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Siegfried Heimann
»Es wird um unseren Kopf gehen«

Der Politiker Ernst Reuter (1889-1953)

Am 24. Juni 1947 wählte die Berliner Stadtverordnetenversammlung auf Vorschlag der sozialdemokratischen Fraktion den Stadtrat Ernst Reuter zum Oberbürgermeister. Nur die SED- Fraktion votierte - wenn auch nicht einstimmig - gegen ihn. Reuter wollte der Oberbürgermeister von ganz Berlin sein. In einer ersten Stellungnahme nach seiner Wahl erklärte er im Rundfunk zu seinen politischen Zielen: »Wir müssen Berlin aus seiner Isolierung, aus seiner Umklammerung ... herauslösen. Wir müssen den Versuch machen, Berlin wirtschaftlich dem Westen wie dem Osten gleichermaßen anzugliedern.« Der Versuch, die Einheit Berlins zu erhalten, scheiterte. Reuter bedurfte der Bestätigung durch die vier Besatzungsmächte, und die sowjetische Besatzungsmacht verweigerte - unter fadenscheinigen Gründen - ihre Zustimmung. Erst nach der von Reuter nicht gewollten Spaltung der Berliner Verwaltung im Herbst 1948 konnte er sein Amt - freilich nur noch in West-Berlin - antreten.


Oberbürgermeister Ernst Reuter

Bis dahin hatte die sozialdemokratische Bürgermeisterin Louise Schroeder (1887-1957) dieses Amt mit Bravour ausgefüllt.

In jungen Jahren Sozialdemokrat

Ernst Reuter wurde 1889 in Schleswig- Holstein geboren, wuchs aber in Ostfriesland auf.1) Sein Vater war dort als ehemaliger Kapitän Navigationslehrer an einer staatlichen Seemannsschule, wohl bestallt als monarchisch gesinnter Beamter, aber als Vater von sechs Kindern nicht mit Reichtümern gesegnet.

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Der Sohn Ernst studierte in Marburg und in Münster Geschichte, Griechisch und Latein. Er wollte und sollte Lehrer und Beamter werden. Noch als Student aber bekannte er sich - selten genug an den damaligen deutschen Universitäten - zu den sozialistischen Ideen, wie sie von den Marburger Philosophen und Neukantianern Paul Natorp (1854-1924) und Hermann Cohen (1842-1918) gelehrt wurden. Es waren Ideen eines reformistischen Sozialismus, aber dennoch für einen zukünftigen beamteten Lehrer für die Obrigkeit unvorstellbar und nicht akzeptabel. Ernst Reuter musste sich entscheiden, und er tat es zum großen Kummer seiner Eltern radikal und ohne sich eine Hintertür offen zu lassen. Er trat nach seinem Examen im Jahre 1912 nicht in den Schuldienst, sondern in die SPD ein. Er verlor seine Verlobte, seine Stelle als Hauslehrer und auch die finanzielle Unterstützung seiner Eltern. Sein Vater forderte ihn zur Umkehr auf. Reuter schrieb in einem Brief, wie dankbar er seinen Eltern sei, dass aber eine Umkehr für ihn nicht möglich sei: »Wohin die innere Überzeugung einen ruft, dahin muss er sich stellen, und wer ihn daran hindert, hat Unrecht, selbst wenn seine Sache objektiv die richtige ist.« Dieser Maxime ist Reuter sein ganzes Leben lang treu geblieben, viel gescholten deswegen, vor allem von denen, die lieber den bequemen Weg gegangen sind. Volkskommissar an der Wolga

Reuter arbeitete als schlecht bezahlter Wanderredner für die SPD, engagierte sich in der Kirchenaustrittsbewegung und hielt Kurse für Arbeiter in Geschichte, Wirtschaft und Geographie. Er machte seine Sache gut, und der Zentralbildungsausschuss der SPD wollte ihn im Herbst 1914 fest anstellen. Nach Beginn des Weltkrieges war daran jedoch nicht mehr zu denken. Reuter meldete sich freiwillig, aber die Kriegsbegeisterung schlug schnell - und schneller als bei vielen anderen Sozialdemokraten - in große Skepsis um. Er arbeitete im Ende 1914 entstandenen »Bund Neues Vaterland« mit, aus dem 1922 die noch heute existierende »Liga für Menschenrechte« werden sollte. Der Bund trat für Verhandlungen und für einen Frieden ohne Annexionen und Reparationen ein. Reuter kam an die Ostfront und geriet schon Mitte 1916 schwer verwundet in russische Kriegsgefangenschaft. Im Lazarett und im Kriegsgefangenenlager südlich von Moskau lernte er fließend russisch, arbeitete in einem Bergwerk unter Tage und wurde im Oktober 1917 als Sprecher der Kriegsgefangenen nach Moskau geschickt. Hier lernte er schon bald Karl Radek (1885-1939), J. W. Stalin (1879-1953) und später auch W. I. Lenin (1870-1924) kennen.

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Sie schickten Reuter nach Saratow, um das »Wolga- Kommissariat für deutsche Angelegenheiten« zu leiten, woraus ihm später von reaktionären Kräften in der Weimarer Republik ein Strick gedreht werden sollte und weshalb ihn die Nazis nach 1933 im Konzentrationslager besonders brutal misshandelten. Als sich Ende 1918 auch in Deutschland revolutionäre Veränderungen abzeichneten, wollte er sofort nach Deutschland zurück. Um die Jahreswende 1918/19 nahm er mit Radek an der Gründung der Kommunistischen Partei teil und engagierte sich als frisch gebackenes Mitglied der KPD sofort mit dem ihm eigenen organisatorischen Geschick am Aufbau der Partei. Seine Radikalität führte ihn an die Seite der Linken und nach den putschistischen Aktivitäten im Jahre 1921 ebenso schnell wieder zurück an die Seite des Kritikers dieser selbstmörderischen Taktik Paul Levi (1883-1930). Reuter schloss sich Levis Kommunistischer Arbeitsgemeinschaft an und kehrte mit dieser über den Umweg der USPD im Jahre 1922 in die SPD zurück.
     Wieder hatte er sich entschieden, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Seine Entscheidung gegen die in stalinistisches Fahrwasser geratende KPD wird ihm freilich bis heute in denunziatorischer Weise vorgeworfen. Ein Wort Reuters über das Verhältnis von KPD und SPD mag mit die Ursache sein für die ihn nun bis an sein Lebensende begleitenden Diffamierungen von kommunistischer Seite.
Er schrieb 1924: »Sozialismus und Kommunismus stehen sich jetzt nicht mehr als feindliche Brüder, sondern als völlig wesensfremde Bewegungen gegenüber.«2) Ein solcher Satz ließ wenig Raum für Umarmungsversuche von Seiten der KPD, zumal sie immer nur kurzfristig mit dem »Kampf gegen den Sozialfaschismus« oder nach 1945 gegen den »Sozialdemokratismus« abwechselten.

Erfolgreicher Kommunalpolitiker

Von den Ausflügen in die revolutionäre große Politik hatte Reuter allerdings erst einmal genug. Er widmete sich fortan bis 1933 sehr erfolgreich der Kommunalpolitik, zunächst ab 1926 in Berlin als Stadtrat für Verkehrswesen und ab 1931 als Oberbürgermeister in Magdeburg. Seit Sommer 1932 gehörte er auch dem Reichstag an. Natürlich verlor Reuter 1933 sofort seinen Posten, wurde mehrfach verhaftet und im Konzentrationslager Lichtenburg bei Torgau brutal misshandelt und über Monate eingekerkert. Nach seiner Freilassung im September 1934 entschloss er sich schweren Herzens zur Emigration nach England. Dort erreichte ihn das Angebot, in der Türkei als Sachverständiger für die staatlichen öffentlichen Betriebe im Wirtschaftsministerium in Ankara tätig zu sein. Er nahm es sofort an, zumal er dort wieder mit seiner Frau Hanna und seinem jüngsten Sohn Edzard zusammen sein konnte.

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Er lehrte darüber hinaus an der gerade gegründeten türkischen Hochschule für Politik, an der er 1941 als Professor den Lehrstuhl für Kommunalwissenschaft übernahm und bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland innehatte.
     Auch für Ernst Reuter war es selbstverständlich, nach dem Ende der Nazi- Diktatur wieder nach Deutschland zurückzukehren. In seinem ersten Brief an das Mitglied des Exil- Parteivorstandes der SPD Fritz Heine schrieb er - noch nach London - im Juli 1945: »Der Mutterboden, auf dem wir arbeiten können und auf dem sich allein diese Dinge entfalten können, ist (im Brief unterstrichen!) allein Deutschland. Unser ganzes Leben wird erst wieder einen Sinn bekommen, wenn wir nach Deutschland zurück können und dort von vorne mit der Arbeit beginnen.«3) Er erklärte sich auf Heines Anfrage auch bereit, wieder für die sozialistische Bewegung zu arbeiten. Er wollte neue Wege beschreiten, machte sich aber auch keine Illusionen darüber, dass dies leicht wäre. Hindernisse sah er im »alten Organisationsstiefel« [gemeint war die alte SPD von Weimar], der verhindern könne, aus »unserem alten Turm« herauszukommen und auf »neue Menschen« zuzugehen, aber auch in dem »schreckliche[n] kurzsichtige[n] Egoismus des deutschen Bürgertums, von dem man nicht weiß, ob es nun wirklich dazu gelernt hat«4).

Die Politiker Ernst Reuter, Otto Suhr und Louise Schroeder (v. l. n. r)

 
»Aufräumen« - ohne Hassgefühle!

Auch für Reuter war klar, dass nach Kriegsende in Deutschland einiges geschehen musste, um die Zeit des Nazismus zu überwinden. In einem Brief an einen Mitemigranten schrieb er schon im Jahre 1943 über die »politischen Pflichten« der Emigranten Deutschland gegenüber: »Nur eine klare, einwandfreie, radikale und die Welt absolut überzeugende Ausrottung des nationalsozialistischen Systems und seiner Ideologie, nur ein rücksichtsloses Durchgreifen gegen alle die Kräfte, die dieses Regime gestützt haben, kann in langsamer und systematischer Arbeit allmählich den politischen Kredit Deutschlands wiederherstellen.«5)

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Reuter hoffte dabei - anders als manche andere Emigranten - auf die Hilfe auch vieler im Lande gebliebener Deutscher, da sich seiner Meinung nach »unendlich viele Deutsche« der »Nazipest ferngehalten« hatten, wie er in seinem bekannten Brief an Thomas Mann (1875-1955) im Jahre 1943 schrieb.
     Reuter war deshalb natürlich enttäuscht, dass Thomas Mann seinen Optimismus in dieser Frage nicht teilte. So hatte Mann seine Zweifel, ob der Rat und die Tat der Emigranten in Deutschland überhaupt erwünscht seien, und meinte, dass der Wiederaufbau sicher - wie er Reuter zurückschrieb - »aus dem inneren Deutschland kommen müsse«.6) In den Briefen Thomas Manns an Reuter offenbart sich die große Skepsis vieler Emigranten gegenüber der alten Heimat und der demokratischen Beeinflussbarkeit der Millionen Mitläufer. Reuter gehörte zu denjenigen Emigranten, denen es nicht in den Sinn kam, einen schnellen Schlussstrich ziehen zu wollen, und die dennoch so schnell wie möglich zurückkommen wollten. Er sah seine Zeit der Emigration auch als Zeit der Vorbereitung »für die große Aufräumungsarbeit, die einmal notwendig sein wird« - ohne zu vergessen, aber auch ohne Hassgefühle.7)
     Immer wieder drängelte er voller Ungeduld in Briefen an Freunde in London und schließlich auch an Kurt Schumacher (1895-1952) in Hannover,
sich für seine Rückkehr zu verwenden - und diese ließen auch nichts unversucht, die bürokratischen Mühlen der Alliierten schneller mahlen zu lassen. Aber es dauerte und dauerte, und Reuter konnte erst Ende des Jahres 1946 über Paris nach Deutschland zurückkehren. Am 26. November traf er in Hannover ein, wenige Tage später war er schon in Berlin. Die Bitte Berliner Sozialdemokraten (und Kurt Schumachers), nach Berlin zu kommen, wo nach dem überwältigenden Wahlerfolg im Oktober 1946 die Sozialdemokraten dringend erfahrene Kommunalpolitiker brauchten, ließ ihn nicht zögern. Trotz seiner Kontakte zu alten Freunden in Magdeburg kam für ihn eine Rückkehr in die »Ungewissheit der russischen Zone« nicht infrage, wie er schon im Februar 1946 an einen Freund schrieb.8) Für Reuter war deshalb die Rückkehr nach Berlin bereits eine Rückkehr nach West-Berlin, auch wenn er zunächst Politik in und für ganz Berlin machen wollte. Er war unmittelbar nach seiner Rückkehr zunächst voller Glücksgefühl, endlich wieder in der Heimat etwas bewirken zu können und dabei Vertrauen zu gewinnen. Er fühlte sich vom ersten Tag an in Berlin angenommen. Im Dezember 1946 schrieb er in die Türkei, dass ihn bei einer ersten Rundfahrt durch Berlin, die ihn auch zu Stätten seines früheren Wirkens führte, viele Berliner als den »Stadtrat Reuter« wiedererkannt hätten.
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Voller Stolz fügte er an: Hitler »hatte Unrecht, als er von uns Emigranten meinte, die Heimat würde uns nicht wiedererkennen. Manchem kamen in Berlin Tränen der Freude ins Gesicht, als er mich wiedersah.«9)
     Für die in die drei Westsektoren Berlins zurückgekehrten Emigranten aber gab es seit 1947 bereits auch andere Probleme. So war es für Reuter nach einem Jahr anstrengender Tätigkeit als Stadtrat für Verkehr keineswegs sicher, ob er nicht doch noch zu einer zweiten Emigration gezwungen sein würde. Als er kurz vor Weihnachten 1947 erstmals zu einer kurzen Ruhepause kam, kam ihm das weiterhin bestehende und sogar größer werdende Gefühl der politischen und auch persönlichen Unsicherheit erst so recht ins Bewusstsein. In mehreren Briefen beschrieb er die politische Situation Berlins und deutete mögliche Konsequenzen für sich an, wenn sich diese Situation noch mehr zuspitzen sollte. Er schrieb an Elisabeth Howard in England über seine Verunsicherung: »Ich bin mir darüber im klaren, dass es nur eine Ruhe vor dem Sturm ist, denn Berlin ist ein viel zu wichtiger Posten, als dass nicht um ihn ein neuer heißer Kampf entbrennen wird, und, ob wir wollen oder nicht, wir werden mitten in ihm drinstehen, es wird um unseren Kopf gehen, und der Kampf wird für uns um so schwieriger sein, weil wir leider nach manchen bitteren Erfahrungen nicht das Vertrauen in die Westmächte haben können, von ihnen immer und in jeder Lage unterstützt zu werden.
Das Gefühl der Unsicherheit ist zu groß, und der furchtbare Druck, der immer wieder auf den Menschen liegt, ist oft zu schwer ...« Reuter mochte zwar wegen der vielen Vertrauensbekundungen von Seiten der Berliner nicht aus Berlin weggehen: »Aber wir werden hier bleiben, so lange es geht, und nur dann gehen, wenn gar nichts anderes übrig bleibt.« Seinen Verwandten konnte er dennoch nicht empfehlen, zu ihm nach Berlin zu kommen, denn er war nicht sicher, ob seine Frau und er nicht schließlich doch wieder emigrieren mussten.10)

Bekenntnis zur Demokratie

Ernst Reuter musste nicht ein zweites Mal emigrieren. In Berlin - und zunächst nicht nur in West-Berlin - war viel früher als in den westlichen Besatzungszonen die Auseinandersetzung mit der Politik der Sowjetunion und der von ihr abhängigen Kommunistischen Partei bzw. der Sozialistischen Einheitspartei ins Zentrum der Diskussion über den politischen Neubeginn gerückt. Für die Sozialdemokratie wurde darüber hinaus der Druck der sowjetischen Besatzungsmacht, sich mit der KPD zu vereinigen, zur Existenzfrage. Nur in den vier Sektoren Berlins konnte sich die SPD - anders als in der sowjetischen Besatzungszone - als selbstständige Partei behaupten.

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Diese Auseinandersetzungen gingen einher mit Zwang, Schikanen und Verfolgungen von Seiten der sowjetischen Besatzungsmacht und steigerten sich seit Mitte 1948 - in der Zeit der Blockade - zu einem Kampf um die Selbstbehauptung der Stadt, der nur für West-Berlin von Erfolg gekrönt war. Die Bevölkerung von West-Berlin sah sich vereint in einem Widerstandskonsens - wie Harold Hurwitz es formulierte -, der gleichermaßen von einem Bekenntnis zur Demokratie und einem militanten Antikommunismus geprägt war.11)
     Die meisten der nach West-Berlin zurückgekehrten Emigranten fügten sich in ihrer politischen Arbeit nicht nur bereitwillig in den »Widerstandskonsens« der Westberliner Bevölkerung ein, sondern sie stellten sich auch - unbestritten - an die Spitze des »antikommunistischen Abwehrkampfes« gegen die spätestens seit dem Frühjahr als Bedrohung empfundene sowjetische Deutschlandpolitik. In mehreren großen Versammlungen mit bis zu 100 000 Teilnehmern fand Reuter die aufrüttelnden Worte, mit denen er zunächst die Berlinerinnen und Berliner beeindruckte und schließlich auch die Westalliierten, so dass sie sich entschlossen - entschließen mussten - West-Berlin nicht aufzugeben. Reuter war überzeugt, dass das Schicksal der Tschechoslowakei auch West-Berlin drohte. Er wurde nicht müde, die Öffentlichkeit auf diese Gefahr aufmerksam zu machen, so auch am 24. Juni 1948
vor über 70 000 Menschen: »Meine Genossinnen und Genossen, wir alle wissen, daß wir heute hier in Berlin - an diesem 24. Juni des Jahres 1948 - uns in einer Krise unserer Stadt befinden, die nun wirklich über unser ferneres Schicksal entscheiden wird. Als im Frühjahr dieses Jahres mit dem Fenstersturz in Prag es allen klar wurde, dass der kommunistische Diktaturwille jedes Mittel benutzen wird, um seine Macht im Schatten des russischen Imperialismus aufzurichten, da haben wir in Berlin sehr wohl verstanden, dass dieser Fenstersturz von Prag auch eine Mahnung für uns sein wird.«

Zum Oberbürgermeister gewählt

Für die im Herbst 1948 bei den Wahlen - nur noch im Westteil der Stadt - als »die Berlinpartei« grandios bestätigte SPD war der Remigrant Ernst Reuter vor allem deswegen der geeignete Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters, weil er wie kein anderer den auf der Tagesordnung stehenden »antikommunistischen Protest« zu artikulieren verstand.12) Die über 64 Prozent der Stimmen für die SPD wurden ja weniger wegen des von allen Berliner Sozialdemokraten vertretenen Wahlkampfziels »Freiheit - Demokratie - Sozialismus« erreicht, als aufgrund der überzeugenden Haltung der SPD während der Blockade Berlins und der Spaltung der Stadt im Herbst 1948.

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Für Reuter war freilich immer klar, dass der Widerspruch gegen die kommunistischen Drohungen die Warnungen gegenüber der nazistischen Gefahr nicht überflüssig machten. Aber auch er musste dem in der Stadt herrschenden politischen Klima seinen Tribut zollen. Es verwunderte allerdings angesichts der Erfahrungen in der Zeit der Blockade niemanden, dass die 1947 noch teilweise vorhandene Bereitschaft der SPD, in einigen kommunalpolitischen Fragen mit der SED zusammenzuarbeiten, immer geringer wurde. Aus politischen Gegnern waren im Jahre 1948
Ernst Reuter spricht zu Berliner Bürgern
endgültig politische Feinde geworden.
     Am 7. Dezember 1948 wählte die Stadtverordnetenversammlung Ernst Reuter einstimmig zum Oberbürgermeister von Berlin, in das Amt, für das er 1947 schon gewählt worden war, das er aber nicht ausüben durfte. Inzwischen war klar, dass er dieses Amt nur noch in und für West-Berlin wahrnehmen konnte, auch wenn in öffentlichen Reden stets von ganz Berlin die Rede war. Noch mehr als vorher sah Reuter für West-Berlin nur eine Chance zum politischen Überleben: Die in der Zeit der Blockade von Seiten der westlichen Alliierten ausgesprochene Garantie für die Freiheit West-Berlins durfte durch kein
politisches Schwanken gefährdet werden, und Reuter scheute in dieser Frage auch nicht den Konflikt mit Kurt Schumacher. Und: Die politische Bindung an die 1949 gegründete Bundesrepublik musste nach dem Willen Reuters ohne Wenn und Aber gewollt werden. Das Ziel Reuters, West-Berlin auch zum zwölften Bundesland zu machen, scheiterte zwar am Einspruch der Westalliierten, aber auch am hinhaltenden Vorbehalt Konrad Adenauers (1876-1967), der mit Berlin nicht viel im Sinn hatte. Dennoch war die von Reuter stets forcierte feste Einbindung West-Berlins in die bundesrepublikanische Gesetzgebung allmählich Realität geworden.
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   90   Porträt Der Politiker Ernst Reuter  Voriges BlattNächstes Blatt
Nur diese sicherte nach Meinung Reuters die für West-Berlin unverzichtbare finanzielle Unterstützung durch Bonn.
     Die Orientierung West-Berlins an der Bundesrepublik war natürlich angesichts der politischen Machtverhältnisse in der Hochzeit des Kalten Krieges für die meisten Berliner Sozialdemokraten ohne Alternative, auch wenn die Übernahme mancher Bundesgesetze auch die Übernahme einer »rückschrittlichen Politik« bedeutete, wie es der Jahresbericht der Partei 1951 beklagte. Die SPD wollte deshalb bei der Anwendung des Bundesrechts in Berlin bereits im parlamentarischen Vorlauf in Bonn sicher stellen, dass »Rücksicht auf die Berliner Sonderlage« genommen würde. Eine nur partielle Übernahme von Bundesgesetzen, wie es von einem Teil der Berliner Sozialdemokraten gefordert wurde, lehnte Reuter aber entschieden ab.13) Dennoch konnte natürlich keine Rede davon sein, dass es Reuter leicht fiel, die in der Frage einer einheitlichen Sozialversicherung, in der Frage des Beamtenrechts und in der Frage der Schulreform vorhandenen weitaus fortschrittlicheren Gesetze in Berlin zur Disposition zu stellen. Im Gegenteil, er versuchte - und teilweise mit Erfolg - zu retten, was zu retten war. Die einheitliche Sozialversicherung konnte nicht beibehalten
werden, aber es gelang - zunächst -, eine einheitliche Krankenversicherung zu erhalten; die Wiedereinführung des Berufsbeamtentums war nicht zu verhindern, aber die seit 1945 tätigen Verwaltungsangestellten durften deshalb nicht benachteiligt werden; die Schulreform wurde zurückgeschraubt, aber übrig blieb immerhin statt der achtklassigen die sechsklassige Grundschule.
     Reuter war natürlich weiterhin in erster Linie Kommunalpolitiker. Er konnte für West-Berlin auch heute noch sichtbare Erfolge etwa in der Wohnungsbau- und in der Verkehrspolitik erzielen, vor allem aber trotz wachsender Flüchtlingszahlen aus der DDR und Ost-Berlin die hohe Arbeitslosigkeit vermindern helfen. Die Lage Berlins im Brennpunkt des Ost-West- Konfliktes ließ es aber nicht zu, dass sich Reuters Politik auf kommunale Aktivitäten beschränken konnte. Er scheute sich nicht, dabei Ideen zu entwickeln, die nicht immer den Beifall der Mehrheit der SPD in Berlin und auch in der Bundesrepublik fanden. In der Frage der entstehenden Europa- Union widersprach er mit nur wenigen anderen Sozialdemokraten auch öffentlich der von Schumacher vorgegebenen Politik, er behielt aber auch im Blick nach Osten seinen ausgeprägten Sinn für Realitäten bei und zögerte nicht, auf eine neue Situation auch neue Überlegungen anzustellen.
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   91   Porträt Der Politiker Ernst Reuter  Voriges BlattNächstes Blatt
So sehr ihn zum Beispiel die brutale Niederschlagung des Arbeiteraufstandes im Juni 1953 in der DDR empörte, er sah dennoch in den Veränderungen nach Stalins Tod auch einen Ausdruck der Schwäche der Sowjetunion, die es zu nutzen galt. Dabei fand er in einer seiner letzten Rede im August 1953 Töne, die so gar nicht zu dem vor allem in der DDR fleißig gemalten Bilde des »Kalten Kriegers« passen wollten. Die Wiedervereinigung sei nicht durch eine forcierte Politik der Stärke, sondern nur durch eine kluge Politik des Entgegenkommens gegenüber der Sowjetunion zu gewinnen. In dem Zusammenhang stellte er sogar den Beitritt der Bundesrepublik in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zur Disposition. Er forderte die verantwortlichen Politiker des Westens auf, zumindest die in der sowjetischen Außenpolitik anklingenden Optionen sorgfältig zu prüfen statt sie sofort zu verwerfen.14) Der Ausgang der Bundestagswahl 1953, der ihn sehr enttäuschte, ließ freilich die von Reuter vorgeschlagene Alternative in der bundesrepublikanischen Ostpolitik bis in die sechziger Jahre obsolet werden.

»Argumentativer Antistalinismus«

Trotz seiner Fähigkeit, auf neue Situationen flexibel zu reagieren und alte Positionen auf den Prüfstand zu stellen, gab es für Reuter einige Grundüberzeugungen, an denen er bis zum Ende seines Lebens festhielt.

Dazu gehörte vor allem, die kommunistische Gefahr für die Freiheit West-Berlins nie aus dem Auge zu verlieren, darüber aber eine mögliche neue nazistische Gefahr nicht zu vergessen. Die von beiden ausgehende Bedrohung schien ihm vergleichbar zu sein, zumal die Art der terroristischen Machtausübung im nazistischen Deutschland und in der stalinistischen Sowjetunion für Reuter kaum Unterschiede aufzuweisen schien.
     Das wird in einer Rede deutlich, die Reuter während einer Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus in der Hinrichtungsstätte Plötzensee im Jahre 1950 hielt: »Bis zum Ende unseres Lebens, solange in uns ein Atemzug lebendig ist, wollen wir dafür kämpfen, dass ein solcher Schrecken nicht mehr möglich ist! In uns brennt es wie ein Brandmal, dass wir immer noch vor der gleichen Gefahr stehen. Es ist die Gefahr ... des bestialischen Unterdrückungswillens, es ist die gleiche Gefahr, wie auch die Banner aussehen mögen.«15) Er spielte damit natürlich auf die im Jahre 1950 noch keineswegs gebannte Bedrohung Berlins durch die sowjetische Deutschlandpolitik an. Das Zitat belegt auch, dass Reuter keinen platten Antikommunismus predigte, der den Mantel des Vergessens und Vergebens über den Nazismus breiten wollte, sondern er vertrat, wie Helga Grebing gerade für das Selbstverständnis vieler Remigranten betont hat, einen »argumentativen Antistalinismus«, der Remigranten wie Widerständler aus dem linkssozialistischen Lager gleichermaßen auszeichnete.16)
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   92   Porträt Der Politiker Ernst Reuter  Voriges BlattNächstes Blatt
     Aber den »platten« Antikommunismus gab es eben auch, vor allem in Berlin. Nicht wenige sahen in dem angesagten Kampf gegen den Kommunismus eine Möglichkeit, drängenden Fragen nach der Zeit des Nazismus auszuweichen. Die Remigranten hatten die Erfahrungen nach 1933 nicht »verdrängt«, und sie »verharmlosten« auch nicht den Nationalsozialismus. Aber nicht nur durch die in allen westlichen Besatzungszonen notwendige gemeinsame soziale und politische Aufbauarbeit, sondern vor allem durch den in Berlin besonders ausgeprägten »Widerstandskonsens« der Bevölkerung gegen die sowjetische Deutschlandpolitik neigten auch Remigranten in West-Berlin dazu, nicht »an der Schuld der Daheimgebliebenen« zu rühren.17) Reuter freilich ließ sich in dieser Frage nicht beirren. Er vermied die lauten Töne, aber er verwies immer wieder gerade auf die Verantwortung derjenigen, die die nazistische Barbarei überlebt hatten. Sie seien es den Opfern des Nazismus schuldig, in der Warnung vor neuen nazistischen Gefahren nicht nachzulassen. Kurz vor seinem Tode gab Reuter dieser Überzeugung noch einmal beredten Ausdruck. In einer Rede am 13. September 1953 in einer Feierstunde für die Opfer des Nazismus in Berlin- Plötzensee sagte er: »Es sind acht Jahre vergangen, seitdem das Regime unterging. Haben wir in diesen acht Jahren vor uns selber, vor unserem Gewissen, alles getan, was wir tun können, ... um die Wiederkehr solcher Furchtbarkeiten unmöglich zu machen? ... Es ist eine Frage, die vor jedem, der denkt, und vor jedem, der Verantwortung fühlt, Tag und Nacht lebendig mahnend wie eine Fackel steht.«18)
     Ernst Reuter starb am 29. September 1953 an einer Herzmuskellähmung. Die Spuren seines Wirkens als (seit 1951) Regierender Bürgermeister Berlins aber sind noch heute in der nun wieder vereinten Stadt sichtbar.

Quellen und Anmerkungen:
1 Zur Biographie vgl. - noch immer unverzichtbar-: Willy Brandt und Richard Lowenthal, Ernst Reuter - Ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biographie, München 1957, und neuerdings und ausgezeichnet: David Barclay, Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Reuter, Berlin 2000 (dort auch weitere neueste Literatur). Zu den Reden und Schriften vgl. Ernst Reuter, Schriften - Reden , hrsg. von Hans E. Hirschfeld und Hans J. Reichhardt, 4 Bände, Berlin 1972-1975
2 Ernst Reuter, Von Clara Zetkin zu Max Hoelz, in: Die Glocke vom 23. 4. 1924, zit. nach David Barclay, a. a. O., S. 100
3 Brief Ernst Reuters an Fritz Heine vom 19. Juli 1945, in: Archiv der sozialen Demokratie Bonn, Bestand Schumacher, Nr. 68
4 Brief Ernst Reuters an Fritz Heine vom 21. 6. 1946, in: Ernst Reuter, Schriften Reden, Bd. 2, Berlin 1973, S. 661
5 Ernst Reuter, Schriften Reden, Bd. 2, a. a. O., S. 539

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6 Vgl. dazu das Kapitel »Ernst Reuters Appell« in: Klaus Harpprecht, Thomas Mann. Eine Biographie, Berlin 1995, S. 1344 ff., besonders S. 1354. Der Brief von Reuter an Mann vom 17. 3. 1943 in: Ernst Reuter, Schriften Reden, Bd. 2, a. a. O., S. 520 ff.
7 Brief von Reuter an Elisabeth Howard vom 6. 9. 1935 in: ebenda, Bd. 2, S. 473
8 Brief von Reuter an Victor Schiff vom 6. 2. 1946 in: Ernst Reuter, Schriften Reden, Bd. 2, a. a. O., S. 622 ff. Vgl. auch Fußnote 6
9 Brief von Reuter an Fritz Neumark vom 12. 12. 1946 in: Ernst Reuter, Schriften Reden, Bd. 3, Berlin 1974, S. 81
10Vgl. die Briefe an Elisabeth Howard vom 27. 12. 1947 an seinen Bruder Karl vom 26. 12. 1947 und an Gustav Oelsner vom 28. 12. 1947 in: Ernst Reuter, Schriften - Reden, Bd. 3, a. a. O., S. 323 f., S. 325 f. und S. 327 f
11Vgl. dazu Harold Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, 4 Bde, Köln/ Opladen 1983 ff.
12Vgl. zur Durchsetzung Reuters in der Berliner Sozialdemokratie: Arthur Schlegelmilch, Otto Ostrowski und die Neuorientierung der Berliner Sozialdemokratie in der Viersektorenstadt Berlin in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 42, München 1994, S. 59-80, besonders S. 79
13Vgl. das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung des Parteivorstandes der SPD mit dem Berliner Landesvorstand vom 9. 9. 1951, in: Franz-Neumann- Archiv Berlin, Nachlass Neumann und den Jahresbericht der SPD Berlin 1951, S. 6
14Vgl. dazu die Rede Reuters am 30. 8. 1953 in Berlin: Deutschlands Einheit - Berlins Aufgabe, in: Ernst Reuter, Schriften - Reden, hrsg. von Hans E. Hirschfeld und Hans J. Reichhardt, Band 4, Berlin 1975, S. 772 f.
15Rede Reuters auf der Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus in der Hinrichtungsstätte Plötzensee am 10. 9. 1950 in: Ernst Reuter, Schriften Reden, Bd. 4, Berlin 1975, S. 247
16Vgl. Lehrstücke in Solidarität. Briefe und Biographien deutscher Sozialisten 1945-1949, hrsg. von Helga Grebing, Stuttgart 1983, S. 40
17Christa Fladhammer und Michael Wildt haben das für Hamburg konstatiert. Vgl. Christa Fladhammer/ Michael Wildt (Hrsg.), Max Bauer im Exil. Briefe und Reden aus den Jahren 1933-1946, Hamburg 1994, S. 82
18Die Rede ist zitiert nach: Willy Brandt und Richard Lowenthal, Ernst Reuter - Ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biographie, München 1957, S. 707 f.

Repros: LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/2001
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