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Festungsstadt, wasserumflossen

Andrea Theissen über die kontinuierlichen Wandlungen Spandaus

Berlin verändert sein Gesicht und auch seine Verwaltungsstruktur. Aus dreiundzwanzig Stadtbezirken werden zwölf. So sieht es das Gebietsreformgesetz vom 10. Juni 1998 vor. Was seit dem 1. Oktober 1920 der Stadt eine »innere Ordnung« gab, verändert in den siebziger und den achtziger Jahren nur durch die drei neuen Großsiedlungsbezirke Hohenschönhausen, Marzahn und Hellersdorf, ist nun bald perdu. Die Leiter von Heimatmuseen der Stadtbezirke erleben diese Schnitte in die Berliner Seele ganz aus der Nähe mit. Allein Neukölln, Reinickendorf und auch Spandau bleiben in der bisherigen Gestalt. Die Gesprächspartnerin diesmal: Andrea Theissen (Spandau)

Bekanntlich identifizieren sich die Berliner vor allem mit ihrem Kiez, erst in zweiter Linie mit dem Bezirk und der Gesamtstadt. In den anderen Stadtbezirken gab es heftige Diskussionen um die Zusammenlegung der Stadtbezirke. Wie weit konnten sich die Spandauer zurücklehnen?
     Andrea Theissen: Es ist einfach ein Punkt weniger zu bedenken, ich weiß ja, wie schwierig in anderen Bezirken der Fusionsprozess verläuft.

Natürlich wäre ein Zusammengehen mit Charlottenburg durchaus eine denkbare Konstruktion, es wäre auch eine inhaltliche Bereicherung gewesen. Aber insgesamt können wir froh sein, dass wir von der Fusion nicht betroffen sind, denn Spandau ist auf Grund seiner Geschichte auch heute noch mehr als ein Berliner Bezirk.

Was hat Spandau im 20. Jahrhundert für die Entwicklung Berlins bedeutet, welche Traditionen sind mit ihm verbunden?
     Andrea Theissen: Emil Müller, Maurermeister und unbesoldeter Stadtrat, sprach am 3. April 1911 bei der Grundsteinlegung des neuen Rathauses:
     »Mög' schützen uns des Kaisers Hand / vor Gross-Berlin und Zweckverband«. Die Spandauer wollten auf keinen Fall zu Berlin. Die Eingemeindung 1920 stieß so auf eine gewisse Reserviertheit, auf die Angst, vereinnahmt zu werden. Spandaus Selbstbewusstsein bekam damals einen gehörigen Knacks. Immerhin war Spandau erstmals urkundlich schon 1197 erwähnt, bekam 1232 Stadtrecht und ist demnach älter als Berlin. Traditionell waren die Bindungen zum Havelland bestimmend, nicht zu Unrecht nannte man Spandau »die Perle des Havellandes«. Und man stellte hier Ihre Frage eher andersherum, nämlich: »Was bedeutet Berlin für Spandau?« Wenn die Leute hier sagen, »ich fahre in die Stadt«, dann ist Spandau gemeint, ansonsten sagen sie, »ich fahre nach Berlin«.

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Spandau hat viele Seiten: Zum einen haben Zitadelle und Stadtfestung die märkische Kleinstadt Jahrhunderte lang geprägt. Sie wurde schon seit 1722 mit der Anlage der Gewehrfabrik »Waffenschmiede Preußens«, und während des Ersten Weltkrieges arbeiteten annähernd 70 000 Menschen in den Militärbetrieben. Der Vertrag von Versailles machte dem ein Ende und bedeutete eine totale Umstellung auf Zivilproduktion. Ganz plötzlich gab es für sehr viele Einwohner keine Arbeit mehr, das war ein ganz großes Problem. Nach 1933 ging dann rund um die Zitadelle die Waffenproduktion weiter. Auf der Zitadelle selbst schleiften die Nazis den so genannten Kavalier (Kanonenturm) der Bastion Brandenburg und bauten dort ein Laborgebäude für die Heeresgasschutzlaboratorien, die von 1935-1945 in der Zitadelle für Kriegszwecke forschten. Hier wurde Giftgas getestet und im Labormaßstab in kleineren Mengen auch produziert. Die Briten haben 1946 das Gelände nach Rückständen abgesucht, von 1988-1993 hat die PTU (Polizeitechnische Untersuchungsabteilung) auf dem Gelände weitere Prüfungen vorgenommen, was natürlich die Restaurierung bremste. Zum anderen war Spandau Gefängnis für Berlin, das kann man nicht verschweigen. So wurden schon die 48-er Märzkämpfer zu Verhören in die Zitadelle gebracht. Berühmt sind die Revolutionäre Gottfried Kinkel (1815-1882) und Carl Schurz (1829-1906), die 1848/49 für eine deutsche Republik gekämpft hatten. Kinkel saß im Zucht- und Spinnhaus in der Altstadt (heute: Carl-Schurz- Straße) ein und floh mit Schurz Hilfe 1850 aus preußischer Haft. Spandaus damaliger Bürgermeister Eduard Zimmermann (1811-1880), der sogar die schwarzrotgoldene Fahne über der Zitadelle gehisst hatte und 1850 wegen »Landesverrats« zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, entzog sich ebenfalls durch Flucht einer Haft. Das später in der Wilhelmstraße - nicht in der Zitadelle - gebaute hochsichere Festungsgefängnis wurde nach 1945 Kriegsverbrechergefängnis. Es ist 1987, fünf Wochen nach dem Tod des letzten Insassen, mit seinen 400 leeren Zellen auf Befehl des britischen Stadtkommandanten komplett abgerissen worden. Das war ein Sonderfall in der deutschen und Berliner Nachkriegssituation: Militäreinheiten aller vier Siegermächte bewachten das brisante Gefängnis über vier Jahrzehnte lang im Vier-Wochen- Wechsel.
     Zum Dritten behinderte das Befestigungssystem mit seinen Bauverboten im Festungsvorfeld die Ausdehnung der Stadt und die Entwicklung ziviler Fabriken. Erst 1903 ist Spandau entfestigt worden, viel später als die meisten anderen mitteleuropäischen Städte, erst dann boomte die Industrie.
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In den zwanziger Jahren, als schnell auf Zivilproduktion umgestellt werden musste, ließ man sich alles Mögliche einfallen, so ist das ab 1920 mit einer jährlichen Stückzahl von 20 000 gefertigte D-Rad (»Spandauer Springbock«) der Deutschen Industrie- Werke ein typisches Konversionsprodukt (ab 1932: NSU). Auch die Spandauer Autoproduktion von Siemens (»Protos«), später AEG, der amerikanischen Firma Hudson- Essex, DKW und nach 1945 die Motorradproduktion von BMW Spandau, seit 1980 auch die Herstellung von Neoplan- Bussen, prägte und prägt Spandau. So ist der Stadtbezirk ein
Andrea Theissen vor dem DKW- Roadster, Baujahr 1928. Ständige Sammlung des Stadtgeschichtlichen Museums Spandau auf der Zitadelle
wichtiger Industriestandort Berlins geworden. Viertens ist Spandau schon seit Beginn der Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs Ausflugsziel gewesen, zur Zeit der Teilung wurde unser sehr wald- und wasserreicher Bezirk mit Kladow und Gatow ein bevorzugtes Westberliner Naherholungsgebiet. Aber nicht nur die Natur war und ist interessant, sondern auch die Altstadt. Sie ist weitgehend in ihrer Struktur erhalten geblieben. Wo sonst gibt es noch eine Stadt im Weichbild Berlins, die diesen kleinstädtischen Charakter erhalten hat, Köpenick einmal ausgenommen! In Spandaus Gemäuern atmet die Geschichte, wo doch sonst in Berlin immer alles abgerissen und neu aufgebaut wird. Allerdings hätte Spandau im letzten Jahrhundert gern mehr kulturelles Flair gehabt. Direkt am Rathaus auf dem Terrain der 1903 geschleiften Bastion I der Stadtbefestigung wollte man ein Theater bauen, daraus ist aber aus finanziellen Gründen, letztlich wohl auch wegen Konkurrenz der übermächtigen Berliner Kultur, nichts geworden. Unsere Altstadtsanierung erwuchs aus einer Bürgerinitiative von Anwohnern, die historisch interessiert waren und sich gegen die Pläne für eine autogerechte Stadt wandten. Auch unsere Dependance auf einem Grundstück an Breiter Straße und Havel, das Gotische Haus, ein Bürgerhaus aus dem 15. Jahrhundert, konnte so erhalten werden.
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Manch Keller zeugt noch von originaler mittelalterlicher Bausubstanz.

Was hat sich im Bezirk Spandau seit der Wiedervereinigung der Stadt verändert?
     Andrea Theissen: Spandau ist der einzige Bezirk Berlins, der Territorium hinzugewann. Nämlich das Wohngebiet Staaken- West, das 1950 an die DDR gefallen war, nachdem die britischen Interessengebiete um den Flugplatz Gatow im Tausch schon längst zum britischen Sektor gekommen waren. Das Fort Hahneberg, das Ende des 19. Jahrhunderts erbaut worden war und jahrzehntelang im Sperrgebiet an der Grenze lag, ist von einer Bürgerinitiative als phantastische Ruine gesichert worden, einerseits romantisch, andererseits charakteristische Festungsarchitektur. Die Immobilie gehört jetzt ins Fachvermögen der Abteilung Kultur, Bildung und Sport des Bezirksamts Spandau.
     Bis zu Beginn der neunziger Jahre war Spandau durch die Anwesenheit des britischen Militärs geprägt, nach dem Abzug ist eine starke Präsenz der Bundeswehr, insbesondere der Luftwaffe, entstanden, auch Ausbildungseinheiten und das Luftwaffenmuseum in Gatow sind da einzuschließen.
     Natürlich hat sich die Funktion Spandaus verändert. So ist es heute nicht mehr der ultimative Ausflugsort, das hat sich aufs Normalmaß eingepegelt.

Nach 1990 wurde Spandau als westlicher Bezirk Berlins zunächst ein Handelszentrum für das brandenburgische Umland, inzwischen zog manche Handelseinrichtung auf die grüne Wiese. Aber unsere Altstadt dicht an der Havel soll künftig mit ihrer sowohl kleinals auch großstädtischen Handels-, Gastronomie- und Kulturstruktur noch mehr zum Flanieren einladen. Daran arbeiten wir zumindest.

Wie geht es mit dem Heimatmuseum weiter?
     Andrea Theissen: Das Besondere des Stadtgeschichtlichen Museums Spandau ist, dass es sich, auch im Zuge der Restaurierung der Zitadelle, sehr ausdehnt. So bin ich neben meinen Funktionen als Museums- und Kunstamtsleiterin auch noch Hausherrin der Zitadelle.
     Unser Hauptgebäude befindet sich innerhalb der Zitadellenmauern im ehemaligen Zeughaus und wurde als Museum 1992 eröffnet. Im Erdgeschoss haben wir die ständige Ausstellung zur Stadtgeschichte Spandaus, und im Obergeschoss ist Raum für Wechselausstellungen zu Themen, die immer wieder den Nerv der Spandauer treffen. 1994 waren das die Ausflugslokale entlang der Havel, ein Projekt, das wir gemeinsam mit den Museen Brandenburg/ Havel, Potsdam, Wilmersdorf und Zehlendorf erarbeitet haben. Den hundertjährigen Spandauer Fahrzeugbau stellten wir in der Ausstellung »Zweirad Vierrad Allrad« vor.

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Wir befassten uns mit der Geschichte der Spandauer Waffenproduktion bis 1918, und zum 50. Jahrestag des Kriegsendes beleuchteten wir die Rolle der Zitadelle für die Wehrmacht. Wir sprachen mit dem sowjetischen Zeitzeugen Wladimir Gall, der damals als Parlamentär in die Zitadelle kletterte und die kampflose Übergabe erreichte und uns wieder besucht hat. Der Konrad-Wolf- Filmklassiker »Ich war neunzehn«, den wir zeigten, fußt maßgeblich auf dessen Spandauer Erlebnissen. Unser Museum besitzt 30 000 Fotografien, von denen schon viele publiziert wurden. Letztes Jahr zeigten wir bis Jahresende unter dem Titel »Bitte recht freundlich!« den sozusagen privaten Bestand: Spandauer Bürgerbilder in Familien-, Klassen-, Vereins- und Firmenfotos.
     Unser großes Projekt zum Preußenjahr 2001 ist die Darstellung der Geschichte der Festungen Küstrin, Peitz und Spandau in der großen gemeinsamen Berlin- Brandenburgischen Landesausstellung.
     In unserer Ständigen Ausstellung im Gotischen Haus in der Altstadt zeigen wir Bauen und Wohnen in Spandau vom Mittelalter bis zur Altstadtsanierung.
     Zum Museum Zitadelle gehört auch der archäologische Bereich beim Juliusturm, der auf Anfrage zugänglich ist und in einer Ausstellung des Archäologischen Landesamtes die Reste der Vorgängerburganlagen zeigt. Außerdem zeigen wir in der Bastion König 70 jüdische Grabsteine, die bei den Ausgrabungen in den Fundamenten des Palas gefunden wurden. Der älteste stammt von 1244, ist damit zugleich der älteste Berliner Grabstein überhaupt, der jüngste ist von 1474.
Unser großes wissenschaftliches Archiv ging aus dem Spandauer Ratsarchiv hervor. Erwähnenswert ist auch, dass auf der Zitadelle im Atelier- und Werkstatthaus (Haus 4) Künstler und Kunsthandwerker arbeiten, die das kulturelle Leben in Spandau bereichern.

Heimatmuseen fühlen sich zuständig für den Kiez und seine Tradition. Wie kann man den Menschen dieses Heimatgefühl erhalten?
     Andrea Theissen: Heimatverbundenheit spielt in Spandau eine sehr große Rolle. Meinem Büro gegenüber ist der Sitz unserer großen und sehr aktiven Heimatkundlichen Vereinigung. Sie hat über 600 Mitglieder. Sie unterstützt den Aufbau des Museums sowohl finanziell als auch ideell und organisiert eigene Ausstellungen. Unser vielseitiges Museum ist auch für junge Leute und schon für Kinder ein sehr geeigneter Ort, eigene Standpunkte zu suchen und zu finden. Ich möchte nur erwähnen, dass wir ein Puppentheater im Areal haben und - in unserer nun friedfertigen Umgebung - jährlich das Museumskinderfest feiern.

Um die Namen der neuen Bezirke wurde und wird überall heftig gestritten. Spandau hat solch erneuten Angriff auf sein Selbstbewusstsein wohl nicht zu fürchten?
     Andrea Theissen: Glücklicherweise nein. Ich bedauere alle Kollegen, die darüber entscheiden müssen.

Das Gespräch führte Bernd S. Meyer
Foto: Bernd S. Meyer

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/2001
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