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Günter Wirth
Das Preußenbild in Ost und West

Die von vielen - nicht nur »im Westen« - als überraschend aufgenommene Wendung in der Preußen-Rezeption der DDR bzw. in der DDR ist - nun allerdings kaum überraschend - oft genug dahingehend kommentiert worden, es seien die (so oder so zu instrumentierenden) preußischen Sekundärtugenden gewesen, die diese Wendung herausgefordert hätten: Diese hätten in den Dienst der Stabilisierung der schon erodierenden DDR-Gesellschaft gestellt werden sollen. Nicht so häufig, aber noch deutlich genug war auch die Rede davon, der mit dem historischen Preußen in Verbindung stehende Ungeist des Militarismus habe zur Neuorientierung, zur Aufwertung des Preußischen, wesentlich beigetragen.
     Sicherlich wird es nicht von der Hand zu weisen sein, dass solche Überlegungen in den »Korridoren der Macht« eine Rolle gespielt haben könnten. Es wäre allerdings kurzschlüssig, wenn man geistig-politische Prozesse in der ehemaligen DDR allein auf machtpolitisches Kalkül beziehen würde. Zweifellos sind es diese zwar, die als entscheidende politische Vorzeichen vor der Klammer stehen, in der wir das gesellschaftliche Leben in der DDR in allen seinen Ausprägungen ebenso wie die individuellen Existenzen entdecken, und ebenso zweifellos bestimmt das Vorzeichen tendenziell, was in der Klammer an Prozessen vor sich geht.

Aber ebenso zweifellos gibt es in der Klammer selbstständige Entwicklungen, auch in Reibung mit dem Vorzeichen, und diese zunächst quantitativ definierten Entwicklungen können dort, wo (angeblich) die Dialektik eine so normative Bedeutung hatte, unter Umständen eine neue Qualität annehmen, die ihrerseits durchaus auch auf das Vorzeichen zurückzuwirken vermag. Dies passierte m. E. gerade auch im Umfeld der Preußen-Problematik.

Der antipreußische Konsens

In den ersten Jahren nach 1945 herrschte unter dem Eindruck der Niederlage des Nationalsozialismus und des preußisch-deutschen Militarismus ein beachtlicher Konsens in der negativen Bewertung Preußens, und es waren zwei der frühesten Publikationen in der SBZ, übrigens nicht aus dem Zentrum der kommunistischen Ideologie, in denen er zum Ausdruck kam.
     Ich meine die am 15. November 1945 in Berlin-Wilmersdorf abgeschlossene und alsbald (1946) im Aufbau-Verlag erschienene geschichtsphilosophische Studie Ernst Niekischs »Deutsche Daseinsverfehlung« und die 1946 in einem literarischen Preisausschreiben der sowjetamtlichen »Täglichen Rundschau« ausgezeichnete »Potsdamer Novelle« von Georg C. Klarén (Klaric) (geb. 1900), dem aus Österreich stammenden DEFA-Chefdramaturgen und Regisseur, dessen »Wozzeck«-Verfilmung und später die der »Sonnenbrucks« zu frühen Ruhmestaten der DEFA zählten.

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In der 1947 als Buch erschienenen »Potsdamer Novelle« geht es um die Geschichte eines Provinzschauspielers, der nie so recht hatte Karriere machen können und der sie dann, subjektiv zufällig, objektiv angesichts der Konjunktur friderizianischen Geistes unmittelbar vor und nach 1933, in atemberaubender Weise als der Alte Fritz macht. Langesser, so heißt er, nimmt die Züge des Alten Fritz oder, genauer, die seiner Legende so an, dass er sich auch im Alltag wie dieser fühlt, selbst dann noch, als es mit seiner Karriere zu Ende gegangen war. So bleibt er Fridericus bis in die Potsdamer Bombennacht des 13./14. April 1945, in der er als »König« durch die Stadt irrt und von denen, die Hilfe brauchen, seine »königlich-preußische« aber nicht annehmen wollen, demaskiert wird. In dieser Nacht reißt er dann seine »Maske« ab und ist im Augenblick des Todes wieder Ulrich Langesser.
     Was Klarén in der auch heute noch durchaus lesenswerten Erzählung zur Wirkung brachte, das leistete Ernst Niekisch (1889-1967) im geschichtsphilosophischen Kontext: »Die Würfel sind gefallen und sie haben gegen den imperialen Anspruch der >Idee von Potsdam< entschieden. Das preußische Schwert fand kein fruchtbares Verhältnis zum Geiste - der Hass gegen die >Intelligenzbestie<
war nur der Ausbruch ohnmächtigen Zornes darüber,unausweichlich zum Bündnis mit der beschränktesten Borniertheit verurteilt zu sein - und so sank es zuletzt zur sinnlos und roh geführten Waffe eines wüsten und ordinären Barbarentums hinab. Es ist geschändet und niemand wäscht mehr den Schmutz von ihm ab, der es besudelt hat.«
     Es waren dann - neben vordergründig agitatorischen Pamphleten - vor allem Werke von Franz Mehring (1846-1919), zumal das über die »Lessing-Legende«, mit denen die Verschärfung des antipreußischen Impetus in der SBZ erzielt wurde (bei Mehring allerdings auf einem vom damals 17jährigen Oberschüler geschätzten hohen Niveau). Analog hierzu war es Anna Seghers' (1900-1983) großer Roman »Die Toten bleiben jung«, in dem dieser Aspekt literarisch zum Ausdruck kam.
     Es ist für mich gar keine Frage, dass dieser Konsens nicht nur in der SBZ bestand (dort mit einer Einschränkung, auf die ich später zurückkomme), sondern auch in den Westzonen. Ein indirektes Zeugnis dafür ist etwa die Tatsache, dass der 1955 in die DDR übergesiedelte Peter Hacks hier zuerst mit sozusagen antipreußischen Stücken Fortune hatte: »Die Schlacht bei Lobositz« (1956) und »Der Müller von Sanssouci« (1957).
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     Umgekehrt stand der aus schwedischer Emigration zurückgekehrte und auf eine Erlanger Professur berufene jüdische Gelehrte Hans-Joachim Schoeps (eine Einladung seines Freundes Ernst Niekisch, an die Berliner Humboldt-Universität zu kommen, hatte er abgelehnt) noch in den fünfziger Jahren ziemlich isoliert da, als er sich für die Rehabilitierung des alten (vorwilhelminischen) Preußen einsetzte, in einem Buch »Das andere Preußen« (1952) und in zahlreichen Aufsätzen, zumal in der Zeitschrift »Christ und Welt«. Diese Isolierung hatte vor allem damit zu tun, dass die historische Traditionslinie für die alte Bundesrepublik in der Zeit Konrad Adenauers (1876-1967) alles andere denn die preußische war - Adenauer war das ostelbische Preußen trotz seiner zeitweiligen Neubabelsberger inneren Emigration nach 1933 fremd. Seine Traditionslinie war die karolingische.

Preußisch-patriotische Rhetorik

Ein Adenauer damals nahestehender und überaus einflussreicher Publizist, Paul Wilhelm Wenger (geb. 1912 ) vom »Rheinischen Merkur«, war es denn auch, der in vielen Aufsätzen und in einem Buch für die mitteleuropäische Situation um 1959 aus dem Traditionsinventar für die Bundesrepublik die karolingische, für die DDR die preußische und für Österreich die habsburgische Karte zog. Wenn man so will, wurde damit eigentlich der DDR die Regeneration des Preußischen auf dem Tablett serviert ...

... und punktuell wurde diese »Gabe« sogar (im Grunde ist dies die Ouvertüre zur Neubewertung des Preußischen in der DDR) vom Tablett genommen, merkwürdigerweise im sensiblen militärischen Umfeld - und dort nicht nur in äußerlich und rituell festzumachenden Faktoren, sondern auch in »ideologischen«.
     Ich erinnere an die preußisch-patriotische Rhetorik über die Befreiungskriege, die ja auch im Literaturbetrieb der DDR »produktiv« wurde, in Werken von Autoren und Autorinnen von B bis Z, von Claus Back (1904-1969), dem Potsdamer Autor historischer Erzählungen (»Steins Rückkehr«, 1954), und Karl Heinz Berger (1928-1994) (»Fichte«, 1953, und »Lessing« 1955) bis Hedda Zinner (1907-1994) , »Die Lützower«, dem Schauspiel von 1955 bzw. 1956, über Franz Fabians Clausewitz-Bücher von 1954 und 1957 und Gerhard Stübes Gneisenau-Roman (»Das große Beispiel«, 1953 ). Überhaupt kam es zu einer vielfältigen, womöglich mitunter sogar unkritischen Würdigung solcher Persönlichkeiten wie Scharnhorst, dem sogar ein Orden gewidmet war, Gneisenau und Ernst Moritz Arndt. (Und es fiel schon etwas aus dem Rahmen der seinerzeitigen Konventionen, wenn der Union Verlag - etwa im Gegensatz zum auf diesem Gebiet notorisch aktiven Verlag der Nation, etwa mit Herbert Scurlas (1905-1981) [Karl Leutners] Arndt-Buch von 1952 - in den sechziger Jahren eher die wissenschaftlichen und religiösen Aspekte im Schaffen Arndts in den Vordergrund rückte.)
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     Sicherlich sind die in meinen Erinnerungen und Erwägungen vorgenommenen Generalisierungen einerseits zwar holzschnittartig, andererseits aber durchaus stimmig, dies zumal hinsichtlich der Rezeption der zeitgeschichtlichen öffentlichen Atmosphäre. Immerhin wird man freilich auch hier festhalten müssen, dass es jeweils Erscheinungen gab, die nicht unbedingt zu den Generalisierungen passten. So erinnere ich mich, dass wir alsbald nach 1945 als Oberschüler ein frühes Unterrichtsmaterial aus dem Verlag Volk und Wissen über die Reformen Steins erhielten, und auf dem Höhepunkt der patriotischen Rhetorik legte ausgerechnet ein »bürgerlicher« Autor, der Dresdener Karl Zuchardt (1887-1968) der vor 1945 als Dramatiker mit dem Stück »Held im Zwielicht« über Moritz von Sachsen bekannt geworden war, mit dem seinerzeit viel gelesenen Roman »Der Spießrutenlauf« (1954) eine Auseinandersetzung mit der friderizianischen Legende vor ...
     In den sechziger Jahren (auch hier hatte der »13. August« seine Folgen) trat die nationale, preußisch akzentuierte Rhetorik in der DDR weitgehend zurück, und hinsichtlich des Preußischen kam es zu einer Verschärfung des Tons, etwa in dem 1968 erschienenen Buch Friedrich Schlotterbecks (1909-1979) , »Im Rosengarten von Sanssouci«, und in eben diesem Jahr kam im Mitteldeutschen Verlag Heinz Kathes polemisches Buch über Friedrich Wilhelm I. heraus.
Die Sprengung der Überreste der Potsdamer Garnisonkirche (in der Stadtverordnetenversammlung gegen immerhin vier Stimmen »abgesegnet«) fällt ebenfalls in diese Zeit.
     Umgekehrt näherte man sich in der alten Bundesrepublik dem Preußischen auf unterschiedliche Weise mehr an, etwa in der so intonierten Rezeption des 20. Juli, dann aber auch im Umfeld des Literarischen - und von dort ins neue Medium des Fernsehens übergehend. Ich denke hier an den (auch in die DDR überschwappenden) sensationellen Erfolg der fünf Folgen des Fernsehfilms (von 1960) »Am grünen Strand der Spree« nach dem Roman des Berliner Schriftstellers Hans Scholz (1911-1988), der als bildender Künstler zuvor noch beim Aufbau der SU-Botschaft Unter den Linden beteiligt gewesen war. 1961 waren von diesem Roman schon mehr als 200 000 Exemplare verkauft ...
     Wenn ich es richtig sehe - und ich schreibe dies aus ganz subjektiver Sicht, aus dem Erinnerten an Teilnahme von 40 Jahren kulturellen und wissenschaftlichen Lebens in der DDR -, dann bekamen wir Anfang der siebziger Jahre in verschiedenen Bereichen die Ansätze zu einer (jetzt nach und nach tiefergehenden) Neubewertung des Preußischen. In den siebziger Jahren entfalten sich diese Ansätze, und in den achtziger Jahren erhalten sie dann freilich schon das »Aroma« des Erodierenden der DDR-Gesellschaft.
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Die Preußen kommen

Dieser Prozess der Neubewertung des Preußischen vollzog sich - isoliert voneinander, subkutan aber Zusammenhänge herstellend - in unterschiedlichen Bereichen. Es wäre, um dies von vornherein zu betonen, eine Verengung des Blickwinkels, wenn man allein den geschichtswissenschaftlichen Bereich in Betracht zöge, auch wenn die dort erfolgenden Neuakzentuierungen angesichts des Stellenwerts der Historiographie im hierarchisch gegliederten Überbau der DDR-Gesellschaft am brisantesten in Erscheinung treten mussten, noch dazu dann, wenn sich dies in politicis - und womöglich im Umfeld der sensiblen »gesamtdeutschen« Beziehungen - spiegelte.
     Ich denke hier natürlich an Ingrid Mittenzweis Buch über Friedrich II. von 1979 und an den öffentlichen, den internationalen Reflex hierauf im Maxwell-Interview des Staatsratsvorsitzenden von 1980, und ich denke gleichermaßen an Ernst Engelbergs Bismarck-Biographie, deren erster Band im Gespräch wiederum des Staatsratsvorsitzenden mit Willy Brandt zur Rede stand.
     Nicht minder wichtig als historiographische Arbeiten waren Erscheinungen im literarischen Umfeld im weitesten Sinne, d. h. im Erzählerischen, auf der Bühne und vor allem im Fernsehen. Allerdings wäre neuerlich in Betracht zu ziehen, dass die Preußenkritische Position nicht etwa total ad acta gelegt worden war, sondern durchaus up to date blieb,

denkwürdigerweise vor allem bei regimekritischen Autoren wie Heiner Müller (1929-1995) (»Germania Tod in Berlin«, 1974, und »Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei«, 1979) und Alexander Lang (»Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen«, 1982), womöglich auch im Gundling-Roman (1975) Martin Stades (geb. 1931), der zuvor den unvollendet gebliebenen Knobelsdorff-Roman Claus Backs zu Ende geschrieben hatte.
     Wenn ich mich richtig erinnere, sind es Fernsehbearbeitungen von Fontane-Romanen und von solchen Arnold Zweigs (1887-1968), die für eine »breite« Wirkung eines neuen Preußenbilds eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. 1970 etwa kam »Effi Briest« in der Bearbeitung von Christian Collin (= Bodo Homberg), und Heinz Kamnitzer hatte schon 1963 (bzw. 1968) mit dem »Grischa« die TV-Bearbeitung von Zweigs Zyklus begonnen; 1970 folgte die »Junge Frau von 1914« und 1973 »Die Erziehung vor Verdun«. Die Fontane-Rezeption erfolgte überdies auf einer sorgfältigen philologischen Forschungsarbeit, unterstützt von hervorragenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten etwa Hans-Heinrich Reuters (1923-1978) Fontane-Biographie von 1968 und vom Potsdamer Fontane-Archiv (Joachim Schobeß). Auch die Kleist-Rezeption kann in diesem Zusammenhang nicht außer Betracht bleiben, zumal einige beispielhafte Inszenierungen des »Prinzen Friedrich von Homburg« entstanden, etwa auch am Potsdamer Hans-Otto-Theater.
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Im Umfeld der zeitgenössischen Literatur muss vor allem Günter de Bruyn genannt werden. Er hat einerseits ab 1981, zusammen mit Gerhard Wolf, im Buchverlag Der Morgen (offenbar mit dem Lektor Joachim Walther im Hintergrund) den »Märkischen Dichtergarten« herausgegeben, und diesem waren einige Wiederentdeckungen zu verdanken, beispielsweise die von Schmidt-Werneuchen (1764-1838), dem Dichterpfarrer, oder die von de Bruyn besorgten »Nachrichten aus meinem Leben« von F. A. L. von der Marwitz. Andererseits hat er damals in seinen eigenen Arbeiten, so in den »Märkischen Forschungen« (1978), gegen den realsozialistischen Opportunismus Tugenden gestellt, die deutlich preußische Züge tragen. Neben de Bruyn sei auch Jürgen Rennert genannt, dessen Prosa-Arbeiten und lyrische Hervorbringungen ich seinerzeit in der neuen deutschen Literatur unter der für diesen Schriftsteller charakteristischen Überschrift würdigte: »Märkisches und Mosaisches«.
     Den eigentlich entscheidenden literarischen Wurf in diesem geistig-politischen Prozess leistete indes Claus Hammel (1932-1990) mit seiner genialen Satire »Die Preußen kommen«, die ebenso populär wie artifiziell war und von 1982 ab einem Siegeszug gleich die Theater in der DDR, auch im urpreußischen bzw. im urpreußisch gewesenen Potsdam, eroberte. Hammel, der ja schon früh Fontanes Jenny Treibel auf die Bühne (1963) gebracht hatte, brachte es fertig, mit der Ironisierung der womöglich nur »herrschaftlich« orientierten »Preußen- und Lutherverehrung« zu
verdeutlichen, dass es in breiten Massen der DDR-Bevölkerung eine über die Zeiten (und über die Wellen massivster Preußen-Kritik) hinweg unausrottbare Affinität zum preußischen Erbe - vor allem auch in Gestalt herausragender Persönlichkeiten von F bis F, von Friedrich dem Großen bis Fontane, wie in Gestalt nicht nur sekundärer Tugenden, »Üb' immer Treu und Redlichkeit« - gegeben hatte.
     Kurz zuvor hatte der Union Verlag aus dem Umfeld der christlichen literarischen inneren Emigration eines der Meisterwerke publiziert, Jochen Kleppers (1903-1942) zuerst 1937 erschienenen gleichnishaften Roman um den Soldatenkönig, »Der Vater«. Was ich schon früh versucht hatte, gelang mir erst 1980 - immerhin war 1967 bereits eine erste Auflage von Kleppers Tagebuch zum 25. Jahrestag seines Selbsttodes und des Selbsttodes seiner jüdischen Frau und Stieftochter im Union Verlag herausgekommen, und bei der Kürzung des Textes hatte ich das Preußische authentisch berücksichtigt.

Altpreußisches in der DDR

Kleppers Roman »Der Vater« ist für unsere Überlegungen deshalb so relevant, weil er auf einen Umstand hinweist, der bisher beim Observieren der Veränderungen im Preußenbild der DDR bzw. in der DDR noch nicht gewürdigt worden ist, den zu vernachlässigen indes in Hinsicht auf das historische Preußen wie denn auch auf seinen Rezeptionsprozess in der DDR zu Verzerrungen führen könnte.

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Für Klepper nämlich ist der Soldatenkönig, der »Vater«, das Urbild eines christlichen Herrschers, und es sind die religiösen Dimensionen dieses Romans, die das Preußische in eigener Weise akzentuieren (übrigens durchaus nicht unkritisch, etwa dort, wo für Klepper Preußen als mit Sparta identisch erscheint.)
     Damit komme ich - nach der hier nur angedeuteten Besichtigung der Historiographie und nach der der literarischen Szene - zu einem dritten Bereich, der zwar einerseits zu dem »Inhalt« der eingangs erwähnten Klammer gehört, andererseits aber auch nicht, und erst recht hatte er nichts mit dem Vorzeichen vor der Klammer zu tun. Deshalb habe ich teilweise schon differenzierend von der (sozusagen offiziellen) Preußen-Rezeption der DDR und von der in der DDR gesprochen. Die letztere wäre die der evangelischen Kirchen, die als einzige legale Institution in der DDR nicht zur Gesamtheit des »demokratischen Zentralismus«, also nicht zum »Vorzeichen«, gehörten.
     Das Preußische hatte für den Protestantismus in der DDR herausragende Bedeutung, gehörten doch alle evangelischen Kirchen in der DDR außer der sächsischen, der thüringischen und der mecklenburgischen zur Kirche der altpreußischen Union, die 1817 nach den preußischen Gebietszuwächsen im Gefolge des Wiener Kongresses gebildet worden war. Sie umfasste nach dem aktuellen Gebietsstand also die große provinzsächsische (Konsistorium Magdeburg),
die Berlin-Brandenburger, die restpommersche (Greifswald) und die restschlesische (Görlitz); die Anhaltiner Kirche (Dessau) hatte sich in DDR-Zeiten angeschlossen.
     Es lag daher nahe, dass im Traditionsinventar dieser Kirchenprovinzen der altpreußischen Union im Ostelbischen (im Gegensatz zu den stärker von demokratischen Tendenzen tangierten und noch dazu synodal verfassten im Rheinland und in Westfalen, die 1817 in die Altpreußische Union hineingenommen wurden) das Preußische eine überaus prägende Bedeutung hatte - auch in der Haltung ihrer (antifaschistischen) Repräsentanten der Bekennenden Kirche wie Otto Dibelius (1880-1967) und Kurt Scharf (1902-1990), Heinrich Grüber (1891-1975) und Martin Niemöller (1892-1984). Niemöller, der zwar aus seiner KZ-Haft nicht wieder nach Berlin zurückkehrte bzw. nicht zurückgerufen wurde, sich aber immer als sozusagen »Urpreuße« verstand.
     1945 hatte sich die Kirche der altpreußischen Union in einer schwierigen Lage gesehen, da in der Folge des Potsdamer Abkommens Ost- und Westpreußen (sowie Posen) als Kirchenprovinzen zu bestehen aufgehört hatten, und die Kirchenprovinzen in Brandenburg, Pommern und Schlesien hatten größte bzw. erhebliche Teile verloren; 3 000 Gemeinden, etwa ein Drittel des ursprünglichen Gesamtbestandes, waren verloren.
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   37   Probleme/Projekte/Prozesse Preußenbild in West und Ost  Voriges BlattNächstes Blatt
Joachim Rogge (1929-2000), der kürzlich im Alter von 70 Jahren verstorbene Kirchenhistoriker und zeitweilige Görlitzer Bischof, hat solchen Mitteilungen (in der »Theologischen Realenzyklopädie«. Band X, Berlin und New York 1982, S. 680 f.) die Feststellung hinzugefügt: »Zwar hatte die Unionskirche in modifizierter Gestalt und Einbindung nie aufgehört zu bestehen, aber vornehmlich die beiden politischen Zusammenbrüche, an denen sie teilhatte, trafen sie neben ihrem inneren Angefochtensein auch von außen hart. Die Neukonstituierung geschah auf einer außerordentlichen Generalsynode am 20. 2. 1951, als sich die versammelten Vertreter der Gliedkirchen für das Fortbestehen der APU entschieden und eine neue Ordnung vorlegten, die bis heute gültig ist. ie Regierung der DDR hat wenige Monate nach dem Synodalbeschluss gegen die vorgelegte Ordnung Einspruch erhoben mit der Begründung, der Anspruch auf Identität und Nachfolgeschaft hinsichtlich der früheren Evangelischen Kirche der >altpreußischen Union< sei unzulässig. Das gleiche wurde für die Weiterführung des Namens >altpreußische Union< geltend gemacht. 1953 änderte die Unionskirche >unter Fortbestand ihrer Rechtspersönlichkeit< ihren Namen in >Evangelische Kirche der Union<. Eine geistliche Andersorientierung war mit der Namensänderung nicht verbunden, zumal die ehemalige Einbindung in den durch Kontrollratsgesetz von 1947 politisch aufgelösten Staat Preußen schon seit langem nicht mehr die geistig-geistliche Voraussetzung für den kirchlichen Zusammenhalt war. Die Kirchengemeinschaft in zwei deutschen Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen wurde in zahlreichen Zusammenhängen als evangeliumsbegründet gesamtkirchlich, nicht jedoch als gesamtdeutsch definiert.«
     Rogge hat die Auseinandersetzungen um diese Problematik (es kam vor allem die zusätzliche staatliche Forderung nach der Veränderung der Selbstbezeichnungen »Schlesische« und »Pommersche« Kirche hinzu) eher zurückhaltend kommentiert; diese entbehrten nicht einer gewissen Schärfe und Dramatik, und wenn dann auch ab Ende 1953 von den Konsistorialbezirken Greifswald und vom Konsistorialbezirk Görlitz offiziell die Rede war - das pommersche und schlesische Selbstverständnis als durchaus preußisches hielt sich. 1990 wurde dies unübersehbar deutlich ...
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   38   Probleme/Projekte/Prozesse Preußenbild in West und Ost  Voriges BlattNächstes Blatt
Lösung aus »mythischen« Traditionen

Unter diesen Umständen ist es völlig klar, dass für den Prozess der Herausforderung eines neuen Preußenbildes der DDR die kirchliche Haltung und der theologische Diskurs hierzu nicht unberücksichtigt bleiben können, auch dann, wenn letztere gleichsam anonym und nichtöffentlich ihre Wirkung ausübten; lediglich in der CDU und im Kulturbund wurden gewisse Reflexe hierauf bemerkt, im Kulturbund etwa 1981 auf einer »Preußen-Konferenz« in Potsdam am 5. und 6. Juni 1980, die ich eröffnet hatte.
     Dieser Hinweis ist um so gewichtiger, wenn man hinzufügt, dass der Gesamtprozess der Umwertung des Preußenbildes in der Gesellschaft der DDR, also unter Einschluss der nicht domestizierten Kirchen, seine eigentliche Pointe in einer gewissermaßen autonom abgerollten Polarisierung erhalten hatte: Die offizielle DDR in ihrer politischen und kulturpolitischen, ideologischen und wissenschaftlichen Gestalt musste sich von einem über Jahrzehnte verinnerlichten negativen Preußenbild lösen, das ja nicht erst in DDR-Zeiten Konturen angenommen hatte. Die evangelischen Kirchen, zumal die in der EKU, mussten sich demgegenüber von der Preußen-Ikone lösen, also von einem überaus positiven Preußenbild, von dem der (West-)Berliner Kirchenhistoriker Karl Kupisch (1903-1982) festgehalten hat, dass dieses bald nach dem »Abgang der Hohenzollern« eine »fast mythische« Bedeutung erhalten hatte.

     Diese geistigen - ideologischen bzw. theologischen - Auseinandersetzungen waren auf beiden Seiten schmerzlich, aber letztlich waren es ihre Ergebnisse, die recht eigentlich erst die Herausformung eines neuen, historisch legitimen Preußenbildes sowohl der DDR als auch in der DDR ermöglichten.
     Um wenigstens andeutungsweise hauptsächliche (sozusagen außertheologische) Aspekte der innerprotestantischen Auseinandersetzung vorzustellen, sei auf mehrere Texte verwiesen, die den kurmärkischen, also Potsdamer Generalsuperintendenten Günter Bransch (geb. 1931) zum Verfasser haben - und wenn er das Wort ergriffen hat, dann tat er es immer in der Kontinuität zu seinen Vorgängern, zu denen Otto Dibelius, der weniger bekannte, aber als Seelsorger und Visitator charismatische Walter Braun (geb. 1892) und der den theologischen Diskurs befördernde Horst Lahr (geb. 1913) gehört hatten (und auch den Potsdamer Superintendenten Konrad Stolte (1903-1967) müsste man an dieser Stelle erwähnen).
     Am 20. Juli 1984, also zum 40. Jahrestag des Attentats, hielt Bransch in der Bornstedter Kirche einen Vortrag, in dem er über den Anlass hinaus und mit Blick auf unmittelbare Zeugnisse zum 20. Juli auf dem legendären Bornstedter Friedhof das Preußen-Problem zur Geltung brachte. Der 20. Juli, die militärische Verschwörung und die mit ihr verbundene geistige Auseinandersetzung wurden für Bransch die »Umkehr zur wahren preußischen Lebensform«.
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   39   Probleme/Projekte/Prozesse Preußenbild in West und Ost  Voriges BlattNächstes Blatt
Unter Hinweis auf Aussagen des Generals Henning von Tresckow (1901-1944) erklärte Bransch weiter: » Diese Worte ... sprechen für sich selbst. Hier tritt noch einmal ans Licht, was Preußentum auch war und hätte sein sollen. Der Schuldspruch der Geschichte gilt. Aber auch das Zeichen der Umkehr, das sühnende Opfer ...« Analog sind Aussagen zu würdigen, die 1985 bei Gelegenheit des 300. Jahrestages des Potsdamer Edikts gemacht worden sind, zumal solche des damaligen Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe (der in der Potsdamer Nikolaikirche zusammen mit Altbundeskanzler Schmidt sprach). Nicht minder wichtig war ein Vortrag Günter Branschs zum 100. Todestag von Kaiser Friedrich 1988, wiederum nicht zufällig in dem schon vom Kronprinzen geliebten Bornstedt, war doch dieser Gedenktag nicht gerade ein herausragendes Datum im ansonsten üppigen Jahrestags-Kalender der DDR.

Der große Wurf blieb aus

Es gab nun aber doch einen Vorgang, in dem die Preußen-Bewertung der DDR und die in der DDR konvergierten - oder genauer gesagt: hätten konvergieren können, denn in Wahrheit verkümmerte er eher zu einer Karikatur, weil bei womöglich gutem Willen von einzelnen der letztlich nötige große Wurf ausblieb, und dieser fehlte ja ohnehin nicht nur bei diesem Vorgang. Ich meine die vom Staatsratsvorsitzenden 1987 ausgesprochene Einladung an den Prinzen

Louis Ferdinand (1907-1994) als Chef des Hauses Hohenzollern, an der 750-Jahr-Feier Berlins teilzunehmen - eine Einladung, die (nach Rücksprache des Prinzen mit dem Bundeskanzler) insofern angenommen wurde, als sie auf einen Besuch in Potsdam beschränkt wurde, wo es zu Gesprächen mit dem Generaldirektor von Sanssouci, Joachim Mückenberger, und dem früheren Kulturminister Hans Bentzien, vor allem aber zu einem Besuch in der »Kirche der Hohenzollern«, der Friedenskirche, in Begleitung des damaligen Superintendenten Eginhart Schmiechen kam. Letztlich war dies ein der Öffentlichkeit der DDR weitgehend unbekannt gebliebener Vorgang - ich selber habe von ihm erst aus den Memoiren Louis Ferdinands erfahren -, so dass eine übergreifende, d. h. die kritischen und die neuen Elemente im Preußenbild aller Kräfte in der DDR zusammenfassende und weiterführende Wirkung nicht zustande kam.
     Als Resümee bleibt für mich: In der Gesellschaft der DDR und in den Kirchen kam es zu einem von den jeweiligen Voraussetzungen her je neuen Preußenbild, das viele Tertia comparationis (Vergleichsmomente) enthielt. Dieses neue Preußenbild hätte seinerseits ein Beitrag zu neuem Denken und neuer Politik werden können, wenn denn die in der Sache mögliche Konvergenz nicht zu einem Nebeneinander verkommen wäre, wenn vielmehr multiplizierend und potenzierend die Schranken hätten gesprengt werden können.
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Wie die Dinge in den achtziger Jahren liefen, drang dann doch einiges heraus, allerdings nicht in geordneten Prozessen, sondern in erodierenden. Ja, man kann sagen, dass das neue Preußenbild, auf das sich die Gesellschaft der DDR orientierte, um einen Beitrag zu ihrer Stabilisierung zu leisten, auf seine Weise (befördert auch stark durch das neue Preußenbild in der DDR) ein eigener Schritt zu ihrem Ende wurde.

Zeitzeuge Victor Klemperer

Auch in Sachen Preußen im allgemeinen, Friedrich dem Großen im besonderen, ist - um dies am Ende noch einzufügen -Victor Klemperer (1881-1960) ein präziser Zeitzeuge - nach Ausweis seiner Tagebücher von 1945 bis 1959 in zwei Bänden: »So sitze ich dann zwischen allen Stühlen« (hg. von Walter Nowojski), Berlin 2000. Hatte Klemperer unmittelbar nach 1945 Friedrich II. nur im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um einen Dresdener Kollegen, der in der NS-Zeit Friedrich II. als den »nordischen« gefeiert hatte, zur Kenntnis genommen, so spielte er in den fünfziger Jahren eine gewisse Rolle in seiner literaturwissenschaftlichen Arbeit, hinsichtlich der Voltaire-Forschung. Hatte ihn im März 1956 der kürzlich achtzigjährig verstorbene Professor Johannes Irmscher (1920-2000) von der Akademie der Wissenschaften ermutigt, sich mit dieser Problematik zu beschäftigen (er könne ruhig »pro Fridericus, contra Mehring« schreiben, »man sei ja heute freier«), ergab sich 1958, also fast am Ende seines Lebens, ein dreifacher Ärger mit dieser Thematik:

mit dem Vorwort für Rütten & Loening zu den »Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Herrn Voltaire«, das noch nach Überarbeitung (»Kastrierung«) in die Kritik geriet, weil Klemperer zu sehr die kulturelle Facettierung des alten Preußen herausgearbeitet hatte, dann mit einem von Wolfgang Langhoff (1901-1966) dringend erbetenen Text für das Programmheft zu Hacks' »Müller von Sanssouci« und schließlich und vor allem mit dem Akademie-Vortrag Klemperers über Voltaire und Friedrich II., den in der Diskussion Alfred Meusel (1896-1960) kritisiert hatte. Alle drei Texte erschienen nicht - der Akademie-Vortrag wurde von ihm selber zurückgezogen: »Die Akademie ... fürchtet sich, meinen Fridericus abzudrucken, ich ziehe ihn zurück; Faschismus rechts und links.« (25. April 1958)

Nachbemerkung:
Da es sich hier im wesentlichen um Erinnerungen handelt, sind Anmerkungen überflüssig. Außer den im Text schon angegebenen bibliographischen Daten müssten genannt werden:
Schriftsteller der DDR, Leipzig 1974, und Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1996 - zur Verifizierung der Erinnerung an literarische Werke;
ferner: Manfred Richter (Hg.), Bornstedt. Friedhof und Kirche, Berlin 1993 (dort die Texte von Günter Bransch).

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/2001
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