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Joachim Bennewitz
»Bal champêtre« und Riesenfeuerwerk

Das Weltetablissement Schloss Weißensee

Am 10. Mai 1885 bringen die Wagen der zwischen Alexanderplatz und Schloss Weißensee verkehrenden Neuen Berliner Pferdebahn-Gesellschaft Tausende Ausflügler in das Dorf am Nordostrand der Stadt. Angelockt durch Inserate in den hauptstädtischen Zeitungen kommen sie, um an der festlichen Eröffnung des »Etablissements Zum Sternecker« teilzunehmen. Angekündigt sind »Volksvergnügungen aller Art«, abends elektrische Beleuchtung sowie »in dem neuen grossen Saal Bal champêtre: Großer Festball«. Als an diesem Abend die Lichter erlöschen, hat die neue Ära im Schloss Weißensee Einzug gehalten, die mit dem Namen des neuen Gastronomen verbunden und selbst noch Jahrzehnte nach dessen Wegzug unvergessen bleibt.

     Dabei ist Rudolf Sternecker (biografische Daten waren bisher nicht zu ermitteln) nicht zum ersten Male hier tätig, schon 1877 hatte er für rund zwei Jahre das Schloss genutzt. Doch waren zu dieser Zeit die Bedingungen für den Gastwirt und Manager offenbar noch nicht günstig. Erst seit Beginn des Jahres verkehrte die Straßenbahn, ihre Nutzung durch die Gäste dürfte sich vorerst bescheiden gestaltet haben. Der Ort selbst mit seinen knapp 4 000 Einwohnern bot kein Potenzial für Besucher eines so großen Ausflugslokals, sodass selbst ein einfallsreicher Mann wie Sternecker Mühe hatte, sein Geschäft am Leben zu erhalten. Auch seine Vorgänger, die seit 1874 das Gelände bewirtschafteten, hatten nach jeweils längstens zwölf Monaten wieder aufgegeben. Sternecker verkaufte im Oktober 1878 alles wieder, das Niederbarnimer Kreisblatt verkündete, dass er sich »zur Ruhe setzen« wolle. Übernommen wurde das Schloss nun von Karl August Hermann Hartke, der sich in Berlin als Chef des Krollschen Etablissements und zuvor als Eigentümer des renommierten Hotels de Saxe einen Namen gemacht hatte.
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Schloss Weißensee
Schon 1882 war der nächste Nachfolger da, und von 1883 bis Anfang 1885 ein weiterer. Keiner hatte Erfolg.
     Sternecker aber dachte gar nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Er wollte sich und den Berlinern beweisen, dass seine Vorstellungen von einem »Berliner Tivoli« die richtigen sind, dass eine neue Zeit auch neue Ideen erfordert und die alten, noch biedermeierlich anmutenden Vergnügungsstätten der Stadt endlich überwunden werden müssen. Er übernahm in der Hasenheide den Ausschank der Bergschloss-Brauerei und eröffnete schon am 25. April 1880 das neue Etablissement, das er zielbewusst und, wie sich bald zeigen wird erfolgreich, »Neue Welt« nannte. Die Anzeige in der »Vossischen« vom gleichen Tage liest sich fast gleich wie die dann fünf Jahre später in Weißensee und macht deutlich,
dass die Versuche im Umfeld von Rixdorf für den Neuling von 1880 den Grundstock für die späteren Erfolge des versierten Managers bildeten. Nur mit dem Unterschied, dass die Berliner auf Torwagen und Kremser angewiesen waren, um zur »Neuen Welt« zu gelangen. Und ihm nur eine vergleichsweise kleine Teichanlage zur Verfügung stand, um Nelsons Seeschlachten vorzuführen, und auch wenig Raum für die Völkerschlacht bei Leipzig, Napoleons Debakel bei Waterloo oder die Erstürmung der Düppeler Schanzen. Dennoch, Ballonaufstiege wurden auch hier zur Sterneckerschen Spezialität, hier entstand zum ersten Male nach der Gewerbeausstellung in Moabit eine elektrische Bahn mit Tunnel, hier wurden Akrobaten mit atemberaubenden Vorführungen und vor allem die »Riesen«feuerwerke zu weiteren Markenzeichen.
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Doch 1885 schon schied Sternecker aus. Vermutet wird, dass »er die >Neue Welt< durch die Projektierung der Wissmannstraße und sogar zusätzlich eines (später aber nicht ausgeführten) Strassenwinkels mitten über das Festgelände in seiner Existenz bedroht sah« (Lothar Uebel). Er ging wieder nach Weißensee, wo er das Schloss wusste, in dem und in dessen Umgebung er endlich das Tivoli errichten will, das ihm vorschwebt und das die »Neue Welt« noch in den Schatten stellen soll.
     Die Vorgeschichte des Schlosses in Weißensee, das eigentlich nur ein durch einen 1859 bereits bürgerlichen Eigentümer etwas pompös geratenes Gutshaus ist, beginnt bereits 1745. Dazu vermeldet das Kirchenbuch 1806: »Geh. Rath von Nüßler (1700-1776) baute das adelige Haus hier massiv, legte einen schönen Garten und Tannenwald an, und wurde dies von nun an der Sitz der adeligen Herrschaft.« Die Zeichnung, die überliefert ist, zeigt ein einfaches Herrenhaus, wie es viele dieser Art in der Mark gab, die später von Theodor Fontane beschrieben wurden. Nüßlers Erben geben Haus und Land in bürgerliche Hände.
1821 erwirbt es Johann Heinrich Leberecht Pistorius (1757-1858), der seinen neuartigen Brennapparat hier mit Kartoffeln aus eigenem Anbau erprobt und weiter entwickelt. Nach Pistorius' Tod wird sein Neffe Friedrich Wilhelm Lüdersdorff neuer Gutsherr. Dieser ist es, dem das bescheidene Haus nicht mehr genügt, und der an seiner Stelle, unmittelbar am Südufer des Weißen Sees, einen weitläufigen Bau errichten lässt, durch den die Bezeichnung Schloss eingeführt wird. Schloss und Park bieten nach 1872, als das Gut zum Spekulationsobjekt und zur Keimzelle der vorstädtischen Gemeinde wird, zuerst dem neuen Gutsherren Logis, werden jedoch schon zwei Jahre später für Restaurationszwecke verpachtet. Mit offenbar wenig Erfolg, denn schon ein 1875 kommen neue Pächter, und, wie bereits beschrieben, ab 1877 tritt - wie gesagt - Rudolf Sternecker erstmalig in Erscheinung. 1885 nun, durch die Arbeit in der Hasenheide um viele Erfahrungen reicher, geht dieser nun daran, die Anziehungskraft seiner Ideen weiter auszubauen. Sein Vorbild, das Kopenhagener »Tivoli«, will er nicht kopieren, sondern übertreffen, so, wie er auch seinem Nachfolger in der Hasenheide erfolgreich Konkurrenz zu machen beabsichtigt.
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Das Ergebnis wird schließlich eine Ansammlung von Lustbarkeiten sein, die 1993 in einer Weißensee-Beschreibung »ein Disneyland von einst« genannt wird.
     1892 heißt es in einer Beschreibung »Rund um Berlin - Unsere Vororte und ihre Zukunft«, daß Weißensee ein Ort ist, welcher kaum einem Berliner fremd ist, weil neben Pferdemärkten und Trabrennen »hunderttausende Sternecker's Welt-Etablissement« hierher locken. »Was Sternecker daraus gemacht hat,
wie viele Hallen und malerische points de vue er unter den ehrwürdigen Bäumen vergangener Jahrhunderte geschaffen hat, ist allbekannt.« Musik-Pavillons, ein in das Wasser hinein gebautes »See-Theater« und eine Badeanstalt sowie eine eigene Brauerei vorn an der Königs-Chaussee gehören nun dazu, ein Fotoatelier, die obligate Schießhalle, aber auch Taucher-Bassin, Hippodrom, Riesenkarussell, Riesenrad, elektrische Eisenbahn mit Tunnel und ein auf dem See verkehrendes Motorboot.

Der »Sternecker«
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Verkaufspavillons, ein Denkmal aus Gips für den Kaiser und mehrere Bierhallen vervollständigen den Vergnügungspark. Natürlich gibt es nun auch in Weißensee ein aus Holz errichtetes »bäuerliches Ballhaus«, ein »Bal champêtre«, später wird als moderne Errungenschaft eine Telefonzelle hinzukommen. Bei einer am 10. Mai 1897 durchgeführten Kontrolle durch die Landes-Bauinspektion Berlin werden 26 verschiedene Bauobjekte gezählt. Die Einbeziehung des Sees in die Feuerwerks-Attraktionen schafft neue Möglichkeiten. So wird der Luftschiffer Lattmann mit einem Fallschirm abspringen, ein anderer Artist wird, auf einem Trapez stehend, mit dem Ballon in die Höhe entführt, bei Dunkelheit zündet er Feuerwerkskörper und lässt einen Goldregen in den See fließen. Auf dem Wasser geht Pompeji, vernichtet durch einen Feuer speienden Vesuv, unter. Im Seetheater erobert Tilly die Stadt Magdeburg. Harmloser, aber nicht weniger beliebt sind Gondelfahrten und die Badefreuden im See. Großen Eindruck beim Publikum hinterlässt die Schweizer (auch Schwedische) Rutschbahn, bei der sich die Wagen zwischen zwei Türmen auf Berg- und Talebenen bewegen, mit einem Fahrstuhl ein Stockwerk höher gehoben werden, um schließlich an ihren Ausgangspunkt zurückzukehren. Ein zeitgenössischer Berichterstatter schreibt: »Die Berliner geben sich vornehmlich abends bei elektrischer Beleuchtung diesem Vergnügen hin, von dem die Damen so entzückt sind, bis der begleitende Bruder, Vater oder Bräutigam mit kläglicher Miene eingestehen muss, dass der bedenklich schmäler gewordene Geldbeutel zu beschleunigtem Einhalten mahnt.« Man sagt Sterneckers Frau nach, dass sie freitags mit einem Waschkorb voller Freikarten zum Hausvogteiplatz fährt, um diese an die jungen Näherinnen zu verteilen. Mit der berechtigten Aussicht, dass sich zum Wochenende die - zahlenden - männlichen Tanzpartner von allein einstellen würden.
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Die schwedische Rutschbahn
     Die mehrere tausend Besucher fassenden Flächen bilden oft die Kulisse für Treffen von Vereinen und Parteien. »Bundestage« oder »Großveranstaltungen bei Sternecker« mit dem Vorteil, außerhalb der Stadt stattzufinden, deren Polizei strengere Maßstäbe anzulegen gewohnt ist, werden über Jahre zu ständigen Einrichtungen. Veranstaltungen der Berliner und besonders der als »sehr links« angesehenen Niederbarnimer Sozialdemokratie und ihnen nahe stehender Organisationen wie Sänger- oder Sportbünde machen »den Sternecker« bei vielen Schichten der Bevölkerung bekannt. Das führt über einige Zeit zu Problemen, weil das Schloss nun Militärangehörigen versperrt ist. Zumindest, wenn sie uniformiert sind.
     1897 ist die Zeit des Rudolf Sternecker in Weißensee abgelaufen. Bis 1893 hatte er hier auch in der nahe gelegenen Albertinenstraße gewohnt, nun verliert sich seine Spur. Ein neuer Pächter tritt auf, später wird es heißen, der Maestro habe »sich nach Kairo gewandt«. Noch über Jahrzehnte danach wird man aber die Restauration, wenngleich der Glanz der schönen Jahre niemals wiederkehrt, meist mit seinem Namen nennen. Die Anziehungskraft bleibt, die Einwohnerzahl im Umfeld gestattet mehr und mehr auch die Nutzung durch die Gemeinde. Vor allem die zahlreichen Weißenseer Theatervereine führen ihre Zuschauer hierher.
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Die folgenden Eigentümer oder Pächter agieren nur immer kurze Zeit, schließlich wird 1908 die Gemeinde zum Preis von etwas mehr als drei Millionen Goldmark Eigentümerin von Schloss und Park. 1915 wird sie, um über die Dauer des Krieges zusätzliche Einnahmequellen zu erschließen, den Ort mit einer Kriegsgarnison belegen lassen. Neben der Stadthalle und mehreren Schul- und Wohngebäuden wird auch das Schloss zur Kaserne. Bis am 21. Februar 1919 die zum Abzug befohlenen Soldaten ihre Strohsäcke verbrennen und dabei den »Bal champêtre« in Brand setzen. Das Feuer greift auf das Schloss und angrenzende Holzgebäude über, übrig bleibt nur ein Schutthaufen mit einer Ruine. »Eine rote Fahne, die auf dem Dache flatterte, blieb unversehrt«, berichtet das »Berliner Tageblatt« am Tage danach. In den nun folgenden Jahrzehnten bleibt der Name Schloss Weißensee für ein Restaurant, später ein Kino und bis 1938 auch für die Endstation mehrerer Straßenbahnlinien erhalten, bis 1946 das »Volkshaus Weißensee« zum Nachfolger wird. Die Brauerei ist schon seit den Zwanzigern zur Wurstfabrik geworden, bald wird auch sie geschlossen. Vom Volkshaus bleibt nur das Restaurant, das Kino auf dem Umweg über eine Boxarena dann zur Ausstellungshalle und zuletzt zum Freizeithaus für Kinder. Der Tanzpavillon, in dem während des Krieges Zwangsarbeiter der Firma Siemens untergebracht waren, erlebte noch nach 1945 eine Renaissance, wurde dann jedoch, alt geworden, abgerissen. Sterneckers Brauerei steht seit Jahren als leeres Gehäuse auf der Liste der Industriedenkmale, Ballsaal und Restaurant nebenan führen ein mehr tristes denn aktives Leben als Kulturhaus »Peter Edel« und als Bürgerbüro, alle anderen Gebäude sind Geschichte. Nur wer sich etwas auskennt in Weißensee, weiß noch, dass die große hochgelegene Fläche am See einst die Terrasse des Schlosses war. Die Badeanstalt steht heute am gleichen Ort wie die Sterneckers, und Ruderboote kann man wie damals unterhalb der Terrasse ausleihen. Der Name Sternecker ist vergessen, die Stelle, an der das Schloss stand, muss den Nachfragenden immer erneut beschrieben werden.

Literatur:
-     Walter Püschel, Spaziergänge in Weißensee (Berlinische Reminiszenzen No. 67), Berlin 1993
-     Lothar Uebel, Die Neue Welt in der Hasenheide: Über hundert Jahre Vergnügen und Politik Berlin 1994
-     Alles nach Weissensee zum Sternecker - Vergnügungsstätten in Weissensee, Berlin 1997

Bildquelle: Archiv Autor, Alexander Dunker, Die ländlichen Wohnsitze ..., Berlin 1881

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/2001
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