197   Dokumentiert In Archiven gefunden  Nächstes Blatt
In Archiven gefunden

Zu den Kardinalfragen der Berliner Zeitgeschichte zählte - wie in diesem Sonderheft mehrfach debattiert - der völker- und staatsrechtliche Status von Berlin. Schon während der ersten Berlin- Krise von 1948/49 gehörten diese Rechtsfragen zum Gegenstand des Konflikts zwischen den Vier Mächten. Unter Berücksichtigung der Interessen der vierten Siegermacht wie auch der geopolitischen Lage der Stadt hatten die drei Westmächte in ihren Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom April 1949 Bestimmungen über »Groß-Berlin« als 12. Bundesland suspendiert. Dessen ungeachtet bemühte sich die politische Führung West-Berlins um eine Eingliederung in den kommenden Weststaat.
     Davon zeugen Berichte, die Willy Brandt als Berlin- Beauftragter des SPD- Parteivorstandes in Hannover verfasste.
     Das Ende der sowjetischen Blockade am 12. Mai 1949 brachte Berlin keine Ruhe, sondern neue Ungewissheit. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland trat mit der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 in ihre Schlussphase ein. Dieser Weg versprach Wiederaufbau dank Marshallplan, Schutz durch die im April 1949 gegründete NATO und Rückkehr in die westliche Staatengemeinschaft. Allerdings war ein Preis zu zahlen: die Einheit Deutschlands. Für die Mehrheit der Abgeordneten des Parlamentarischen Rates in Bonn war das ein notwendiges Übel.
     Auf einer Pressekonferenz am 20. April 1949 von dem Journalisten Wilhelm Karl Gerst befragt, ob nun die Ostzone abgeschrieben werde, gab der Präsident des bizonalen Wirtschaftsrates, Erich Köhler (CDU), zur Antwort: »Ich sehe im westdeutschen Bundesstaat - und ich glaube, das ist unser aller Herzenswunsch, meine Damen und Herren - die letzte Vorstufe zur gesamtdeutschen Einheit.

Aber wir wollen uns einmal einige geschichtliche Reminiszenzen vor Augen halten. Es ist schon einmal so gewesen, daß Gesamtdeutschland vom Westen her entstanden ist, das wissen wir alle: aus dem sogenannten westlichen Altdeutschland heraus. Dann kam die berühmte Zeit der Kolonisationspolitik östlich der Elbe im 12. und 13. Jahrhundert. Und heute sehe ich es als die historische Aufgabe Westdeutschlands an, diese seine Funktion, die es vor nahezu tausend Jahren ausgeübt hat, in absehbarer Zeit wieder zu erfüllen. Das kann, wie die Dinge nun einmal liegen, nur dadurch geschehen, daß dieses Westdeutschland, verkörpert im westdeutschen Bundesstaat, ausgestattet mit stärkeren Regierungsfunktionen als bisher, den Prozess seiner politischen, wirtschaftlichen, sozialen, finanziellen und kulturellen Konsolidierung so stark fortsetzt und zu einem solchen Ergebnis führt, daß damit ein politisches Aktivum in der Europa- und Weltpolitik entsteht, eine so große Saugkraft Westdeutschlands auf das übrige Restdeutschland, daß sich auf die Dauer auch des restliche Ostdeutschland und die in diesem Ostdeutschland augenblicklich regierende Macht ihrer nicht entziehen können.«1)
     Von der »Magnet- Theorie« war auch Oberbürgermeister Ernst Reuter (SPD) überzeugt. Anlässlich des Endes der Berlin- Blockade sagte er am 5. Mai 1949 im RIAS: »Unsere Aufgabe, die wir in Berlin zu lösen haben, fängt erst an. Wir müssen nicht nur West-Berlin, das wir jetzt endgültig gewonnen haben, verteidigen und halten. Wir müssen unsere Landsleute im Osten endgültig befreien.«2)
     Und Ende August 1949 ergänzte er: »Der Sinn der Deutschen Bundesrepublik wird nur erfüllt werden, wenn alle politischen und wirtschaftlichen Energien auf den Osten konzentriert werden, wenn die Aufgabe, diesen Osten zurückzugewinnen, als die eigentliche Aufgabe dieser Übergangslösung erkannt wird.«3)
BlattanfangNächstes Blatt

   198   Dokumentiert In Archiven gefunden  Voriges BlattNächstes Blatt
Doch Konrad Adenauer, der sich darauf vorbereitete, das Kanzleramt zu übernehmen, war - wie Willy Brandt mit Bedauern feststellte - »damals und später wenig daran interessiert, das Transitorische des westdeutschen Staatswesens zu betonen«.4) Seine Berlin- Aversion war sprichwörtlich; für ihn hatte ein nach Westen orientierter Staat mit einer linksrheinischen Hauptstadt absolute Priorität. Das erschwerte die Situation West-Berlins zusätzlich. »Wir Berliner« - so Brandt - »befanden uns in einer eigenartigen Zwitterstellung. Einerseits waren wir die energischsten Befürworter eines raschen und positiven Abschlusses der Bonner Beratungen. Andererseits waren wir die Stiefkinder des Grundgesetzes.«5)
     Der Sommer 1949 war für die Anschlusspolitiker eine Zeit quälender Ungewissheit. Die drei Westmächte blieben bei ihrer Grundsatzerklärung von April/Mai 1949, wonach »Groß-Berlin« (realiter West-Berlin) kein konstitutiver Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland sein konnte (vgl. BM 5/1999). Und die CDU, die in den ersten Bundestagswahlen im August 1949 die SPD knapp überrundete, fand sich damit ab.
     So verblieb dem Kreis um Reuter nur der Weg, die Westalliierten zu einer Korrektur ihrer Berlin-Haltung zu bewegen und dabei unterschiedliche Interessenlagen auszunutzen. Während die Franzosen einer Eingliederung Berlins in die Bundesrepublik ablehnend gegenüberstanden, sahen die Amerikaner und die Briten im Finanz- und Wirtschaftsbereich Schwierigkeiten auf sich zukommen, wenn sie diese Lasten nicht der Bundesrepublik aufbürdeten, und waren deshalb zu Kompromissen bereit, die ihren Nongoverning- Vorbehalt aber nicht in Zweifel setzen sollten. Bei der Auslotung dieser Möglichkeiten spielte Willy Brandt eine aktive Rolle. Als Berlin- Beauftragter des SPD- Vorstandes (vgl. BM 1/98) unterhielt er enge Kontakte zu westalliierten Kreisen.
Auch wenn er oft nur »Korridorgespräche« auffing, gaben seine wöchentlichen »Vertraulichen W. B. Berichte« nach Hannover ein aufschlussreiches Stimmungsbild wieder.
     Die Grundsatzposition der USA beschrieb Brandt anhand des Berichtes, den Ernst Reuter nach seiner Rückkehr aus Washington gab, am 9. April 1949 so: »Wir brauchen nicht zu befürchten, daß wir von den Amerikanern bei einer Änderung der russischen Politik in Stich gelassen würden. Bei Erörterung dieses Themas in Washington wurde Reuter mit der Bemerkung unterbrochen, es stehe außer jedem Zweifel, daß man nicht einfach zum Vorherigen zurückkehren kann.
     Militärisches Denken überschattet vielfach die politischen Erwägungen. Zu Lande ist Rußland noch zu stark, wenngleich auf allen anderen Gebieten eine große Überlegenheit des Westens zu verzeichnen ist. Man hat in amerikanischen Kreisen das Gefühl, daß die Russen unsicher geworden seien und einen Weg suchen, die Blockade aufzuheben.(...) Es bestehe keine Neigung, das Bonner Programm aufzugeben. Im Gegenteil sei man sich darüber im klaren, daß man mit den Russen nur durch das Schaffen fester Tatsachen weiter komme. (...) Das State Department versucht, bei den Franzosen die Anerkennung Berlins als Land durchzusetzen. (...)
     Die antideutsche Stimmung in den USA ist keineswegs überwunden und das Fehlen einer politisch legitimierten Vertretung macht sich stark bemerkbar. Wir haben nach Reuters Meinung die Chance, die amerikanische Politik weitgehend auf unsere Seite zu bekommen. Voraussetzung dafür ist allerdings, >daß wir in Berlin zurande kommen<.«6)
     Die Pariser Außenministerkonferenz vom 23. Mai bis 20. Juni 1949 ging ohne greifbare Ergebnisse in der deutschen und Berliner Frage auseinander. Man einigte sich auf einen Modus vivendi, der jederzeit von der einen oder anderen Seite außer Kraft gesetzt werden konnte.
BlattanfangNächstes Blatt

   199   Dokumentiert In Archiven gefunden  Voriges BlattNächstes Blatt
Über Gespräche mit amerikanischen und britischen Offiziellen berichtete Willy Brandt am 29. Juni 1949 an den SPD- Parteivorstand in Hannover:
     »Die pessimistischen Beobachter rechnen mit der Möglichkeit, daß das Interesse der Westalliierten an einer gesamtdeutschen Lösung immer mehr erlahmen könnte, soweit ein echtes Interesse dieser Art überhaupt positiver Bestandteil westlicher Politik gewesen ist. Von den bekannten französischen und zum Teil britischen Vorbehalten ganz abgesehen, scheint auch in amerikanischen Kreisen der Gedanke eine Rolle zu spielen, eine weltweite relative Entspannung dürfe an der Deutschlandfrage nicht scheitern. Hinzu kommt, daß sich rein arbeitsmäßig das Schwergewicht der alliierten Politik von Berlin nach dem Westen verlagert hat und noch weiter verlagert, woraus sich auch ein gemindertes Interesse an dem Schicksal der Ostzone ergibt.
     Gerade für Berlin wird eine Ablösung der Bewegungskriegführung durch den politischen Stellungskrieg erwartet. Die ersten Schritte in dieser Richtung sind bereits erfolgt. Das bedeutet nicht, daß man von amerikanischer oder englischer Seite geneigt ist, Berlin preiszugeben, aber es entsteht die Frage, ob Berlin ohne feste Verbindung mit dem Westen existieren kann und ob eine betonte Rücksichtnahme auf den Osten nicht auch zu ernsten politischen Erschütterungen führen kann.«7)
     Unter Bewegungskrieg verstand man ein Weiterverhandeln mit den Sowjets, wie es zwischen Juni und September 1949 auf der Ebene der vier Berliner Stadtkommandanten geschah (vgl. BM 8/99). Stellungskrieg meinte, sich auf die Bundesrepublik zu konzentrieren und die Reaktion der Sowjetunion - man rechnete in Bälde mit der Proklamation eines Ostzonen- Staates - in Ruhe abzuwarten. Am 22. August 1949 schrieb Willy Brandt: »Ein amerikanischer Teilnehmer an der Besprechung der Vier Kommandanten in der vergangenen Woche gab einen deprimierenden Bericht. (...)
Der Betreffende sagte, die beiden anderen Westmächte lebten in der Illusion, sie könnten die Berliner Einheit isoliert wieder herstellen. Die von ihm und anderen Vertretern der amerikanischen Verwaltung intern zum Ausdruck gebrachte Auffassung geht demgegenüber dahin, daß es zur Einheit Berlins erst wieder auf dem Weg zur Einheit Deutschlands kommen werde.
     Für uns ergibt sich jetzt eine praktische Frage von einiger Bedeutung. Aus dem Bestreben, Berlin so stark wie möglich mit der Bundesrepublik zu verflechten, ist die Vorstellung entstanden, man solle erklären, daß Berlin alle Bundesgesetze als für sich bindend betrachte. Meiner Meinung nach hieße das, zu weit zu gehen. Solange andere uns nicht vollberechtigt als 12. Land hinzukommen lassen und die Bundesgesetze sowieso vom Stadtparlament bestätigt werden müssen, können wir unsere Eigenverantwortlichkeit nicht preisgeben. Ich wäre für eine prinzipielle Erklärung im Sinne der Geltendmachung von Bundesgesetzen für Berlin, aber mit dem Vorbehalt der Rücksichtnahme auf die sich aus der besonderen Berliner Lage ergebenden Bedingungen.«8)
     Inzwischen sickerten Presseberichte durch, wonach es zwischen Washington und London eine Abstimmung in der Berliner Frage gegeben hätte. Willy Brandt eruierte die Dinge über seine Kontakte und schickte die Erkenntnisse umgehend an den SPD- Parteivorstand.

     »W. B. Bericht Nr. 332 - Vertraulich - Berlin, d. 24. 8. 49
     Einbeziehung Berlins als 12. Land.
     1. Heute Nachmittag hatte ich eine Unterhaltung mit Duncan Wilson (Mitarbeiter der britischen Militärregierung). Wir sind, so führte W. aus, sehr daran interessiert, daß die seinerzeitige Bestimmung der Außenminister über Berlin (BM 5/1999) einer Revision unterzogen wird. Mit >wir< meinte er - das ergab sich aus dem Zusammenhang - die britische Vertretung in Deutschland einschließlich ihrer obersten Spitze.

BlattanfangNächstes Blatt

   200   Dokumentiert In Archiven gefunden  Voriges BlattNächstes Blatt
Sie stünden >auf unserer Seite< und setzten sich für die erforderlichen Schritte ein.
     Er möchte aber hinzufügen, daß die Angelegenheit so wenig wie möglich in der Presse breitgetreten werden sollte. Es könnten lediglich Komplikationen entstehen, wenn die Zeitungen bald den einen, bald den anderen alliierten Beamten als Befürworter einer neuen Politik in der Berliner Frage zitierten. W. ließ durchblicken, daß Bevin (britischer Außenminister) für die hier vertretene Linie noch nicht gewonnen ist. Die Sache würde ihm in Verbindung mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten Berlins unterbreitet werden (vgl. BM 10/2000). Man könne von der Bundesregierung keine ausreichende Unterstützung Berlins erwarten, falls dieses nicht wirklich zum Bundesgebiet gehöre.
     Auf meine Frage, ob der französische Widerstand unverändert sei, antwortete W., die bekannten Vorbehalte der Franzosen würden wohl aufrechterhalten werden, mit welcher Stärke lasse sich jedoch nicht voraussagen. Falls eine neue Sitzung der vier Außenminister anberaumt werde, würden die Franzosen jedenfalls darauf drängen, daß man zuvor keine Entscheidungen wegen Berlin fälle. London vermöge allerdings den Nutzen einer Sitzung des Außenministerrates in diesem Herbst nicht einzusehen.
     Im Verlauf unseres Gesprächs gab ich Duncan Wilson auch von der Information aus dem internen Nachrichtenmaterial des DPD (Deutscher Presse- Dienst) Kenntnis, auf die mich Fritz Heine [Mitglied des SPD- Parteivorstandes] gestern Nachmittag hingewiesen hatte und die mir heute früh als Fernschreiben übermittelt wurde. W. bemerkte dazu sinngemäß, man sollte Gespräche mit Beamten einzelner Fachabteilungen nicht überbewerten. Er schien nicht die im Mittelpunkt der erwähnten Information stehende Auffassung zu teilen, >alle Entscheidungen über Berlin müßten von deutscher Seite getroffen werden<.
Als sinnvoll erschiene ihm, wenn auch von deutscher Seite der wirtschaftliche Zwang zur Einbeziehung stark betont würde.
     2. Die vertrauliche DPD- Meldung selbst hatte folgenden Wortlaut: Die Entscheidung, ob Berlin als zwölftes Land in den Bund einbezogen werden soll, werde zum großen Teil auch von parteitaktischen Erwägungen bestimmt sein, so meint man an verantwortlicher britischer Stelle. Berlin als Bundesland wäre andererseits eine Voraussetzung für die Verlegung wesentlicher Bundesdienststellen nach Berlin. Von britischer Seite wird nach wie vor eine Unterstützung aller Bestrebungen zugesagt, die zu dem letzteren Ziel beitragen können. Man verhält sich sehr zögernd im Hinblick auf Entscheidungen über die Verlegung britischer Dienststellen von Berlin, da erhofft wird, daß mindestens größere Teile der britischen Verwaltungsinstanzen in Berlin bleiben können. Alle Entscheidungen über Berlin müßten aber von deutscher Seite getroffen werden. Die Westalliierten würden vermutlich zustimmen, daß Berlin als zwölftes Land eingegliedert wird. Das würde bedeuten, daß Berlin auch zahlenmäßig mit entsprechenden Abgeordneten in das Bundesparlament einzieht. Bei dem Übergewicht sozialdemokratischer Abgeordneter in Berlin, das wohl auch bei Neuwahlen bleiben würde, könnte es zu einer entscheidenden Verschiebung im Bundestag kommen. Es sei möglich, daß aus diesen Erwägungen von der CDU gegen die stärkere Einschaltung Berlins Bedenken geltend gemacht würden. (...)
     5. Gestern Abend sprach ich auch mit dem Gen. Reuter. (...) Ernst Reuter bat mich, mitzuteilen, daß er unabhängig davon die Absicht gehabt habe, McCloy [US- Militärgouverneur] bei nächster Gelegenheit aufzusuchen und ihm klarzumachen, daß sich die Lage Berlins durch den Status eines 12. Landes wesentlich verbessern würde. (...)
BlattanfangNächstes Blatt

   201   Dokumentiert In Archiven gefunden  Voriges BlattNächstes Blatt
     Reuter meinte, die Amerikaner hätten die Richtigkeit dieses Kurses bereits eher eingesehen. Angesichts der zutage getretenen Schwierigkeiten seien aber vielleicht auch die Engländer bereit, die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. Durch eine Klärung der staatsrechtlichen Dinge würde sich nicht nur die psychologische Situation bessern, sondern auch in praktischen Fragen eine wesentliche Erleichterung ergeben, beispielsweise für die Berliner Zentralbank, die Aufwertung der Altkonten und vor allem für die Einschätzung des Risikofaktors seitens der westdeutschen Wirtschaft. Gen. Reuter hält es nicht für sehr wahrscheinlich, daß die CDU einer positiven Stellungnahme des Bundestages widersprechen würde. An den Mehrheitsverhältnissen würde sich selbst im Fall einer starken Berliner SPD- Fraktion nichts ändern. (...)
     6. Wenn der PV (SPD- Parteivorstand) dazu Stellung nimmt, welche Initiative wir im Bundestag in der Berliner Frage ergreifen könnten, verdienten die folgenden Punkte besondere Beachtung:
     a) Für Berlin ist es ganz einfach eine Lebensnotwendigkeit, daß es wirtschaftlich und finanziell mit dem Westen fest verbunden wird. Das wird ohne Einbeziehung in die Bundesrepublik kaum in ausreichendem Maße zu erzielen sein.
     b) Für die Bundesrepublik wäre die Einbeziehung Berlins der gegenwärtig mögliche, aber auch entscheidende Schritt auf dem Wege zur Wiedergewinnung der Ostzone.
     c) Die außenpolitischen Bedingungen scheinen sich für die Eingliederung Berlins als 12. Land zu verbessern und können eine Aufhebung der Suspension der diesbezüglichen Artikel des Grundgesetzes in näherer Zukunft zur Folge haben.
     d) Die Partei würde durch Berliner Wahlen zur stärksten Fraktion im Bundestag werden und ihr politisches Gewicht damit stärker einsetzen können. Es mag zweifelhaft sein, ob sich daraus Veränderungen für die Regierungsbildung ergeben würden oder ob solche Veränderungen in gegebener Lage wünschenswert wären.
Jedenfalls könnte die Partei als stärkste Fraktion den Bundespräsidenten beanspruchen.«9)
     Einen Tag nach diesem Bericht - am 25. August 1949 - hatte Willy Brandt ein Gespräch mit dem für Deutschland- Fragen zuständigen Minister de Noblet. Die Franzosen hatten sich bislang gegen eine Eingliederung West-Berlins als 12. Bundesland gestellt. Was er in Erfahrung brachte, stimmte ihn hoffnungsvoll:
     »Das Gespräch endete bald bei den aktuellen Schwierigkeiten Berlins, seinem Status und seinem Verhältnis zur Bundesrepublik. Noblet wollte anfangs keine der von mir vorgetragenen Gesichtspunkte für eine rasche Einbeziehung anerkennen. Er meinte, die Vorteile müssten gegen die Nachteile abgewogen werden. Eine wirtschaftliche Einbeziehung sei ja bereits vorhanden und die Subventionierung Berlins sei nicht an staatsrechtlichen Formen gebunden. Schließlich sagte er aber, er müsse mein Argument akzeptieren, daß sich aus der staatsrechtlichen Einbeziehung eine Verpflichtung für den Westen und eine Minderung des wirtschaftlichen Risiko- Moments ergebe.
     Noblet meinte, man solle versuchen, den kalten Krieg nicht wieder ausbrechen zu lassen. Diese Gefahr bestünde aber bei überstürzter Einbeziehung Berlins. Es sei auch noch keineswegs klar, auf welchem Wege eine Besserung der Verhältnisse in der Ostzone erzielt werden könne. Wahrscheinlich bestände die Gefahr, daß durch ein Wiederaufleben der Blockadeatmosphäre nicht eine Erleichterung, sondern eine weitere Erschwerung für die Bevölkerung in der Zone eintreten würde.
     Von besonderem Interesse war jedoch, daß N. mehrfach unterstrich, es handle sich bei der französischen Haltung nicht - oder nicht mehr - um eine Frage des Prinzips, sondern um eine Frage der Opportunität. Auf den Zeitpunkt komme es entscheidend an. Wenn die Russen demnächst eine ostdeutsche Regierung mit dem Sitz in Ostberlin bilden sollten, würde kein Grund mehr vorliegen, sich der Einbeziehung Westberlins als 12. Land zu widersetzen.
BlattanfangNächstes Blatt

   202   Dokumentiert In Archiven gefunden  Voriges BlattArtikelanfang
Falls die Ostregierung aber ihren Sitz etwa in Leipzig hätte, würden die Franzosen geneigt sein, für Berlin weiterhin einen Zwischenstatus zu befürworten.«10)
     Am Tag nach der Gründung der DDR wandte sich die im Rathaus Schöneberg tagende Stadtverordnetenversammlung an die Westalliierten mit der Bitte, angesichts der »völlig neuen Lage« die Eingliederung Berlins als 12. Land in die Bundesrepublik zu genehmigen. Gleichzeitig wurde die Bundesregierung aufgefordert, durch die sofortige Verlegung oberster Organe die Hauptstadtrolle Berlins demonstrativ zu unterstreichen. Aber die Westmächte winkten ab; sie wünschten keine erneute Zuspitzung der Lage in und um Berlin. Auch der neue Bundeskanzler Konrad Adenauer nannte gegenüber den westalliierten Hochkommissaren eine Einbeziehung Berlins als 12. Land »nicht ratsam und unnötig«.11)
     In einem seiner letzten Berichte an den SPD- Vorstand gab Willy Brandt die Enttäuschung im Berliner Landesvorstand der Partei wie folgt wieder: »Bei Diskussionen in unserem Berliner LV ist die Auffassung vertreten worden, daß der materielle Inhalt dessen, was jetzt mit der Bildung der Ostregierung eingetreten ist, eigentlich nur eine logische Konsequenz der Pariser Konferenz darstellt. Man befürchtet auch, daß zwischen den Großmächten weitgehendes Einverständnis darüber herrscht, Berlin nicht den Weg zur Bundesrepublik zu öffnen. Ein englischer Vertreter sagte neulich, die Russen seien bestrebt, die Regelung der Berliner Frage zu einer >Angelegenheit der Deutschen< zu erklären.«12)
     Am 27. Oktober 1949 musste Oberbürgermeister ernst Reuter vor der Stadtverordnetenversammlung eingestehen: »Die Anerkennung Berlins als zwölftes Land ist vorläufig noch nicht ausgesprochen.«13) Es brauchte noch Zeit, um in den Wechselfällen des Kalten Krieges diesen Wunsch schrittweise - sozusagen mit einer »Salami- Taktik« à la West - zu erfüllen.

(Zusammengestellt von Gerhard Keiderling)

Anmerkungen:
1 Bundesarchiv Koblenz, Z 3, Anh. 7, Bl. 30
2 Ernst Reuter. Artikel, Briefe, Reden, 1946 bis 1949. Bearbeitet von Hans J. Reichhardt, Bd. 3, Berlin (West) 1974, S. 731
3 Willy Brandt/ Richard Lowenthal: Ernst Reuter. Eine politische Biographie, München 1957, S. 540
4 Willy Brandt: Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania, München 1960, S. 262
5 Ebenda, S. 263
6 Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert- Stiftung, Bonn- Bad Godesberg, Bestand Schumacher, Nr. 127 a, W. B. Bericht Nr. 231 vom 9. April 1949
7 Ebenda, Bestand Schumacher, Nr. 127 b, W. B. Bericht Nr. 303 vom 29. Juni 1949
8 Ebenda, Bestand Schumacher, Nr. 127 b, W. B. Bericht Nr. 323 vom 22. August 1949
9 Ebenda, Bestand Schumacher, Nr. 127 b, W. B. Bericht Nr. 332 vom 24. August 1949
10 Ebenda, Bestand Schumacher, Nr. 127 b, W. B. Bericht Nr. 333 vom 26. August 1949
11 Brandt/ Lowenthal: Ernst Reuter, S. 540
12 Archiv der sozialen Demokratie, Bestand Schumacher, Nr. 127 b, W. B. Bericht Nr. 355 vom 18. Oktober 1949
13 Stenographische Berichte der Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin, 30. Ordentliche Sitzung vom 27. Oktober 1949, S. 17
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/2001
www.berlinische-monatsschrift.de