrieben. So ist ein Lesebuch im guten Sinne entstanden, das auch für mit dem Thema befasste Multiplikatoren (Lehrer!) bestens handhabbar ist. Die Herausgeber haben jedenfalls das selbst gesetzte Ziel erreicht, das sie im Vorwort mit hohem Anspruch formulierten: »Dieses Buch ist für alle da. Juden können sich der Berliner jüdischen Geschichte vergewissern, und Nichtjuden können das Buch als Mahnung dafür nehmen, dass die jüdische Geschichte Teil ihrer eigenen Geschichte ist.«
     Der Weg der in Berlin seit dem Mittelalter ansässigen Juden (erste Erwähnung in Berlin 1295, ein erhaltener Grabstein aus Spandau schon von 1244) aus der Stellung als Paria der Feudalgesellschaft und Opfer von Pogromen in die Position von Mitdiskutierenden zu Themen der Aufklärung ist gut nachgezeichnet (Flumenbaum). Angenehm berührt der unverstellte Blick auf die internen Querelen innerhalb der Gemeinde, denn der ausgangs des 18. Jahrhunderts von relativ wenigen mobilen Geistern betriebene jüdische Anschluss an die Aufklärung - der in der juristischen Emanzipation von 1812 dann seine Erfüllung fand - blieb nicht ohne zum Teil heftigen Widerstand religiösorthodoxer jüdischer Kreise, die sich vielleicht in der Enge ihrer Ausgrenzung aus prinzipiellen Gründen nicht unwohl gefühlt haben mögen. Der Orthodoxie blieb letztlich doch nur der Rückzug in die Gemeindespaltung, da sie der im 19. Jahrhundert mehr und mehr bei der Masse der Berliner Juden in den Vordergrund tretenden Inkorporation in ein zunächst liberal, dann immer mehr national und patriotisch bestimmtes Deutschtum wenig entgegenzusetzen hatte. (Schoeps im Kapitel »Anpassungsprozess 1790-1870«).
BlattanfangNächstes Blatt

   115   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Im Kapitel »Die Kaiserzeit« leuchtet Ch. Schütz hinter die Fassade der von Nostalgie übergossenen staatsbürgerlichen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung der Berliner Juden im Wilhelminismus, der letztlich doch als ein System der Illiberalität gekennzeichnet werden kann. Dennoch macht die Autorin kein Hehl daraus, dass der Ausschluss von Juden aus hohen Staatsbeamten- und Richterstellen, von den meisten Universitätskathedern und aus dem Offizierskorps die Berliner Juden nicht sonderlich traf, da sie genügend andere geachtete Betätigungsfelder fanden. Nüchtern wird auch auf die Folgen des Aufkommens des Zionismus eingegangen, der im Namen einer jüdischen Nation der eigentlich als selbstverständlich empfundenen und von der Berliner Jüdischen Gemeinde nachdrücklich betriebenen Akkulturation der Juden zu »Deutschen mosaischer Konfession« den Kampf ansagte. Die Akkulturation hatte also an zwei Fronten zu kämpfen - gegen den sich breit machenden Antisemitismus und gegen den aktiv agierenden Zionismus.
     Ein besonders trauriges Kapitel an offiziellem Antisemitismus in der angeblich vom »Burgfrieden« beherrschten politischen Szene des im Weltkrieg befindlichen Kaiserreichs spricht Schütz mit der 1916 im deutschen Militär vorgefallenen »Judenzählung« an, mit der antisemitischer Hetze gegen angebliche Drückebergerei jüdischer Soldaten regierungsamtlich nachgegeben wurde, ohne dass die für die Antisemiten blamablen Ergebnisse der Enquete je die Öffentlichkeit erreichten ...
     Im umfangreichsten Kapitel widmet sich Michael Brenner der Zeit der Weimarer Republik. Damals erlebte die Berliner Jüdische Gemeinde, befördert durch die allgemeine Attraktivität der Reichshauptstadt, ihre Glanzzeit: 1925 hatte jeder dritte in Deutschland lebende Jude seinen Wohnsitz in Berlin! Die überhaupt für Berlin charakteristische Zuwanderung intellektueller Potenziale brachte eo ipso auch ein Anwachsen der Zahl jüdischer Kulturschaffender und Intellektueller mit sich,
deren bedeutende Rolle im Berliner Kulturmilieu den wahrlich nicht antisemitischen Kabarettisten Werner Finck 1929 zu dem sarkastischen Witz bewegte, sein Kabarett habe den Namen »Katakombe« erhalten, weil einst die ersten Christen in Rom sich in einer Katakombe trafen, und sich nun in Berlin die letzten Christen wieder dort treffen könnten (S. 137). Unterhalb dieses im Gedächtnis der Nachwelt bestens erhaltenen Stellenwerts der freien Entfaltung jüdischen Intellekts für das Berliner Geistes- und Kulturleben zwischen 1919 und 1932 rangiert aber ein mindestens ebenso wichtiger Trend für die Entwicklung jüdischen Lebens in Berlin. Während im Alltag gelebtes jüdisches Leben bei den in Berlin mehr oder weniger angestammten Juden weiter auf dem Rückzug war, brachte die Begegnung mit den seit 1919 vermehrt Berlin zuströmenden Juden galizischer und bukowinischer Herkunft (ein Viertel der von der Berliner Jüdischen Gemeinde erfassten Mitglieder besaß 1925 keinen deutschen Pass) eine in solchem Maße nicht abzusehende Begegnung mit dem »authentischen« (nicht durch Akkulturation gezeichneten) Judentum. Und diese Begegnung führte zu einer Renaissance jüdischer Kultur. Bester Ausdruck dafür waren die Wiedereinrichtung jüdischer Schulen, die Gründung jüdischer Sportvereine, das Aufblühen der jüdischen Wanderjugendbewegung, alles das gekrönt durch die am 24. Januar 1933 erfolgende Eröffnung des Jüdischen Museums.
     Das durchaus nicht unproblematische, ja zwiespältige Verhältnis der akkulturierten Berliner Juden zu der plötzlichen nahen Nachbarschaft mit osteuropäischen Juden spart Brenner nicht aus. Sein Urteil zu der Frage, ob denn nun der ins Kraut schießende Antisemitismus oder die Berührung mit dem »authentischen« Judentum der stärkere Auslöser für die bewusste Rückbesinnung auf jüdische Kulturwerte wurde, bleibt dagegen erstaunlich blass.
     Ein besonders wertvolles Kapitel des Buches ist der von Hermann Simon verfasste Abschnitt über die NS-Zeit 1933-1945.
BlattanfangNächstes Blatt

   116   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattArtikelanfang
Auf knappstem Raum wird dort die diktierte Entwicklung der jüdischen Organisationen und die für Nachgeborene unverständliche Nazi-Kabbala der Kategorisierung nach Geltungs-, Glaubens-, »privilegierten« und anderen Juden nachgezeichnet. Bei aller Wertschätzung der als Ruhmesblatt für Berlin anzurechnenden Unterstützung für »Untergetauchte«, von denen ca. 1 500 überlebten, verschweigt Simon auch nicht, dass es »Helfer« gab, die die Not der Untergetauchten für sich bestens auszunutzen wussten. Eine Auswahl von verordneten NS-Schikanen gegen Juden, die diesem Kapitel beigefügt ist, lässt den Leser auch heute noch erschauern. Simon legt zudem den Finger auf einen selten bedachten Unterschied, was die differenzierte Rezeption der regierungsoffiziellen barbarischen Neubelebung mittelalterlicher antijüdischer Verfolgungsrituale bei Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde (im NS-Jargon »Glaubensjuden«) und bei christlich getauften (bzw. gar atheistischen) Menschen jüdischer Abstammung betrifft. Die sich zur Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft Bekennenden konnten ihr Leiden und Dulden in die Kontinuität jüdischer Leidensgeschichte stellen; die von den Nazis nur auf Grund ihrer rassistischen Irrlehren als Juden Kategorisierten hingegen fielen in ihr Unglück wie in eine Naturkatastrophe und fanden auch keinen Halt in einer Gemeinschaft (zum Glück für die historische Wahrheit und im Widerspruch zu fleißig kolportierten Legenden spricht es Simon unumwunden aus: »Der Widerstand einzelner christlich gesinnter Gruppen und Personen war eine Ausnahme von der offiziellen Kirchenpolitik.«/S.204/).      Andreas Nachama konnte das abschließende Kapitel zur Entwicklung der Berliner Jüdischen Gemeinde seit 1945 auf der Grundlage der vorhandenen Akten schreiben - es ist daher als authentische Darstellung aus der Sicht der Gemeinde anzusehen. Dankenswerter Weise hält diese sich von den heutzutage obligaten Verzerrungen bzgl. Ost-Berlins und der DDR fern. Die von Nachama mitgeteilte Episode, dass Heinz Galinski das 1949-1953 als Volkskammerabgeordneter der VVN-Fraktion tätige Gemeindevorstandsmitglied Julius Meyer nach dessen Befolgung einer Aufforderung des Westberliner Rabbiners Levinson, die DDR zu verlassen, seines Büros in der Charlottenburger Fasanenstraße verwies mit der giftigen Bemerkung, Meyer trage nun die Folgen dafür, dass er mit der falschen Seite kollaboriert habe - sie zeigt deutlich eines: selbst der hoch zu schätzende Antifaschist Heinz Galinski hatte wohl kein Gespür dafür, dass man eben auch als Jude nach den Erfahrungen des NS-Regimes in der Zeit danach einer Option auf ein total alternatives Gesellschafsmodell anhängen konnte.
     Dem auch reich illustrierten Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen. Hoffentlich verhindert nicht permanenter Geldmangel den Ankauf für jede einzelne Stadtbibliothek und für die so relevanten Schülerbüchereien. In die Hand jedes Geschichts- und Sozialkundelehrers gehört es ohnehin.
     Kurt Wernicke
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/2001
www.berlinische-monatsschrift.de