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Dieter Hanauske
Wohnungspolitik im Kalten Krieg

Zum Wohnungsbau in Ost- und West-Berlin 1949-1961

Nach einem nicht ganz unbekannten Theoretiker des Sozialismus ist es »nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt«.1) Was hierbei unter dem Vorgang des »Bestimmens« auch genau zu verstehen sein mag, eines ist offenkundig: Die materiellen Verhältnisse, unter denen Menschen leben, haben in jeder Gesellschaftsordnung prägende Auswirkungen auf ihr Denken, ihre Auffassungen und damit insbesondere auch auf ihre Einstellung gegenüber dem jeweiligen politischen System.
     Von grundlegender Bedeutung für die Lebensqualität der Gesellschaftsmitglieder sind ihre Wohnverhältnisse. Die Wohnung hat als Aufenthalts-, Schutz- und Ruheort einen zentralen Stellenwert für die Bewohner. Wohnungsfragen und Wohnungspolitik sind daher auch von großer allgemeinpolitischer Relevanz. Wohnzufriedenheit kann die Loyalität zu einem sozialökonomischen und politischen System stärken, Unzufriedenheit mit Wohnung und Wohnumgebung kann destabilisierend, letztlich sogar systemgefährdend wirken.

Diese grundsätzlichen Zusammenhänge waren den Parteien und Politikern in dem seit Ende 1948 verwaltungsmäßig und politisch gespaltenen Berlin sehr wohl bewusst, und zwar beiderseits der Sektorengrenze. Angesichts der kriegsbedingten enormen Wohnungsnot wurde daher dem Wohnungsbau als entscheidendem Mittel zur Verbesserung der Wohnverhältnisse im Ost- und Westteil der Stadt große Bedeutung beigemessen. An der Nahtstelle der zwei großen weltpolitischen Blöcke stellte die Wohnungspolitik eines der inneren Hauptfelder der Systemkonkurrenz dar. Der Wohnungsbau wurde auf beiden Seiten zu einer wichtigen Waffe im Kalten Krieg. »Wer die Frage des Wohnungsbaus nicht löst, wird mit dem Kommunismus nicht fertig.« So verkündete es 1952 Paul Lücke (1914-1976), Bundeswohnungsbau- Minister von 1957-1965 und einer der wichtigsten westdeutschen CDU- Wohnungspolitiker der Nachkriegszeit, bei einem Besuch in West-Berlin.2)
     Ebenfalls zu Beginn der fünfziger Jahre betonte der Westberliner Bausenator, der FDP- Politiker Karl Mahler, die Gefahr politischer Auswirkungen, die sich vor allem auch aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung infolge der Wohnungsnot ergeben könne: Durch die entstandene große Arbeitslosigkeit und »die Zusammenpferchung vieler Menschen in einer Wohnung« sei »ein guter Nährboden für Einflüsterungen des Ostens gegeben [...], mit dem unbedingt gerechnet werden muss«.3)
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Einige Jahre später wies der FDP- Abgeordnete Volker Hucklenbroich (geb. 1925) im Abgeordnetenhaus auf das brisante »Politikum« der Wohnungsprobleme hin: »Sie werden in Versammlungen und in Gesprächen mit den Berlinern häufig erleben, dass die Fragen der Wohnung, der vier Wände, in denen man endlich allein sein will, viel wichtiger sind als die uns bewegenden großen politischen Probleme.«4)


Statistik der Mengen an Trümmerschutt 1949 in Kreuzberg

Von Ostberliner Seite wurde argumentiert, dass die Anarchie des kapitalistischen Systems im Westen jede sinnvolle städtebauliche Lösung verhindere, während in der DDR komplex geplant und gebaut werden könne, so Richard Paulick (1903-1979), Vizepräsident der Bauakademie, Ende 1955.5) Nach der propagandistisch verlautbarten Auffassung der SED war das Wohnungselend in West-Berlin eine Folge der Politik des Senats bzw. der »Kriegspolitik Adenauers«. 1958 bezeichnete es die Berliner Parteiorganisation der SED als ihre Hauptaufgabe, die Überlegenheit Ost-Berlins als Hauptstadt der DDR gegenüber »dem kapitalistischen West-Berlin auf allen Gebieten in kürzester Frist zu beweisen«.6)
     Das »bauliche Geschehen« war auch in der Sicht des SPD- Politikers Rolf Schwedler (1914-1981), Bausenator im westlichen Teil der Stadt von 1955 bis 1972, »ein wichtiger Faktor im politischen Kampf Berlins«.7) Und Bürgermeister Franz Amrehn (1912-1981, CDU) sah kurz vor dem Mauerbau den »politische[n] Sinn des Wiederaufbaus im westlichen Berlin darin, dass es unmöglich geworden ist, diese pulsierende Stadt von den Wurzeln ihrer Lebenskraft in der freien Welt abzusperren und ihr den Charakter des felsenfesten Leuchtturms unbeirrbarer Hoffnung für alle Zonenbewohner zu nehmen«.
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Berlin zeige, so sekundierte ihm Innensenator Joachim Lipschitz (1918-1961, SPD), »dass der Westen auch unter ungünstigen Bedingungen im ökonomischen Wettbewerb mit dem Ostblock überlegen ist. Jede neue Wohnung, jede neue Straße, jede neue Brücke, die hier gebaut werden, sind zugleich ein politischer Vertrauensbeweis für die Zukunft Berlins.«8) Ob West-Berlin im »ökonomischen Wettbewerb« auf dem Gebiet des Wohnungsbaus dem Ostteil der Stadt in der Phase von 1949-1961 tatsächlich überlegen war, soll im Folgenden untersucht werden.
     Zunächst einmal ist aber festzuhalten, dass die Kriegszerstörungen beide Teile Berlins in etwa gleichem Maße getroffen hatten. Insgesamt waren den Bombenangriffen und dem Endkampf um die Stadt rund 2 225 000 Wohnräume (= 43 Prozent) zum Opfer gefallen. Etwa 556 500 Wohnungen waren total zerstört oder im Ganzen unbewohnbar geworden. Das entsprach 35 Prozent aller Wohnungen in ganz Berlin, wobei die prozentualen Verluste im Westteil der Stadt geringfügig höher waren als im sowjetischen Sektor. Von den nach Kriegsende noch »benutzbaren« reichlich eine Million Wohnungen wurden 386 000 als »leicht« beschädigt eingestuft (fehlende Fenster oder Türen, beschädigte Dächer), und ca. 260 000 galten als mittelstark bis schwer beschädigt. Selbst die »benutzbaren« Wohnungen waren also zu fast zwei Dritteln mehr oder weniger stark beschädigt.
Dennoch war die quantitative Wohnungsversorgung in Groß-Berlin, gemessen an der Zahl der noch vorhandenen Wohnungen im Verhältnis zur Bevölkerung, deutlich besser als in den meisten anderen deutschen Großstädten. Sie war dann in West-Berlin auch wesentlich günstiger als im Durchschnitt des Bundesgebiets, in Ost-Berlin weit besser als in allen DDR- Bezirken. Die Statistik lässt ferner erkennen, dass innerhalb Berlins die östlichen Stadtteile traditionell ungünstigere Wohnverhältnisse aufwiesen: Während im Ostteil im Jahr 1949 erst 60 Prozent der Wohnungen eine Innentoilette, lediglich 30 Prozent ein Bad oder eine Dusche und noch 95 Prozent eine Ofenheizung aufwiesen, waren 1950 bereits 70 Prozent der Westberliner Wohnungen mit einer Innentoilette, 50 Prozent mit Bad oder Dusche und etwa 17 Prozent mit einer modernen Heizung ausgestattet.
     Nach der Spaltung der Gesamtberliner Stadtverwaltung war West-Berlin baupolitisch bis 1952 in der Defensive. Während der sowjetischen Blockade kam hier die Wohnungsbau- Tätigkeit wegen fehlender Baustoffe weitgehend zum Erliegen, und nach Beendigung der Blockademaßnahmen im Mai 1949 geriet die West-Teilstadt in eine außerordentlich tiefe Wirtschaftskrise, die mit einer extrem hohen Arbeitslosenquote (1950/51: ca. 30 Prozent) und einem enormen Defizit des öffentlichen Haushalts verbunden war und auch die Bauwirtschaft erfasste.
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Das Gebiet um den Waldeckpark in Kreuzberg,
oben: vor 1945,
unten: Plan der neuen Bebauung
Über »die wirtschaftliche Depression im Baugewerbe« zeigte sich der West- Magistrat Mitte 1949 (intern) sehr beunruhigt: »Politisch gibt diese Entwicklung der Bauwirtschaft angesichts der exponierten Stellung der Stadt zu schweren Besorgnissen Anlass. Die kommunistische Presse bemüht sich mit ihren Hinweisen auf die angebliche Hochkonjunktur der ostsektoralen Bautätigkeit täglich erneut, aus den Schwierigkeiten der Bauwirtschaft in den Westsektoren politisches Kapital zu schlagen. Das ist ihr umso leichter möglich, als heute bereits Tausende von Bauarbeitern, die ihren Wohnsitz in den Westsektoren haben, im Ostsektor arbeiten und täglich Inserate der Ostpresse weitere Kräfte anwerben.«9)
     Die wohnungspolitische Ausgangslage West-Berlins war 1949 schlichtweg katastrophal. Die ohnehin vorhandene Wohnungsnot verschärfte sich noch durch die Zunahme der Bevölkerung, die sich als Folge der Abwanderung zahlreicher Menschen aus der DDR und Ost-Berlin ergab. Öffentliche Mittel für den Wohnungsbau - von privatem Kapital ganz zu schweigen - waren kaum verfügbar; amerikanische Finanzhilfen im Rahmen des Marshallplans setzten erst 1950 ein.
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Auf der anderen Seite gab es im Ostteil der Stadt praktisch keine Arbeitslosigkeit im Baugewerbe, und hier wurde schon früh und mit hohem Bautempo das psychologisch wichtige Großvorhaben der Bebauung der Stalinallee in Angriff genommen (als bedeutendstes Projekt des »Nationalen Aufbauprogramms Berlin 1952«, das dann zum »Nationalen Aufbauwerk« erweitert wurde).
     Die Situation einer mehr oder weniger improvisatorischen Finanzierung und unzureichenden Bautätigkeit in West-Berlin konnte erst mit dem 1952 einsetzenden

Der Teptower Wohnkomplex Johannisthal- Süd, Baubeginn 1958
»sozialen Wohnungsbau« überwunden werden. Seit diesem Jahr war die westliche Teilstadt endgültig in das Rechts- und Finanzsystem der Bundesrepublik eingegliedert. Damit galt hier auch das Erste Wohnungsbau- Gesetz von 1950, das - später zusammen mit dem Zweiten Wohnungsbau- Gesetz (1956) - die Rechtsgrundlage für den sozialen Wohnungsbau bildete. Diese Art des in West-Berlin dominierenden, öffentlich geförderten Wohnungsbaus wurde von konservativer bzw. wirtschaftsliberaler Seite in Verkennung seines wirklichen Charakters als »eine quasi- staatswirtschaftliche Betätigung erster Ordnung«, ja geradezu als »Sozialisierung« angesehen, die »eine neue soziale Landschaft« schaffe, eine »Gesellschaft der klassenlosen Mitte«.10) Tatsächlich wurde der soziale Wohnungsbau prinzipiell privatwirtschaftlich durchgeführt, von gemeinnützigen und privaten Wohnungsunternehmen und privaten Einzelbauherren. Der Staat nahm hierbei über die Vergabe der zins- und tilgungsgünstigen öffentlichen Förderungsmittel und durch die Festlegung bestimmter Bindungen hinsichtlich Miethöhe, einzugsberechtigtem Personenkreis und Wohnungsgestaltung allerdings Steuerungsfunktionen wahr. Es handelte sich nicht um staatlichen, sondern um öffentlich gebundenen Wohnungsbau, wobei mit der vollständigen Rückzahlung der öffentlichen Mittel durch die Bauherren grundsätzlich auch die Bindungen für die Sozialwohnungen entfielen.
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Das Wohngebiet Charlottenburg- Nord im Jahre 1960
Auch die Otto-Suhr- Siedlung, von 1956-1961 in der ehemaligen Luisenstadt im Bezirk Kreuzberg direkt an der Grenze errichtet, sollte mit ihren über 1 200 neuen Wohnungen die Absicht des Senats demonstrieren, zu den Menschen in Ost-Berlin »hin« zu bauen. Ferner wurden die ersten baulichen Sanierungsbemühungen im Mietskasernenbezirk Wedding damit begründet, dass die dortigen Wohnungsmissstände »Gefahren für den sozialen Frieden« darstellten, »insbesondere im Blickwinkel des aggressiven Bolschewismus in Berlin«.11) Auch in Ost-Berlin lagen einige Wohnungsbau- Standorte, wie zum
Der soziale Wohnungsbau in West-Berlin wurde von 1952-1961 zu etwa 58 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert, die wiederum überwiegend aus Bundesmitteln stammten.
     Als augenfällige Beispiele in der baulichen Ost-West- Konkurrenz sollten Wohnbauten unmittelbar an der Sektorengrenze dienen. Als eine erste Westberliner »Antwort« auf die Bebauung der Stalinallee kann, noch vor der Interbau 1957, die Errichtung der Ernst-Reuter- Siedlung in den Jahren 1953-1955 an der Sektorengrenze im Bezirk Wedding angesehen werden, die in einigen Zeilenbauten und einem 15- geschossigen Punkthochhaus mehr als 400 Sozialwohnungen umfasste.
Beispiel die Heinrich-Heine- Siedlung (Neanderviertel) im Bezirk Mitte, unmittelbar an der Sektorengrenze.
     Die Westberliner Wohnsiedlungen der fünfziger Jahre entsprachen in ihrer städtebaulichen Gestaltung der damals im Westen vorherrschenden Grundvorstellung der »organisch gegliederten und aufgelockerten«, gleichzeitig »autogerechten« Stadt. Typisch für die Architektur waren Zeilenbauten und einzelne Wohnhochhäuser als optische Dominanten. Die als städtebauliche »Nachbarschaften« geplanten Siedlungen umfassten im Allgemeinen nicht mehr als 2 000 Wohneinheiten.
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Außer der bereits erwähnten Ernst-Reuter- Siedlung und der Otto-Suhr- Siedlung entstanden in den westlichen Innenbezirken noch das Bauvorhaben »Neues Wohnen am Blücherplatz« und das »Springprojekt« in Kreuzberg, die Siedlung »Schillerhöhe« im Wedding, Charlottenburg- Nord (westlicher Teil) und das wiederaufgebaute Bayerische Viertel in Schöneberg. In den Außenbezirken wurden bis 1961 außerdem die folgenden
Zeilenbauten in der Otto-Suhr- Siedlung
Wohnsiedlungen errichtet: Die DEGEWO- Siedlung an der Havensteinstraße in Lankwitz, Britz- Süd, die GAGFAH- Wohnanlage an der Ziekowstraße in Tegel, Tegel- Süd, die Georg-Ramin- Siedlung in Spandau, Zehlendorf- Süd und die »Nachbarschaft Mariendorf« der GEHAG.
     Der Aufbau des stark zerstörten Hansaviertels am Rande des Tiergartens erfolgte mit locker gestreuten Einzelgebäuden international renommierter Architekten im Rahmen der »Internationalen Bauausstellung Berlin 1957« (Interbau). Das ganze Vorhaben war bewusst als Reaktion und westliche »Antwort« auf die monumental wirkende Ostberliner Stalinallee geplant. Genau wie diese
erhielt es daher den Charakter eines aufwändigen Prestigeprojekts. Über beide Großvorhaben entbrannte eine scharfe wechselseitige bauideologische Polemik, obwohl sie untypisch waren für den Gesamt- Wohnungsbau im jeweiligen Teil Berlins. Das Hansaviertel und die sonstigen Bauwerke der Interbau, insbesondere das Corbusier- Hochhaus nahe dem Olympiastadion und die Kongresshalle am Tiergarten, bildeten Höhepunkte der in West-Berlin durchgeführten städtebaulichen Rundfahrten. An diesen Fahrten nahmen bis Mitte 1957 etwa 136 000 Interessenten teil, von denen bei noch durchlässigen Grenzen nicht weniger als 61 000 Besucher aus Ost-Berlin und der DDR kamen.12)
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Dem Wohnungsbau als volkswirtschaftlicher Branche wurde in den beiden politischen Lagern ein sehr unterschiedlicher Stellenwert eingeräumt. Im Westen sah man ihn als »Schlüsselgewerbe« an, von dem Anreize auf andere Wirtschaftsbereiche und sekundäre Beschäftigungswirkungen ausgingen. Oberbürgermeister Ernst Reuter (1889-1953) bezeichnete ihn schon im Herbst 1949 als »das am besten geeignete Instrument, mit dem die Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden kann«.13) In der DDR gab man dagegen zunächst dem industriellen, besonders dem schwerindustriellen Aufbau die absolute volkswirtschaftliche Priorität, was unter anderem eine nachrangige Berücksichtigung des Wohnungsbaus bedeutete.14) Der Mangel an Baustoffen und Baumaschinen war zudem bis Mitte der fünfziger Jahre durch das Fehlen bzw. die Kriegszerstörungen der entsprechenden Industrien auf dem Gebiet der DDR bedingt, ferner durch sowjetische Demontagen und den Export von knappen Baustoffen in die Sowjetunion. Vor diesem Hintergrund war es kein Wunder, dass die vorhandene Baukapazität in West-Berlin zu rund 45 Prozent für Wohnungsbau- Zwecke genutzt wurde, in Ost-Berlin dagegen nur zu etwa 20 bis 25 Prozent.
     Mitte der fünfziger Jahre kam es in der DDR und in Ost-Berlin zu einem radikalen bautechnischen und damit auch zu einem
architektonischen Systemwechsel. War seit 1950 in Anlehnung an das Bauen in der Sowjetunion ein Wohnungs- und Städtebau in architektonischer Orientierung an der nationalen deutschen Tradition, in Ost-Berlin insbesondere am Klassizismus, propagiert und praktiziert worden, so wurde dieser mit umfangreicher Fassadenornamentik verbundene Baustil jetzt als »Zuckerbäckerstil« kritisiert. Der sowjetische Kurswechsel nach Stalins Tod (1953) hin zu möglichst rationeller und kostengünstiger Typenprojektierung und -produktion wurde in der DDR mit nur geringer zeitlicher Verzögerung nachvollzogen. Bis in die erste Hälfte der sechziger Jahre verdrängten verschiedene industrielle Montagebauweisen großenteils den bisherigen traditionellen Mauerwerksbau (Ziegelbauweise). Die Großblockbauweise - »ein Fertigteilmontagebau aus Großblöcken, welcher hinterher verputzt wurde, dadurch keine Fugen aufwies und so von außen nicht als Montagebau erkennbar war« - kam in Ost-Berlin seit 1956 zur Anwendung. Der parallel entwickelte Großplattenbau wurde wegen der begrenzten Leistungsfähigkeit der zur Verfügung stehenden Hebezeuge erst seit 1959 eingesetzt, wobei unter dieser Bauweise »die Herstellung in liegender Vorfertigung von raumbreiten und raumhohen, maßgenauen und oberflächenfertigen Bauelementen« zu verstehen war.
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Vom Platz und Raum gestaltenden Städtebau in der nationalarchitektonischen Phase ging man seit Ende der fünfziger Jahre wieder zur Zeilenbauweise über. Dies brachten die bautechnisch sehr unflexiblen Montagebauweisen mit sich, wie sie überhaupt starre städtebauliche Gestaltungen im Gefolge hatten: »Der für die Montage der Fertigteilelemente entwickelte Turmdrehkran >Baumeister< konnte ebenso wenig die Montage von Ecksektionen wie die Montage rechtwinklig zueinander stehender
Plan der ersten Wohnzelle Friedrichshain, Zeichnung von 1950
Wohnblöcke ausführen. So war schon auf Grund der Fertigungsmethode nur noch Zeilenbebauung mit produktionstechnisch effektiven Gebäudeabständen von 40 m möglich. [...] Ein geschlossener Raumeindruck ging damit verloren. Die Hauslänge wurde durch die maximal zulässige Distanz der Hauseingänge von befahrbaren Verkehrsflächen bestimmt, welche 80 m betrug. Ebenso auf Grund der Fertigung kam es zu einer städtebaulichen Trennung von Wohngebäuden und gesellschaftlichen Einrichtungen. All dies führte zu sehr starren Lösungen.«15)
     In Ost-Berlin wurden im Jahr 1960 bereits etwa 70 Prozent aller neugebauten Wohnungen im industriellen Montagebau errichtet. Im Westteil der Stadt spielten Großtafel- oder sonstiger Montagebau in den fünfziger Jahren überhaupt noch keine Rolle. Es hat hier auch keine Entsprechung zur Architektur der »nationalen Tradition« wie in der ersten Hälfte des Jahrzehnts in der DDR gegeben. Baustilistisch war und blieb man hier bruchlos »modern«.
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Allerdings stellt das Gros der Westberliner Wohnungsneubauten der fünfziger Jahre lediglich eine Art verschlichteten architektonischen Bauhaus- Modernismus dar. Dies ergab sich fast zwangsläufig aus der Finanzmittelknappheit und den einschränkenden Vorschriften der staatlichen Wohnungsbau- Förderungsbestimmungen des sozialen Wohnungsbaus.
     Das architektonisch und politisch herausragende Ostberliner Wohnungsbau- Projekt war die bereits erwähnte Bebauung der Stalinallee im Bezirk Friedrichshain. Nachdem 1949/50 aus der frühen Nachkriegsplanung für eine »Wohnzelle Friedrichshain« einige Laubenganghäuser und Zeilenbauten südlich der Allee noch im Stil der baulichen Moderne errichtet worden waren, erfolgte die eigentliche Großbebauung beiderseits der Magistrale ab 1951 in der von der SED seit dem Vorjahr verordneten national- traditionalistischen Formensprache. Diese »erste sozialistische Straße« auf deutschem Boden sollte das Vorbild abgeben für den Aufbau in den Städten der DDR. In zwei Bauabschnitten entstanden in fünfbis zehngeschossigen Mauerwerksbauten 5 057 Wohnungen im Bereich zwischen Strausberger Platz und Frankfurter Tor (1951-1957) und weiter 1469 Wohneinheiten zwischen Frankfurter Tor und Proskauer Straße (1955-1958). Die Wohnungen waren für damalige Verhältnisse relativ groß und sehr gut
ausgestattet (Balkon, Erker oder Loggia; Zentralheizung; Fahrstuhl; Müllschlucker; geflieste Bäder; Gegensprechanlagen).
     Die weiteren Ostberliner Wohnungsbau- Projekte hatten im Allgemeinen eine Größenordnung von etwa 500 bis 1 800 Wohneinheiten und waren bei der räumlichen Gestaltung zunächst beeinflusst vom Vorbild der Stalinallee. Sie wurden ebenfalls in traditioneller Bautechnik und in Anpassung an die vorhandenen städtebaulichen Strukturen realisiert. Das galt zum Beispiel für die »Grüne Stadt« an der Arthur-Becker- Straße (1951-1953) und das Wohngebiet am Arnswalder Platz (1954-1958) im Bezirk Prenzlauer Berg sowie die Bebauung an der Weitlingstraße in Lichtenberg. Nach der Einführung der Großblockbauweise »mussten die Bebauungsgebiete aus größeren zusammenhängenden möglichst unbebauten Flächen bestehen«. Diese Wohngebiete waren gegenüber den früheren Projekten »weniger repräsentativ und städtebaulich markant«.16) Sie entstanden unter anderem am Schmollerplatz (1957-1961) und am S-Bahnhof Plänterwald (1958-1960) in Treptow, am Arndtplatz (1957-1959) in Adlershof, an der Firlstraße (1959/60) und Gehsener Straße (1959/60) in Köpenick, an der Rüdigerstraße (1959/60) in Lichtenberg und im Heinrich-Heine- Viertel (1959-1961) im Bezirk Mitte. Die ersten Großplattenbauten wurden seit 1959 an der Prenzlauer Allee errichtet.
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Eine Sonderstellung nahm wiederum die Stalinallee bzw. (ab 1961) Karl-Marx- Allee ein, deren westlicher Teil zwischen Alexanderplatz und Strausberger Platz von 1959-1965 ebenfalls in Großplattenbauweise bebaut wurde (ca. 4 700 Wohneinheiten). Dieser neue Teil der Allee mit seinen fünf-, acht- und zehngeschossigen Wohngebäuden in offener industrieller Zeilenbebauung steht in einem eklatanten städtebaulichen Gegensatz zur Raum bildenden älteren Bebauung östlich des Strausberger Platzes. In ein und derselben Ostberliner Straße haben somit zwei völlig unterschiedliche Phasen der DDR- Baupolitik ihre großmaßstäbliche Verkörperung gefunden.
     Es sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass die grundlegende baupolitische Entwicklung einschließlich des Wohnungsbaus im Ostteil Berlins nicht etwa vom dortigen Magistrat oder der Stadtverordnetenversammlung (bzw. ihrer Vorläufer- Institution, der seit 1953 existierenden »Volksvertretung Groß-Berlin«) bestimmt wurde, sondern von den Vorgaben der SED als der herrschenden Partei und insbesondere auch persönlich von ihrem führenden Politiker Walter Ulbricht (1893-1973). Die Westberliner Wohnungsbau- Politik lag dagegen - im Rahmen des bundesdeutschen Wohnungsbaurechts - in den Händen von Senat und Abgeordnetenhaus, die ihrerseits allerdings von der finanziellen Unterstützung des Bundes, anfangs auch von der amerikanischen Marshallplan- Hilfe abhängig waren.
     Im Rahmen der Gesamtpolitik und der Prioritäten der SED musste Ost-Berlin trotz des »Vorzeigeprojekts Stalinallee« zunächst
insgesamt eine deutliche bauwirtschaftliche Benachteiligung hinnehmen. So wurden die Ostberliner Baubetriebe in großem Umfang beim industriellen Aufbau in den Ländern bzw. Bezirken der DDR eingesetzt, wobei dies auf der anderen Seite einherging »mit einer weitgehenden Vernachlässigung des Industriestandortes Berlin«.17) Nachteilig entwickelte sich auch das Grenzgängerverhältnis: Hatten 1949 zahlreiche in West-Berlin wohnende Bauarbeiter im Ostsektor Arbeit gefunden, so befanden sich zum Zeitpunkt des Mauerbaus unter den jetzt rund 60 000 Ost-West- Grenzgängern etwa 5 300 bis 6 300 Ostberliner, die im Westberliner Baugewerbe beschäftigt waren. Das entsprach einem Anteil von ca. 8,5 Prozent. Ost-Berlin fungierte zwar als Hauptstadt der DDR, wurde aber hinsichtlich seiner Finanz- und Wirtschaftskraft in den ersten Jahren vernachlässigt. Ab 1953 offiziell in die Haushaltswirtschaft der DDR eingegliedert, war die Teilstadt im Verhältnis zum DDR-Staat finanziell bis 1956 eine »gebende Gebietskörperschaft«. Ab 1957 erhielt sie dann aber Jahr für Jahr erhebliche Zuwendungen aus dem Staatshaushalt. Dies geschah vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der Ost-West- Konkurrenz und der - mittlerweile bereits als Aufholstrategie zu bezeichnenden - Strategie bzw. Zielsetzung der SED- Führung, »die allseitige Überlegenheit der sozialistischen Ordnung über das kapitalistische System unter den komplizierten Bedingungen der gespaltenen Stadt für alle Menschen deutlich sichtbar« zu machen (so der V. Parteitag der SED im Jahr 1958).
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Die staatlichen Finanzzuwendungen machten von 1957 bis zum Beginn der sechziger Jahre etwa 30 bis 40 Prozent des Ostberliner Haushalts aus. In West-Berlin, das zwar zu einer bloßen »Hauptstadt im Wartestand« geworden war, gleichzeitig aber bei noch nicht abgeriegelter Grenze die Funktion eines »Schaufensters des Westens« wahrnehmen konnte, wurden die Landeshaushalte in den fünfziger Jahren etwa zur Hälfte durch Bundesmittel aufgebracht.
     Abschließend sollen die wichtigsten Ergebnisse der Wohnungsbau- Tätigkeit, wie sie unter den skizzierten Bedingungen in beiden Teilen Berlins während des Untersuchungszeitraums zustande kamen, mit Hilfe zentraler statistischer Kennziffern näher beleuchtet werden.
     Die Gesamtzahl der von 1949-1961 fertiggestellten Wohnungen betrug, wie sich aus der beigefügten Tabelle ersehen lässt, in Ost-Berlin etwa 76 000 und in West-Berlin rund 207 000. Damit entfielen ca. 73 Prozent der in dieser Phase in der Gesamtstadt erstellten Wohneinheiten auf West-Berlin (bei einem von knapp 64 Prozent 1949 auf reichlich 67 Prozent im Jahr 1961 anwachsenden Bevölkerungsanteil). Dass der Wohnungsbau im Verhältnis zur Bevölkerungszahl in den Westsektoren umfangreicher war als im Ostsektor, kann man auch an den Fertigstellungsziffern je 10 000 Einwohnern ablesen, die mit der Überwindung der
Bauwirtschaftskrise im Zuge des anlaufenden sozialen Wohnungsbaus seit 1952/53 für West-Berlin in den meisten Jahren sehr viel höher lagen als für Ost-Berlin.
     Seit Ende der fünfziger Jahre verringerte sich allerdings dieser Abstand - 1960 übertraf die Fertigstellungsziffer für Ost-Berlin sogar die Westziffer -, weil die Ostberliner Wohnungsproduktion mit der Einführung der Montagebauweisen jetzt kräftig ausgedehnt wurde.
     Bei den in West-Berlin errichteten Wohnungen handelte es sich zu etwa 90 Prozent um Sozialwohnungen und zu über 90 Prozent um Mietwohnungen. Nur knapp die Hälfte entstand in reinen Neubauten, 46 Prozent im Wiederaufbau und 7 Prozent als Instandsetzungsmaßnahmen. Es wurden jährlich etwa die Hälfte bis zwei Drittel aller Westberliner Wohnungen von privaten Bauherren erstellt, wobei innerhalb dieser Bauherrengruppe der Anteil privater Haushalte gegenüber demjenigen freier Wohnungsunternehmen und sonstiger Unternehmen um etwa das Dreifache überwog. Die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen errichteten von 1950 bis 1961 insgesamt 39 Prozent der Wohnungen in West-Berlin. Auf die Gruppe der Wohnungsbau- Genossenschaften entfiel dabei nur ein knappes Fünftel dieser »gemeinnützigen Wohnungen«. Öffentliche Bauherren hatten hier keine nennenswerte Bedeutung.18)
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Die Wohnungsproduktion in Berlin 1945-1961
1 Neugebaute und instand gesetzte Wohnungen
2 Durch Neubau, Wiederaufbau und Baumaßnahmen an bestehenden Gebäuden fertiggestellte Wohnungen
3 Bezogen auf die jahresdurchschnittliche Bevölkerungszahl
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Das war im Ostteil der Stadt ganz anders, wo von 1949-1961 rund 53 Prozent der Wohnungen im so genannten volkseigenen, das heißt staatlich organisierten Wohnungsbau erstellt wurden. Etwa 25 Prozent entstanden im genossenschaftlichen Wohnungsbau und der Rest im sonstigen Wohnungsbau, wozu unter anderem der individuelle Eigenheimbau in Stadtrandbereichen gehörte. Der genossenschaftliche Wohnungsbau spielte in Ost-Berlin in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre noch keine Rolle. Seit 1954 wurden dann aber zahlreiche Arbeiter- Wohnungsbau- Genossenschaften (AWG) gegründet, die an Betriebe, staatliche Organisationen oder sonstige größere Institutionen wie zum Beispiel Hochschulen gebunden waren und daher gewissermaßen eine »modifizierte Art des Werkswohnungsbaus unter staatssozialistischen Vorzeichen« durchführten.19) Diese Genossenschaften, die in den fünfziger Jahren noch vergleichsweise eigenständig handeln konnten, nahmen eher kleinere Bauvorhaben in traditioneller Mauerwerksbauweise in Angriff und erreichten damit von der Mitte der fünfziger Jahre bis zum Jahr des Mauerbaus einen Anteil von immerhin einem Drittel am gesamten Ostberliner Wohnungsbau.
     Was die Größe der Wohnungen anging, so wurden in Ost-Berlin ganz überwiegend solche mit zwei und zweieinhalb Zimmern gebaut. Im Westteil der Stadt ging das Angebot stärker in die Breite:
Einzimmerwohnungen machten bis zu 30 Prozent und Dreizimmerwohnungen bis über ein Drittel der jeweiligen jährlichen Wohnungsproduktion aus. Während die durchschnittliche Wohnfläche der fertiggestellten Westberliner Wohnungen von unter 50 Quadratmetern zu Beginn der fünfziger Jahre kontinuierlich bis auf 57 Quadratmeter (1961) anstieg, ging sie in Ost-Berlin bei den Neubauwohnungen des volkseigenen Wohnungsbaus von 58 Quadratmetern (1955) auf 49 Quadratmeter (1961) zurück und im genossenschaftlichen Wohnungsbau von 66 Quadratmetern (1956) auf 53 Quadratmeter (1961).
     Als Ergebnis der umfangreichen Wohnungsbau- Tätigkeit erhöhte sich der Westberliner Wohnungsbestand um 214 000 Normalwohnungen, von 645 000 (1950) auf 859 000 Normalwohnungen (1961); gleichzeitig verringerte sich die Zahl bloßer Not- und Behelfswohnungen von knapp 60 000 auf reichlich 40 000. In Ost-Berlin nahm die Zahl der Wohnungen (in Wohngebäuden) von 380 400 (1949) auf 428 700 (1961) zu, erhöhte sich also um 48 300 Wohnungen, während die Zahl der bloßen »Unterkünfte« von ca. 27 800 auf 14 600 zurückging. Die durchschnittliche Wohnfläche der vorhandenen Wohnungen erhöhte sich in diesem Zeitraum im Ostteil der Stadt von 41,8 auf 53,3 Quadratmeter, im Westteil von 46,5 auf 56,4 Quadratmeter.
     Durch die Erhöhung des Wohnungsbestands verminderte sich der Wohnungsmangel.
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Das Wohnungsdefizit als Differenz zwischen der Zahl aller Haushalte und der Zahl der vorhandenen (Normal-) Wohnungen konnte in West-Berlin von 326 000 (1950) auf 186 000 (1961) gesenkt werden, also um 140 000 Wohnungen oder 43 Prozent des Ausgangsdefizits - und dies bei einer Zunahme von fast 60 000 Haushalten. In Ost-Berlin verringerte sich das Defizit, begünstigt durch rückläufige Bevölkerungs- und Haushaltszahlen, sogar von ca. 150 000 (1950) auf ca. 50 000 Wohnungen im Jahr 1964, also in einer drei Jahre längeren Zeitspanne um ca. 100 000 Wohnungen oder etwa 67 Prozent des ursprünglichen Defizits.
     Als weiteres zentrales Kriterium für die Verbesserung der Wohnverhältnisse sei noch die Entwicklung der Wohndichte angeführt. Sie war im Westen anfangs deutlich höher, glich sich aber bis 1961 fast völlig an die Ostberliner Wohndichte an: Sie verringerte sich 1950 bis 1961 von durchschnittlich 3,33 auf 2,51 Einwohner je (Normal-) Wohnung. In Ost-Berlin ging sie von 3,17 auf 2,48 Einwohner je (Normal-) Wohnung im Zeitraum von 1949 bis 1961 zurück.
     Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Wohnungsproduktion im hier betrachteten Zeitraum in West-Berlin sowohl absolut als auch relativ zur Bevölkerungszahl umfangreicher war als im Ostteil der Stadt - und das, obwohl Ost-Berlin bei der quantitativen Wohnungsbau- Leistung im DDR- Maßstab führend war (was umgekehrt für West-Berlin im Vergleich zum Bundesgebiet nicht galt).
Was die Ausstattung der fertiggestellten Wohnungen angeht, so konnten entsprechende statistische Daten für Ost-Berlin nicht ermittelt werden. Es dürfte hier aber - trotz der Zentralheizungswohnungen in der Stalinallee - ein insgesamt weit größerer Anteil von Ofenheizungswohnungen gebaut worden sein als in West-Berlin.
     Wenn man zusätzlich zu den Wohnungsbau- und Wohndichtezahlen berücksichtigt, dass in den Westsektoren Berlins von 1949 bis 1961 die Wohnungsunterbringung einer um etwa 80 000 Einwohner anwachsenden Bevölkerung bewältigt werden musste, während die Einwohnerzahl im Ostsektor zur gleichen Zeit um etwa 150 000 abnahm, so bedeutet dies für die Westberliner Wohnungsbau- Politik, dass sie in dieser Phase trotz ungünstiger Umstände eindeutig erfolgreicher war als die SED- Wohnungsbau- Politik in Ost-Berlin. Innensenator Lipschitz hatte also offensichtlich auch hinsichtlich des Wohnungsbaus Recht, wenn er den Westen »im ökonomischen Wettbewerb mit dem Ostblock« als überlegen bezeichnete. Die höhere Wohnungsbau- Leistung im Westen kann als ein kleiner Abschnittssieg im großen Kalten Krieg angesehen werden.
     Die Gründe für dieses Ergebnis waren vielfältiger Natur. Eine mit entscheidende Ursache dürfte hierbei in den Mängeln des planwirtschaftlichen Systems zu suchen sein, wie es unter der Herrschaft der SED auch in Ost-Berlin eingeführt worden war.
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   50   Probleme/Projekte/Prozesse Wohnungspolitik  Voriges BlattNächstes Blatt
So hat der Leiter des Aufbaustabes Mitte die »Auswirkungen fehlerhafter Organisation« im Wohnungsbau im Jahr 1957 folgendermaßen beschrieben: »Ständige Sitzungen, >Terminabsprachen< und endlose Telefongespräche zwischen den Bauleitern der Baustäbe und den Produktionsleitungen der Betriebe sind erforderlich. Das Ergebnis ist doch meistens immer dasselbe: Die einen rufen nach Arbeitskräften und die anderen nach Material. In der Praxis wirkt sich das dann so aus: Wo der größte >Druck< auf die Einhaltung der Bautermine ausgeübt wird, werden weitere Brigaden eingesetzt. Diese werden jedoch von anderen Baustellen abgezogen, wo dann die gleichen Schwierigkeiten entstehen.«20)

Quellen und Anmerkungen:
1 So Karl Marx im Vorwort zu seiner Schrift »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« (1859) in: Marx. Engels. Werke, Bd. 13, Berlin [Ost] 1975 (1. Aufl.: 1961), S. 9
2 Wohnungsbau - Sozialproblem Nummer 1, in: Der Tagesspiegel, 29. 4. 1952, S. 4
3 Schreiben Mahlers an den Bundesbevollmächtigten Heinrich Vockel vom 15. 3. 1951, S. 4, in: Landesarchiv Berlin (LAB), E Rep. 200-99 (Nachlass Walter Nicklitz)
4 Stenographischer Bericht der Abgeordnetenhauses von Berlin, 21. 2. 1957, S. 91
5 Berlin. Chronik der Jahre 1955 - 1956 (= Schriftenreihe zur Berliner Zeitgeschichte, Bd. 6), Berlin (West) 1971, S. 347
6 Vgl. D. Hanauske, »Bauen, bauen, bauen ...!« S. 347 u. 351, Anm. 276
7 D. Hanauske, »Bauen, bauen, bauen ...!« ..., S. 350
8 Zehn Jahre Berliner Aufbau 1950 - 1960 (= Berliner Baubuch, Ausg. 10: Jubiläumsausgabe), Berlin [West] o.J. [1961], [unpaginiert]

9 Schreiben des Magistrats von Groß-Berlin an die Alliierte Kommandantur Berlin vom 15. 8. 1949, S. 1, in: LAB, F Rep. 280, Nr. 15393
10Diese Charakterisierungen in: Volkmar Muthesius, »Boom«- Gefahren in der Wohnungswirtschaft, in: Die Zeit, 9. 6. 1955, S. 8; Erich Dombrowski, Das Überbleibsel der Zwangswirtschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 7. 1953, S. 1; Karena Niehoff, Berlin im Umbruch, in: Der Tagesspiegel, 25. 8. 1957, S. 4
11So der Weddinger Bezirksbaustadtrat Walter Nicklitz (SPD) im Jahr 1956; vgl. D. Hanauske, »Bauen, bauen, bauen ...!« S. 474, Anm. 777
12Stenographischer Bericht des Abgeordnetenhauses von Berlin, 6. 6. 1957, S. 337 (Bausenator Schwedler)
13Zit. nach: Schwierige Finanzierung des Wohnungsbaus, in: Der Kurier, 17. 10. 1949, S. 6
14Lothar Bolz, Minister für Aufbau in der DDR, führte hierzu aus: »Der Wohnungsbau erfordert große Mengen verschiedenster Baustoffe, besonders auch Holz und Stahl, die wir bis jetzt noch dringender für den Aufbau unserer Grundstoff- und Schwerindustrie benötigten; er erfordert eine maschinelle Ausrüstung, für deren Herstellung wir erst die notwendige Industrie schaffen mußten; er erfordert nicht zuletzt bedeutende finanzielle Mittel. Trotz solcher großen Schwierigkeiten konnte in unserer Republik nicht die Rede davon sein, den Wohnraummangel durch Notbehelfe wie Nissenhütten, Wohnbunker oder Kleinstwohnungen >zu ,beheben<, in denen zu wohnen nur die Bonner Regierung und der Reuter- Magistrat arbeitenden Menschen zumuten können.« Lothar Bolz, Das Wohnungsbau- Programm der DDR, in: Tägliche Rundschau, Ausg. II, 23.7.1953, S. 1
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   51   Probleme/Projekte/Prozesse Wohnungspolitik  Voriges BlattArtikelanfang
15Ulrike Passe, Stadtentwicklung und Wohnungsbau in Ost-Berlin seit 1945, in: Wohnkultur und Plattenbau. Beispiele aus Berlin und Budapest. Hrsg. von Kerstin Dörhöfer, Berlin 1994, S. 37-39
16C. Lindemann, Der Wohnungsbau ..., S. 107
17G. Peters, Kleine Berliner Baugeschichte ..., S. 196
18Die im Vorigen genannten und die folgenden statistischen Angaben nach diesen Quellenwerken: D. Hanauske, »Bauen, bauen, bauen ...!« passim (insbesondere: Statistischer Anhang); Statistisches Jahrbuch der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik Berlin, Jg. 2 (1962), S. 229, u. Jg. 3 (1963), S. 155 f.; Statistisches Landesamt Berlin, Statistisches Jahrbuch 1992, S. 47 f.; Statistisches Bundesamt, Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 15: Ausgewählte Zahlen der Volks- und Berufszählungen und Gebäude- und Wohnungszählungen 1950 bis 1981, Wiesbaden 1994, S. 73 u. 92; Günter Peters, Gesamtberliner Stadtentwicklung von 1949 bis 1990. Daten und Grafiken (= Beihefte zum Projekt Geschichte des Berliner Mietshauses, Beiheft 3), Berlin 1992, S. 36, 40 f., 54 u. 58 f.
19Bauen, Wohnen, Leben. Das Genossenschaftsforum stellt sich vor, Berlin 1996, S. 8
20Rolf Wahner, Wie »Engpässe« entstehen, in: Neues Deutschland, 14. 9. 1957, S. 6.
Wichtige Literatur zum Thema:

-     Wolfgang Bohleber, Mit Marshallplan und Bundeshilfe. Wohnungsbau- Politik in Berlin 1945 bis 1968, Berlin 1990
-     Johann Friedrich Geist/ Klaus Kürvers, Das Berliner Mietshaus 1945-1989, München 1989
-     Dieter Hanauske, »Bauen, bauen, bauen ...!« Die Wohnungspolitik in Berlin (West) 1945-1961, Berlin 1995
-     Christina Lindemann, Der Wohnungsbau und die Wohnungsbau- Standorte in Berlin seit der industriellen Revolution - eine sozialräumliche Untersuchung - (Gesellschaftswiss. Diss., Humboldt- Universität), Berlin (Ost) 1986
-     Günter Peters, Kleine Berliner Baugeschichte. Von der Stadtgründung bis zur Bundeshauptstadt, Berlin 1995
-     Wohnen in Berlin. 100 Jahre Wohnungsbau in Berlin (Ausstellungskatalog), Berlin 1999

Quellen für Tabelle S. 47:
Spalte 3: Statistisches Jahrbuch der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik Berlin. Jahrgang 2 (1962)
Spalte 6: Dieter Hanauske, »Bauen, bauen, bauen ...!« Die Wohnungspolitik in Berlin (West) 1945-1961, Berlin 1995, S. 1239, Tab. 5, Sp. 2
Spalten 2, 4, 5, 7 und 8: vom Verfasser berechnet

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/2001
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