26   Probleme/Projekte/Prozesse Grenzgänger und Grenzgeschäfte  Nächstes Blatt
Karl-Heinz Arnold
Alltäglicher Gang über den Strich

Von Grenzgängern und Grenzgeschäften

Im Süden des Berliner Bezirks Mitte, an der Friedrichstraße, bildete die Zimmerstraße seit Sommer 1945 die Grenze zwischen sowjetischem und US- Sektor. Im August 1961 wurde dort auf amerikanischer Seite in der Friedrichstraße der Checkpoint Charlie errichtet, Übergang für Ausländer nach dem Bau der Mauer. Direkt auf der Kreuzung Friedrichstraße/ Zimmerstraße markierte damals ein weißer Strich die Grenzlinie zwischen Ost und West. Selbst in den heißesten Zeiten des Kalten Krieges ist diese Linie von beiden Zeiten respektiert worden. Auch am 13. August 1961, als die US-Army mit Panzern ihre Präsenz in Berlin zeigte, wurde der weiße Strich nicht überquert.
     Zu dieser Zeit bestand Berlin bereits seit sechzehn Jahren faktisch aus einem Ostteil mit 1,2 Millionen Einwohnern und einem Westteil mit 2,1 Millionen. Völkerrechtlich war es seit Sommer 1945 eine Vier-Sektoren- Stadt. Sie stand unter der Oberhoheit von Militärbefehlshabern der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs.

Die UdSSR hatte der im Oktober 1949 gegründeten DDR durch konkludentes Verhalten das Recht eingeräumt, »Berlin« zu ihrer Hauptstadt zu erklären, womit nur der ehemalige sowjetische Sektor gemeint sein konnte. Die drei Westmächte haben dies formal nie anerkannt.
     Von 1945 bis zum Bau der Mauer 1961 haben die Einwohner der Stadt - im Gegensatz zu den Panzern der Besatzer - die Grenzen der vier Sektoren ständig überquert. Zum alltäglichen Leben gehörte der Gang über den Strich, jene selten markierte, zumeist nur gedachte Linie, an der West-Berlin endete und Ost-Berlin begann. Sichtbare Kennzeichen für Passanten waren große Schilder auf bestimmten Straßen und Plätzen: Sie verlassen jetzt den ... Sektor. In der U- und S-Bahn war dergleichen nicht zu sehen. Der Einheimische erkannte am Namen der Station, ob er sich noch im Osten oder schon im Westen befand und umgekehrt.
     Je nach Wohnsitz war man »beim Russen« oder »beim Ami«, beim Engländer oder Franzosen. Es gab jedoch zwei wesentliche Faktoren, durch die in Berlin nach 1945 die Einheit der Stadt existent blieb und von den Berlinern wahrgenommen wurde: einheitliche Währung und weitgehend ungehinderter Personenverkehr vor allem im dichten Netz der S- und U-Bahn. Dieser wurde sechzehn Jahre lang aufrecht erhalten, bis ihn die DDR am 13. August 1961 beendete.
BlattanfangNächstes Blatt

   27   Probleme/Projekte/Prozesse Grenzgänger und Grenzgeschäfte  Voriges BlattNächstes Blatt
Polizeiliche Kontrollen vor allem von Ost nach West änderten in dieser Zeit nichts am Prinzip, das von allen Seiten politisch gewollt war, wenn auch zum Teil aus unterschiedlichen Gründen. Den ohnehin eingeschränkten Telefonverkehr zwischen Ost- und West-Berlin hat die DDR bereits im Mai 1952 unterbrochen.
     Die einheitliche Währung - die alte, von der Reichsbank herausgegebene Reichsmark - existierte noch drei Jahre lang. Am 24. Juni 1948 wurde auf Betreiben der US- Regierung sowie deutscher Politiker und Wirtschaftsführer in den drei Westsektoren die Deutsche Mark der Bank deutscher Länder (später Deutsche Bundesbank) eingeführt. Die DM-Noten für West-Berlin bekamen einen runden Stempel mit dem Buchstaben B, wurden daher auch B-Mark genannt. Damit war West-Berlin in die Währungsreform der drei Westzonen Deutschlands einbezogen, wo die D-Mark ab 18.Juli alleiniges Zahlungsmittel geworden war.
     In der sowjetischen Besatzungszone und Ost-Berlin kam daraufhin ebenfalls eine neue Währung in Umlauf: die Deutsche Mark der Deutschen Notenbank. Sie wurde zunächst offiziell ebenfalls als DM ausgewiesen. Aus Zeitmangel - die neuen Scheine konnten nicht rasch genug gedruckt werden - behalf man sich im Osten nach dem 20. Juni zunächst mit einem Aufkleber auf die Reichsmarknoten. Der spitzzüngige Berliner sagte dazu Tapetenmark. Im Sprachgebrauch hießen die neuen Währungen alsbald Westmark und Ostmark.
Auf die Einführung der D-Mark in West-Berlin antwortete die Sowjetunion mit einer Blockade der Verbindungswege von Westdeutschland nach West-Berlin zu Lande und zu Wasser. Daraufhin richteten die USA die Luftbrücke ein, und es begann fast gleichzeitig eine westliche Gegenblockade durch Lieferstopp wichtiger Wirtschaftsgüter aus Westdeutschland für Ostdeutschland. Die Blockade West-Berlins, ein schwerer Fehler der sowjetischen Politik, wurde Mitte Mai 1949 aufgehoben. Während damit die akute Berlin- Krise endete, bewirkte die D-Mark eine dauerhafte Spaltung Berlins in West und Ost.
     Am 20. März 1949 wurde die D-Mark in West-Berlin alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel, die mit B gestempelten Scheine verschwanden. Die Ostmark, alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel in Ost-Berlin und Ostdeutschland, wurde in West-Berlin weiter toleriert. Dort waren also zwei Währungen im Umlauf. Die D-Mark diente für den offiziellen Geldverkehr, die Ostmark war eine Art Nebenwährung, die man privat akzeptieren konnte, aber nicht akzeptieren musste. Sie erwies sich jedoch als nützlich, weil es dafür in Ost-Berlin und im Umland Waren, Dienstleistungen, Fahrkarten für die S-Bahn auch in West-Berlin, Theaterkarten, Restaurantessen und anderes mehr gab. Das war nicht nur zu Zeiten der Luftbrücke interessant, ja lebenswichtig.
BlattanfangNächstes Blatt

   28   Probleme/Projekte/Prozesse Grenzgänger und Grenzgeschäfte  Voriges BlattNächstes Blatt
Die Reaktion der sowjetischen Seite auf die Einführung der D-Mark als alleiniges Zahlungsmittel war moderat. Noch im Juni 1948 war die Einbeziehung West-Berlins in die Währung der Westzonen mit der Blockade beantwortet worden. Nun, rund neun Monate später und noch vor Ende der Blockade, erklärte der amtierende sowjetische Stadtkommandant am 21. März 1949: Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) beabsichtigt nicht, »irgendwelche Maßnahmen durchzuführen, welche die Benutzung der Mark der Deutschen Notenbank durch die Einwohner der Berliner Westsektoren einschränken«.1) Damit war die Zweitwährung für West-Berlin von sowjetischer Seite sanktioniert.
     Die weitreichenden Folgen der D-Mark und der Doppelwährung - die hier nicht annähernd vollständig darzustellen sind - zeigten sich binnen weniger Tage, und zwar über West-Berlin hinaus auch in Ost-Berlin, im Berliner Randgebiet sowie, etwas abgeschwächt, in der gesamten sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Die wichtigste und sichtbarste Folge der D-Mark bestand darin, dass in West-Berlin, ähnlich wie in den drei Westzonen, alsbald eine Fülle von Waren angeboten wurde, die sich nach Aufhebung der Blockade noch vergrößerte. Das hatte seine große Anziehungskraft über West-Berlin hinaus. Diese »Westwaren« wurden zur attraktivsten Auslage im Schaufenster der freien Welt,
wie die Teilstadt von ihren Regierenden und Medien gern genannt wurde. Die andere propagandistische Bezeichnung war Frontstadt, auch von Pfahl im Fleisch (der DDR) wurde gesprochen. Tatsächlich erwies sich die D-Mark in West-Berlin als eine ökonomisch und ideologisch besonders wirksame Waffe des Westens im Kalten Krieg.
     Bedingt durch zwei Währungen vollzogen sich in den Lebensverhältnissen vieler, wahrscheinlich der meisten Berliner einschneidende Veränderungen. Sie waren vor allem durch drei Erscheinungen gekennzeichnet: Wechselstuben, Warentransfer, Grenzgänger.
     Fast sofort nach Einführung der D-Mark entstand ein Geldmarkt in Gestalt von Geldwechslern auf den Straßen und in Form von privaten Wechselstuben. Am 27. Juni 1948 waren auf Veranlassung der westlichen Stadtkommandanten die Bürgermeister in den Westsektoren angewiesen worden, möglichst bald »nichtamtliche Geldumtauschstellen zu lizenzieren«, zum Zwecke des Umtausches von D-Mark gegen das gesetzliche Zahlungsmittel im sowjetischen Sektor, »und zwar auf einer jeweils von den einzelnen Umtauschstellen festzusetzenden Basis«.2)
     Die amtlich zugelassenen privaten Wechselstuben sollten dem Fiskus hohe Steuereinnahmen bringen. Das ist eingetreten. Zugleich sollte den wilden Wechslern das Handwerk gelegt werden.
BlattanfangNächstes Blatt

   29   Probleme/Projekte/Prozesse Grenzgänger und Grenzgeschäfte  Voriges BlattNächstes Blatt
Das ist nicht durchgreifend gelungen. An Grenzstraßen und Verkehrsknoten in West-Berlin standen die Händler wie auf einem Straßenstrich und boten ihre Dienste an: Tausche günstig ...
     Am 2. August 1948 hatte in der Flensburger Straße (britischer Sektor) die Wechselstube Tiergarten als erste den Betrieb aufgenommen. Der Handel begann mit 2:1. Das heißt, 1 Westmark wurde für 2 Ostmark gekauft und für 2,20 Ostmark verkauft. Im Oktober 1948 hielt sich der Kurs bei 1:4. Im März 1949 - inzwischen waren fast 60 Wechselstuben in Betrieb - lag er bei 1:5,50.
     Der Umtauschkurs bewegte sich im Laufe der Jahre unter und über dieser Notierung. Schwankende Nachfrage war ein ausschlaggebender Faktor. Es gehört jedoch seit jeher zur Natur des internationalen Geldhandels, dass ein Kurs auch außerhalb von Angebot und Nachfrage beeinflusst werden kann. Entgegen der alliierten Vorgabe legten nicht die einzelnen Wechselstuben den Kurs täglich fest, sondern dies geschah durch die Zentralstelle der Wechselstuben. Sie hatte Möglichkeiten der Einflussnahme und brauchte keine öffentliche Rechenschaft zu geben.
     Spekulative Käufe wirkten ebenso auf den Kurs ein wie die Ankunft von Flüchtlingen in West-Berlin, die Ostmark mitbrachten. Jede politische Unsicherheit, sei es im Zusammenhang mit West-Berlin, sei es durch publik werdende Schwierigkeiten in der DDR, beeinflusste den Wechselstubenkurs.
Gleiches trat durch Panikmache ein, die zu den Methoden der Westberliner Medien im Kalten Krieg gehörte, begünstigt durch Mangel an Informationen und Verschweigen von Problemen in den Medien der DDR.
     Zu den Faktoren, die ständig auf den Wechselkurs wirkten, gehörte die Nachfrage nach D-Mark durch Ostberliner und Einwohner vieler Bezirke der DDR bis nach Sachsen und Thüringen. Verwendet wurde das »harte« Geld vor allem zum Kauf von Schuhen, modischen Textilien, von Südfrüchten sowie hochwertigen Nahrungs- und Genussmitteln, die im Osten nicht oder ungenügend oder sehr teuer angeboten wurden. Längs der Sektorengrenze zum Osten und rings um wichtige Stadtbahnhöfe entstand ein Grenzhandel in vorhandenen Geschäften, in Buden und an Ständen. Akzeptiert wurden beide Währungen zum genauen oder zu einem angenäherten Tageskurs. Nach Westberliner Schätzungen lag der Umsatz dieses neu entstandenen Grenzhandels zeitweilig bei 500 000 Ostmark täglich.3)
     Eine Klientel der Wechselstuben waren Schwarzmarkthändler aller Art. Sie verkauften in der DDR gelagerte nicht deklarierte oder »abgezweigte« Waren zu Überpreisen und tauschten die eingenommenen Ostmarkbeträge in D-Mark. Das reichte von Zigarettenhändlern und Fleischschiebern bis zu Tuchfabrikanten in Cottbus und Guben, Lederfabrikanten in Kirchhain/ Niederlausitz und Wäscheherstellern in Sachsen, die sich ein Startgeld für die Übersiedlung in die Bundesrepublik verschafften.
BlattanfangNächstes Blatt

   30   Probleme/Projekte/Prozesse Grenzgänger und Grenzgeschäfte  Voriges BlattNächstes Blatt
Die Sowjetunion und speziell ihr Geheimdienst hatten ein lebhaftes Interesse an der leicht zugänglichen Westmark und mit ihr am Zugang zum Agenten- Eldorado, zu dem sich West-Berlin entwickelte. Diese Enklave war ja einerseits tatsächlich Pfahl im Fleisch der DDR, andererseits aber auch ein Fenster nach dem Westen, das man so lange wie möglich offen halten wollte. Die von Chruschtschow im November 1958 vorgeschlagene entmilitarisierte Freie Stadt West-Berlin hätte diesem Bedürfnis recht gut entsprochen. Nicht zuletzt konnten diverse Institutionen der DDR ihren Bedarf an D-Mark decken. In der größten Not, wenn durch Fehlen eines Ersatzteils der Stillstand eines Betriebes in Ostdeutschland drohte, wurde schon mal eine Vertrauensperson mit einer Aktentasche voll Geld nach West-Berlin geschickt.
     Es ist bisher nicht bekannt, in welchen Größenordnungen die Staatsbank DDR-Mark aus West-Berlin zurückkaufte oder großzügig gedruckte Mengen Ostmark für bestimmte Zwecke umtauschte. Bekannt ist, dass die DDR- Führung sich im Herbst 1957 entschloss, durch einen Geldumtausch die in West-Berlin vorhandenen Mark- Bestände wie auch vor den Finanzämtern versteckte Ostmark- Beträge in der DDR mit einem Schlag zu entwerten.
     Dieser Geldumtausch an einem Wochenende
im Oktober 1957 wurde mit absoluter Geheimhaltung vorbereitet. Er war ausgezeichnet organisiert - und wurde letztlich ein Fehlschlag. Zwar konnte die Staatsbank der DDR mit einer einmaligen Aktion das vagabundierende Geld loswerden, was durchaus ein Erfolg war. Aber mit Beginn der neuen Woche wurden die taufrischen Markscheine in West-Berlin gegen D-Mark getauscht, als sei nichts gewesen. Eine schwache Währung wird auch durch neue Banknoten nicht stark.
     Die Wechselstuben und Geldhändler hatten unter den Westberlinern ebenfalls einen großen Kundenkreis. Man konnte für billig erworbene Ostmark in Ost-Berlin und den Randgebieten billig einkaufen, im Restaurant essen und trinken, zum Friseur gehen. Wer die Fahrt in den Osten nicht scheute, konnte sich gegenüber den auf ihre Mark angewiesenen Ostberlinern erhebliche Vorteile verschaffen, obwohl dort ein Teil des Verkaufs von Grundnahrungsmitteln noch an Lebensmittelkarten gebunden war.4) West-Berlin wurde in zunehmendem Maße durch den Osten versorgt. Viele Einzelhändler bestritten einen Teil ihres Angebots mit Waren, die ihnen aus Ost-Berlin und den Randgebieten gebracht wurden. Verkehrskontrollen konnten solche Lieferungen letztlich nicht verhindern. Wahrscheinlich sollten sie es auch nicht.
BlattanfangNächstes Blatt

   31   Probleme/Projekte/Prozesse Grenzgänger und Grenzgeschäfte  Voriges BlattNächstes Blatt
Den Kleinhandel rigoros zu unterbinden entsprach nicht der Politik der DDR- Führung, West-Berlin gegen Zahlung von D-Mark weitestgehend zu versorgen und damit ein Druckmittel zu haben, ein Wunsch, der nur teilweise nach 1961 in Erfüllung ging.
     Ab 1949 breiteten sich die Läden und Gaststätten der staatlichen Handelsorganisation HO aus. Sie war im November 1948 entstanden. Die HO wirkte dem Schwarzhandel entgegen, vergrößerte das Warenangebot im Osten und schöpfte dort durch sehr hohe, in der Tendenz nachgebende Preise Kaufkraft ab, übernahm einen Teil der Versorgung West-Berlins und holte damit Ostgeld aus West-Berlin zurück. Der Wechselkurs machte den Westberlinern die hohen HO-Preise immer noch attraktiv. Für sie war die Werbung bestimmt: Der kluge Berliner kauft in der HO.
     Bereits Ende 1949 wurde u. a. vom Bezirksamt Wilmersdorf geschätzt, »dass 75 Prozent des Umsatzes der Läden der Handelsorganisation (HO) von Westkunden erbracht« werden.5) Auch bei Textilien und billigen Möbeln sei »eine hohe Käuferabwanderung von West nach Ost zu beobachten«.6) Im Juni veranstaltete die Westberliner Bäckerinnung eine Protestdemonstration gegen das Einkaufen im Osten. Sie führte symbolisch einen Käfig mit, in dem »Herr Schimpf und Frau Schande« angeprangert wurden, weil sie ihr Geld im Westen verdienen und im Osten einkaufen. Diese beiden Figuren im Käfig, die aus dem Mittelalter entlehnt schienen, waren mit dem dazu gehörigen Slogan durch ein Preisausschreiben der Westberliner
Stadtverwaltung ermittelt worden. Die öffentlichen Angestellten der Teilstadt bekamen sogar in ihre Gehaltstüten Merkblätter mit dem Hinweis, wer mit diesem Geld im Osten einkaufe, könne gekündigt werden.7)
     Neben Wechselstuben und Warentransfer gehörten zum Berliner Alltag bis 1961 die Grenzgänger. Dieser Begriff, in den ersten Nachkriegsjahren entstanden, hatte in Berlin einen besonderen Inhalt. In gängigen Lexika werden unter Grenzgänger jene Arbeitnehmer verstanden, die im Grenzgebiet eines Landes, in der Regel ist dies eine 10-km- Zone, wohnen und im Nachbarland arbeiten. Ihre soziale und rechtliche Stellung wird zumeist durch zweiseitige staatliche Abkommen geregelt.8) In Berlin handelte es sich um Arbeitnehmer, die im Osten einschließlich Berliner Randgebiet wohnten und in West-Berlin arbeiteten, sowie um Arbeitnehmer, die in West-Berlin wohnten und in Ost-Berlin arbeiteten, selten im Randgebiet. Das waren reguläre Arbeitsverhältnisse, die bereits vor 1945 bestanden hatten oder gleich nach Kriegsende begründet worden waren - völlig normal für eine Großstadt mit einheitlichem Arbeitsmarkt und Einpendlern aus dem Umland.
     Mit der D-Mark wurde auch der Arbeitsmarkt gespalten. Neben der Mehrzahl der Berufstätigen, die in einem der beiden Währungsgebiete wohnten und arbeiteten, gab es zunächst rund 122 000 Grenzgänger von West nach Ost und 76  000 von Ost nach West sowie etwa 13 000 Westberliner Eisenbahner, die bei der Reichsbahn (Ost) arbeiteten, von der auch die S-Bahn betrieben wurde.
BlattanfangNächstes Blatt

   32   Probleme/Projekte/Prozesse Grenzgänger und Grenzgeschäfte  Voriges BlattNächstes Blatt
Es wäre sofort notwendig gewesen, die Stellung der Grenzgänger durch ein Abkommen zwischen den Behörden der beiden Stadthälften zu regeln. Nichts dergleichen geschah. Man war ja politisch verfeindet, verhandelte nicht miteinander.
     Im Osten hielt man sich bedeckt, überließ das Problem der Westseite, wo es durch die D-Mark entstanden war. Dort richtete man eine Lohnausgleichskasse ein. Sie funktionierte nach einer Art Clearingsystem: Westberliner, die regulär im Osten arbeiteten, bekamen (ab 1949) 60 Prozent ihrer Ostmarkbezüge in D-Mark umgetauscht (maximal 200 DM), bis 1953 stieg der Satz auf 90 Prozent (maximal jedoch nur 350 DM). Ostberlinern, die im Westen arbeiteten, wurden 30 Prozent der Bezüge in Westmark ausgezahlt, wer seine Lebensmittelkarten im Osten bekam, musste zunächst mit 10 Prozent vorlieb nehmen. Westberliner, die im Umland arbeiteten, bekamen nichts umgetauscht. Vom Lohnumtausch ausgeschlossen wurden ab August 1949 alle Westberliner, die bei SED, FDGB, Rundfunk, staatlichen Bühnen, Akademien und bei der HO arbeiteten. 1950 wurde die Sperrliste wesentlich erweitert, sie reichte von städtischen Betrieben über Museen bis zur Sternwarte. Der Lohnumtausch wurde zum Instrument des Kalten Krieges.
     Grenzgänger waren Wanderer zwischen zwei Welten.
Sie spürten die unnormale Berliner Situation täglich am meisten und wurden aus unterschiedlichen Gründen angefeindet. Wer im Osten arbeitete, kam im Westen in den Geruch, »den Kommunisten« zu dienen, auch wenn er Arzt an der Charité oder Bühnenbildner am Schiffbauerdamm war. Wer in den Westen zur Arbeit fuhr, sollte sich dort systemkonform verhalten, um nicht verdächtigt zu werden, er gehöre zu Ulbrichts 5. Kolonne. Im Osten beneidete so mancher die Grenzgänger, die sich »für Westmark verkauften«. Tatsächlich hatten sie Vorteile gegenüber dem Gros der Ostberliner: Sie bezahlten Miete, Heizung, Essen, Trinken in Ostmark, bekamen aber einen Westmark- Anteil vom Lohn oder Gehalt. Dafür konnten sie Westware einkaufen oder aus einer Westmark fünf Ostmark machen.
     So blieb es jahrelang, ohne dass diese Grenzgänger offiziell schikaniert oder in den Medien massiv diffamiert wurden. Erst im Juli 1961 schloss sie der Ostberliner Magistrat vom Kauf hochwertiger Waren wie Kraftfahrzeuge, Kühlschränke, Waschmaschinen aus. Zur gleichen Zeit attackierte Politbüromitglied Paul Verner, Chef der Berliner SED- Leitung, die Grenzgänger öffentlich: »Sie schaffen keine Werte für unsere Gesellschaft, leben aber auf Grund des Schwindelkurses billiger und im Grunde genommen auf Kosten unserer Werktätigen.«9)
BlattanfangNächstes Blatt

   33   Probleme/Projekte/Prozesse Grenzgänger und Grenzgeschäfte  Voriges BlattNächstes Blatt
Dem folgten Forderungen aus Ostberliner Betrieben, »weitere und schärfere Maßnahmen gegen das Grenzgängertum zu ergreifen«.10) Das war zehn Tage vor dem Bau der Mauer ...
     Die Größenordnungen auf dem Berliner Ost-West- Arbeitsmarkt hatten sich bis 1961 unterschiedlich entwickelt. Die Zahl der Ostberliner, die offiziell in West-Berlin arbeiteten, ging von anfänglich 76 000 auf 30 900 im Jahr 1952 zurück.11) Im Januar 1953 wurden in Ost-Berlin die Grenzgänger aufgefordert, sich registrieren zu lassen. Das taten 23 000. Tatsächlich lag ihre Zahl höher, nicht jeder ließ sich registrieren, aus Furcht vor Restriktionen. Die 23 000 erhielten eine offizielle Arbeitserlaubnis. 1957 wurde von Westberliner Seite ein konjunkturbedingter Anstieg auf 41 201 verzeichnet. Am 31. März 1961 waren es nach der Statistik des Westberliner Arbeitsamtes sogar 56 823.
     Die Zahl der Westberliner, die im Osten arbeiteten, verringerte sich von zunächst 122 000 bis August 1950 auf 73 400. Im Sommer dieses Jahres waren rund 40 000 Grenzgänger mit ihren Familien nach Ost-Berlin und in Randgebiete umgezogen, willkommene Arbeitskräfte. Ende März 1961 waren noch laut amtlicher Statistik 12 927 Westberliner in Ost-Berlin tätig, vor allem Künstler, Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure.
     Sämtliche Zahlen zu den Grenzgängern von Ost nach West, sofern sie auf regulären Arbeitsverhältnissen mit Lohnumtausch
beruhten, zeigten nur einen Teil der Realität. Hinzu kamen die nicht registrierten Beschäftigten, die zu Dumpinglöhnen arbeiteten. Nach dem Mauerbau meldete zum Beispiel die Konfektionsindustrie den Westberliner Behörden das Fehlen von 5 000 bis 7 000 Beschäftigten. Die Ausgleichskasse hatte jedoch nur 3 059 registriert. Insgesamt kann man von mehreren zehntausend Ostberlinern und Arbeitskräften aus dem Umland ausgehen, die in West-Berlin angestellt waren, unter Tarif bezahlt wurden und von Sozialabgaben und Ämtern nicht erfasst waren.
     Einen ähnlichen Umfang hatte die ständige oder gelegentliche Schwarzarbeit von Handwerkern aller Gewerke, Haushaltshilfen, Reinigungskräften und anderen Dienstleistern. Bei der Reinemachefrau aus dem Osten wurde auch Ware bestellt, der Sonntagsbraten ebenso wie »Ostbrot« und frisches Gemüse. Viele Rentnerinnen besserten so ihr geringes Einkommen auf, und junge Leute nahmen jede Gelegenheitsarbeit in West-Berlin an, um sich echte Jeans kaufen zu können. Quer durch die Berliner Bevölkerung ging die unsichtbare Linie, die zwischen Besitzern und Nichtbesitzern von Westmark trennte.
     Eine eher marginale, aber durchaus typische Erscheinung dieser Zeit waren die Grenzkinos in West-Berlin. Sie lockten Ostberliner und Leute aus den Randgebieten zum alltäglichen Gang über den Strich in den Westen.
BlattanfangNächstes Blatt

   34   Probleme/Projekte/Prozesse Grenzgänger und Grenzgeschäfte  Voriges BlattArtikelanfang
In den Wechselstuben oder auf der Straße konnte man sich die paar Groschen für den Eintritt holen, der »für Ostbewohner« um die Hälfte ermäßigt war. Allein rund um den S- und U-Bahnhof Gesundbrunnen im Bezirk Wedding gab es zwei Dutzend mehr oder weniger primitive Grenzkinos. Viele, vom Potsdamer Platz bis zu den Westberliner Außenbezirken, öffneten bereits morgens.
     Seit Juli 1950 boten grenznahe Kinos auf Veranlassung der Filmsektion der US- Militärregierung (HICOG) bestimmte Filme nur für Bewohner des Ostsektors und der DDR zum Eintrittspreis von maximal 0,25 DM. Die von HICOG ausgewählten Grenzkinos waren von der Vergnügungssteuer befreit. Ab 1953 gab es den Steuererlass nur für Filme, die HICOG aufgelistet hatte. Diese US- Dienststelle organisierte auch kostenlose Freilichtaufführungen entlang der Sektorengrenze. Solange es noch kein allgegenwärtiges Fernsehen gab, waren Filme auf der Leinwand von Grenzkinos die unterhaltsamen Botschaften aus einer bunten, heilen, erstrebenswerten Welt, verkörpert durch die USA, den Hort des Guten.
     Berlin Ende der vierziger bis Anfang der sechziger Jahre: zwei Teilstädte im Kalten Krieg. Spekulanten und Schieber waren die Gewinner, Millionen Berliner waren die Verlierer. Eine Stadt, in der die Menschen jeden Tag aus den Verhältnissen das Beste zu machen suchten. Die Menschen lernten überleben und lebten unter Bedingungen, die aus heutiger Sicht irrational erscheinen, unsinnig, unwürdig.
Es waren die Folgen eines verbrecherischen Krieges und zugleich Folgen einer Machtpolitik, die zu keinen Kompromissen taugte und unvorstellbare Werte gekostet, Unsummen verschlungen hat. Und noch war kein Ende abzusehen. Es sollte Jahrezehnte dauern, bis die Berliner dem Frieden, dem Abschied vom Kalten Krieg trauen konnten.

Quellen und Anmerkungen:
1 »Tägliche Rundschau« vom 22. 3. 1949
2 Berlin. Quellen und Dokumente 1945-1957, 2. Halbband, Berlin 1964, S. 1398
3 Vgl. Erika M. Hoernig, Zwischen den Fronten, Köln 1992
4 Im Oktober 1951 wurde die Lebensmittelrationierung teilweise aufgehoben, im Mai 1958 vollständig
5 Erika M. Hoernig, ebenda
6 Ebenda
7 Ebenda
8 Vgl. dtv-Lexikon 1995
9 »Berliner Zeitung« vom 9. 7. 1961
10 »Berliner Zeitung« vom 4. 8. 1961
11 Lt. Statistisches Jahrbuch Berlin 1953 waren dies 4,4 Prozent der unselbständig Beschäftigten. Die Gesamtzahl der in West-Berlin mit Arbeitsvertrag tätigen Ostberliner und Randgebietsbewohner dürfte in den 50er Jahren bis zu 10 Prozent der Arbeitnehmer in West-Berlin ausgemacht haben

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/2001
www.berlinische-monatsschrift.de