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Thomas Schaefer
Chöre in Berlin

Ausgabe 2000/2001
Thomas Schaefer Verlag Bremen

Schon wieder ein neues Berlin- Buch? Niemand wird daran zweifeln, dass es ein umfangreiches Angebot an Berlin- Literatur gibt. Diesbezügliche Bibliografien umfassen Bände, müssen ständig ergänzt werden. Und die behandelten Themen, historischen Epochen, zum Teil weitschweifige Überblicke oder ins Einzelne gehende Detaildarstellungen scheinen keine noch so winzige Ecke und Begebenheit unerforscht zu lassen. Umso mehr macht es Staunen, wenn eine absolute Novität erscheint: Chöre in Berlin. Wie konnte man bislang ohne dieses Buch auskommen? Schon jetzt meine ich, dass es sich um ein künftiges Standard- Nachschlagewerk handelt, um den »Chor- Schaefer«, der sich an ein breites Publikum wendet.
     Was bringen diese 370 Seiten? Natürlich zunächst einmal in ihrem Hauptteil eine detaillierte Einzeldarstellung von in Berlin wirkenden Chören mit kleinen Abstechern nach Potsdam. Erfasst sind etwa 150 der etwa 200 Berliner Chöre. Das ist - wie der Autor betont - keine von ihm vorgenommene Selektion, sondern hängt zum Teil mit dem unterschiedlichen Organisationsstatus zusammen, sodass »der eine oder andere Chor >unrecherchiert< geblieben« ist. Der Verlag stellt aber in Aussicht, dieses Buch in gewissen Abständen zu aktualisieren.
     Die Chöre werden in der Regel mit Bild und ihrem ebenfalls abgebildeten Chorleiter dargestellt. Selbst wenn man meint, einige Berliner Chöre zu kennen, ist man doch erstaunt über diese reiche Szene. Das gibt es in keiner anderen deutschen Stadt.

Ob Mann oder Frau, ob Jung oder Alt, ob Profi oder Amateur, ob schwul oder lesbisch, ob Seemann (in Berlin!), Bäcker, Lehrer oder bei der Post, ob katholisch, evangelisch, jüdisch oder keiner Religionsgemeinschaft zugehörig, ob Bach oder dem Jazz zugetan, ob mit Notenkenntnissen oder ohne, ob Afrikaner oder Chinese, ob ..., es ist - so scheint es beim Durchblättern - keine Möglichkeit ausgelassen, seinen spezifischen Chor zu finden. (Der Leser sehe mir diese willkürliche Zusammenstellung von eigentlich nicht Zusammengehörigem nach, aber die Vielfalt ist wirklich beeindruckend.) Jeder Berliner Stadtbezirk ist vertreten. Jede Größe ist zu finden. Alles in guter Ausstattung, hilfreich und verständlich gegliedert, reich bebildert in einem ansprechenden Layout. Ergänzt wird das Ganze noch durch einführende Beiträge über das regelmäßig stattfindende Treffen von Berliner Chören »Singende, klingende Stadt« und über Chormusik in der DDR.
     Der Autor Thomas Schaefer wendet sich an Menschen, »die auf der Suche nach einem passenden Chor sind« bzw. an jene, die bereits in einem Chor singen und nun ihren Chor hier verzeichnet finden und vielleicht auf einem der Bilder zu sehen sind. Das ist gewiss eine richtige Zielgruppe. Sie findet hier nicht nur, welche Chöre es gibt, wann und wo sie ihre Proben abhalten, sondern auch, welche Vorkenntnisse auf musikalischem Gebiet erforderlich sind und wie hoch der monatliche Mitgliedsbeitrag ist. Er reicht von Null bis siebzig Mark pro Monat! Bei dieser Informationsdichte kann man auch ein (noch) fehlendes Personen- und Ortsregister zunächst verschmerzen.
     In Berlin finden jährlich Hunderte von öffentlichen und nicht öffentlichen Chorkonzerten statt. Der hiesige oder auswärtige Besucher kann sich in diesem Buch vorher oder nachher gründlich über die Interpreten informieren.
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Zugleich zeigt es ein Stück Kulturgeschichte Berlins. Wir lesen dort über Chöre, deren Tradition bis in das 19. Jahrhundert reicht: die Berliner Singakademie oder der Staats- und Domchor, die Chorvereinigung Spandau, das Erk Männer- Vocal- Ensemble oder der Erksche Gemischte Chor, der Bäcker- Chor Nord und der Berliner Sänger- Chor, die Männerchöre Buchholz, Cäcilia, Concordia oder Eintracht, die Männerchöre aus Spandau oder Zehlendorf - manche Namen haben sich im Laufe der Zeiten gewandelt, Repertoire und einige Bräuche wurden aktualisiert, die Freude am Singen ist geblieben und das Bewusstsein, in einer tief verwurzelten Vereinstradition zu stehen.
     Und wir lernen Chöre kennen, die erst seit einigen Jahren versuchen, sich zu etablieren: der Amadeus- Chor, The Best Singers und der Karl-Forster- Chor in Schöneberg, der Chinesische Akademikerchor, das Ensemble 36 in Kreuzberg, der Kammerchor Karlshorst oder der 1. FLC (Frauen-Lesben- Chor) schwarz/rot in Friedrichshain.
     Wir lesen, wie die Spaltung der Stadt auch tief in die Arbeit von Chören eingegriffen hat, ihre Existenz zum Teil bedrohte und wie die Vereinigung vor zehn Jahren neue Impulse auslöste. Auch in dieser Hinsicht geht dieses Buch über ein reines Nachschlagewerk hinaus.
     Und schließlich begegnen uns in diesem Buch die Namen von Chorleitern, die zum Teil seit Jahrzehnten die Berliner Chorlandschaft bestimmen und die mit Leistung maßgebend das hohe Niveau nicht nur ihrer eigenen Chöre, sondern dieser sangesfreudigen Stadt bestimmen. Ehm Kurzweg, Karola Marckardt, Achim Zimmermann, Etta Hilsberg, Constantin Alex, Uwe Gronostay, Robin Gritton, Manfred Rost und Felicitas Hübbe- Haunert sind dafür nur stellvertretend zu nennen. Die zehntausend Sängerinnen und Sänger in den fast zweihundert Berliner Chören, die Besucher der Chorkonzerte, die kultur- und musikinteressierten Berliner finden in diesem Buch eine Fülle von Informationen und Anregungen. Auch das 100- jährige Jubiläum des Berliner Sängerbundes in diesem Jahr hat mit dieser Publikation schon im Voraus ein gutes Geburtstagsgeschenk erhalten.
Dass Autor und Verlag aus Bremen kommen, mag zunächst etwas befremden, findet aber schnell seine Erklärung, wenn man weiß, dass dieser Verlag sich mit ähnlichen Veröffentlichungen über Chöre in Hamburg und Bremen bereits profiliert hat und weitere Städte (München, Freiburg, Hannover, Köln, Frankfurt/M.) auf seinem Programm stehen.
Peter Spahn

 
Wolfgang Stapp
Rund um den Bahnhof Friedrichstraße

5 Stadtspaziergänge
Berlin, Stapp-Verlag 2000, 216 Seiten ISBN 3-87776-0406

Der rührige Berliner Verleger Stapp, der sich mit Berlin- und Preußen- Literatur schon einen Namen gemacht hat (sein goldener Griff, die »Kleine Berlin- Geschichte« von Ribbe und Schmädeke, Erstauflage 1987, ist als Einführungslektüre in das Thema zum begehrten und vielfach bewunderten Standardwerk geworden) und weiter macht, ist als engagierter Mitstreiter des Vereins für die Geschichte Berlins im Rahmen von Veranstaltungsprogrammen dieser nützlichen Institution an Wochenenden auch als Stadtführer tätig. Einige dieser von ihm angebotenen Rundgänge in der Mitte Berlins hat er hier zusammengefasst und in handlichem Großoktavformat vorgelegt. Ausgangspunkt ist immer der Bahnhof Friedrichstraße, und von dort führt er zum einen durch die Spandauer Vorstadt, zum anderen durch die Friedrich-Wilhelm- Stadt, zum dritten in der Friedrichstadt östlich der Friedrichstraße bis auf den Friedrichswerder, zum vierten ebendort westlich der Friedrichstraße bis zur Wilhelmstraße, zum fünften durch die östliche Dorotheenstadt auf die Museumsinsel und darüber hinaus nach Alt-Berlin bis in die Rosenstraße.

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Bei seinen Spaziergängen durch die Friedrichstraße ist offenbar auch dem »alten Hasen« Stapp nicht aufgefallen, dass noch nach 300 Jahren der Übergang von der Dorotheenzur Friedrichstadt in dieser Straße markiert ist: sie ist nämlich am Nordrand der Kreuzung mit der Behrenstraße um ca. 30 Zentimeter breiter als an deren Südrand!
     Die instruktiven Texte, die den Autor nicht nur als Kenner der Berliner Geschichte, sondern auch als Architekturliebhaber ausweisen, haben einen unbestreitbaren Vorzug für solcherart Büchlein, deren eigentlicher Sinn ja darin besteht, zwar zunächst am Schreibtisch gelesen, dann aber bei einem eigenen Spaziergang als Leitfaden zur Hand genommen zu werden: Stapp formuliert nicht geschliffene Betrachtungen, sondern liefert die Wiedergabe freier Rede, wie sie vor Ort unbehauen bei Stadtführungen vorfällt. Und im Gegensatz zu manchem anderen Autor verzichtet er dabei nicht, auch ungeschminkt jene Historiker zu nennen, die sich mit der wissenschaftlichen Erforschung von Siedlungs- und Baugeschichte Berliner Stadtteile einen Namen gemacht haben, und deren Erkenntnisse nun die Grundlage des von ihm vermittelten Wissens abgeben; so liest man mehrfach den Namen des Inhabers des (von Schließung bedrohten) Lehrstuhls für Berliner Geschichte an der Humboldt- Universität, Laurenz Demps.
     Natürlich hat auch der Autor damit zu kämpfen, dass die interessante Baugeschichte vieler Häuser vor der Kulisse eines von Bombenkrieg, Schlacht um Berlin und Stadtplanungssünden zutiefst verletzten Stadtbildes aus der Vergangenheit heraufzuholen ist und notgedrungen in viel zu vielen Fällen vor einem entweder neu gebauten oder bis zur Unkenntlichkeit überbauten Bauwerk stattfinden muss.
Schmerzhaft deutlich wird das beim Spaziergang durch die Wilhelmstraße, wo die Führung von Geschichtszeugen erzählt, die - bis auf wenige Ausnahmen - verschwunden sind. Das führt trotz der durchgehaltenen Zählung nach Grundstücksnummern und der Aufteilung der Straße in eine östliche und westliche Straßenseite zu einiger Überfrachtung. Dennoch muss man Wolfgang Stapp dankbar sein, faktisch eine Kurzfassung von Demps' Werk »Die Wilhelmstraße« zu liefern: mit seinem Büchlein in der Hand ist man beim Besuch der »Geschichtsmeile Wilhelmstraße« weitaus besser bedient als beim Mitschleppen des voluminösen Demps- Werkes!
     Kleinliche Krittelei an dieser oder jener Ungenauigkeit verbietet sich angesichts des lockeren Tones und der an einigen Stellen zudem offen eingestandenen Wissenslücken von selbst. Die (durch die Namensgleichheit naheliegende) Verwechslung von Nord-Süd- U-Bahn mit der Nord-Süd- S-Bahn (S. 18) ist außerhalb spezieller Literatur zur Berliner Verkehrsgeschichte nun fast schon Stereotyp. Die Sozialisation des Autors in der »Frontstadt« merkt man an zwei voneinander unabhängigen Phänomenen: zum ersten an seiner Einteilung der einstmals den Wilhelmplatz zierenden Skulpturen in fünf Militärs und einen Zivilisten, wobei als dieser Zivilist ausgerechnet der Fürst Leopold von Anhalt- Dessau (1676-1747) vorgeführt wird - ja, in der Tat jener preußische Generalfeldmarschall, der in der preußischen Armee den Gleichschritt und den eisernen Ladestock einführte und zwischen 1705 (Turin) und 1745 (Kesselsdorf) mit der preußischen Armee beachtliche Siege errang! Die in West-Berlin aus verständlichen Gründen fast zur Norm gewordene Verdrängung Berliner Militärgeschichte wirft so immer noch ihren langen Schlagschatten ...
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Zum anderen an der auch hier wieder anzutreffenden Gewohnheit, im Osten mit zweierlei Maß zu messen - indem das Wiedererstehen durch den Krieg in Schutt und Asche versunkener Gebäude irgendwelchen anonymen Gewalten positiv angelastet wird, für das Abräumen von Ruinen und den Verzicht auf deren Wiederaufbau aber stets ein behaglich benannter Schuldiger zur Hand ist: die DDR- Behörden. Auch ansonsten muss man sich nicht aus der Fassung bringen lassen, denn obwohl S. 132 (Z. 2 v. ob.) der »Götz von Berlichingen« Schiller zugeschrieben wird, bleibt die Literaturgeschichte doch dabei, dass der »Götz« von Goethe stammt.
Kurt Wernicke

 
Rabbis aus Potsdam

Von der Eröffnung des Abraham Geiger Kollegs

»Im jüdischen Jahr 5761 (2000/2001), unter dem Motto >Reform 2000: Judaism with a Future<, führen wir mit der Eröffnung des Abraham Geiger Kollegs in Potsdam, der ersten deutschsprachigen Rabbinerausbildungsstätte nach der Schoah, die Aufgabe weiter, die jüdische Tradition mit den Anforderungen der Gegenwart zu verknüpfen. Damit setzen wir das Wirken der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin und des Jüdisch- Theologischen Seminars in Breslau fort.

Es ist gleichzeitig ein Angebot an alle jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum: Das Abraham Geiger Kolleg steht allen Jüdinnen und Juden offen, die lernen wollen, um die Verantwortung für die jüdische Zukunft zu übernehmen. Schließlich ist es ein Signal der Offenheit, Vielfalt und Dialogbereitschaft an die nichtjüdische Umwelt.« Mit diesen knappen Sätzen umrissen Oberrabbiner Prof. Dr. Walter Jacob, der neuberufene Präsident des Kollegs, und Dr. Jan Mühlstein, der Vorsitzende der Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz den Auftrag dieser neugeschaffenen Einrichtung an der Universität Potsdam. Die Festveranstaltung fand im Potsdamer Nikolaisaal in der Wilhelm-Staab- Straße statt.
     Schon der Zeitpunkt der Eröffnung war Symbol. Steht er doch in direktem Zusammenhang mit dem Jahrestag des 9. November 1938, einem der tiefsten Punkte deutscher Geschichte, als im Brandschein des staatlich organisierten Pogroms Synagogen und andere jüdische Einrichtungen vernichtet wurden und der Brand Europas und der Welt unmittelbar bevorstand. Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, beheimatet in der Berliner Artilleriestraße (heute: Tucholskystraße, Mitte), wurde 1942 von den NS- Behörden geschlossen, ihr Leiter Leo Baeck (1873-1956) ins KZ-Ghetto Theresienstadt deportiert. 1945 erlebte er die Befreiung durch die Rote Armee und ließ sich in London nieder, wo er seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm.
     Das Abraham Geiger Kolleg wird durch die Ausbildung von Rabbinerinnen und Rabbinern, Kantorinnen und Kantoren sowie Religionslehrerinnen und -lehrern für die geistige Führung des in den letzten Jahren mit dem Engagement vieler eindrucksvoll wiederbelebten progressiven Judentums in Mitteleuropa sorgen.

Zeitungstitel des »Aufbau«, Amerikas einziger deutsch- jüdischer Publikation, 1934 begründet.
Ausgabe vom 2. November 2000
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Abraham Geiger (1810-1874)

Erstmals wieder in Deutschland nach dem NS-Regime und nach 58 Jahren erzwungener Unterbrechung beginnt - nunmehr in Potsdam - die Lehre für künftige Rabbinerinnen und Rabbis, die wissenschaftlich fundiert und in der deutschsprachigen Kultur angesiedelt ist. 100 000 Menschen jüdischer Herkunft kamen im letzten Jahrzehnt aus den Republiken auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland und sind auf der Suche nach ihrer Identität. So hat das jüdische Leben hierzulande wieder großen Aufschwung genommen, was freilich neue Fragen aufwirft. So fehlen nach neueren Aussagen in über 80 jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik Rabbis, die bei dieser Suche nach den Wurzeln und beim Finden ihrer Lebensmaxime den Menschen helfen können.
     Nach der Vertreibung, der Flucht und dem millionenfachen Mord in Nazideutschland und der Rettung Weniger ist es ein glücklicher Umstand, dass mit dem Asyl in den angelsächsischen Ländern das progressive Judentum, die jüdische Wissenschaft des mitteleuropäischen Kulturkreises eine neue Heimstatt bekam, so überlebte und aufs neue erblühte.

Davon zeugen nicht nur seine Vertreter, die sich durch faszinierende Bildung und Kultur, durch polyglotte Weltläufigkeit auszeichnen. Diese Blüte zeigt sich auch in der organisatorischen Vielfalt progressiven jüdischen Lebens, ausgewiesen etwa durch das Londoner Leo Baeck College, nach dessen Vorbild das Potsdamer Kolleg entstand und auch das in Israel beheimatete Hebrew Union College - Jewish Institute of Religion. Die schon 1934 in den USA begründete New Yorker deutsch- jüdische Zeitung »Aufbau« berichtet auch in ihrem 66. Jahrgang regelmäßig alle zwei Wochen in deutscher und englischer Sprache. Sie wirkt so weiter identitätsstiftend für jene jüdischen Amerikaner, die vor zwei Generationen aus tödlicher Bedrohung entkamen, und natürlich für ihre Nachkommen. Heute strömt aus diesen sprudelnden Quellen des progressiven Judentums die wissenschaftliche und religiöse Kraft für die Stärkung jüdischen Lebens in die Mitte Europas zurück.
     Ein Nachfahre Abraham Geigers, Rudy Baum, der zur Eröffnung des Kollegs mit seiner Tochter aus Dallas/Texas gekommen war, sprach über die Geigersche Familiengeschichte in zwei Jahrhunderten. Auch er, in Deutschland geboren, entkam als jüdischer Flüchtling in die USA.
     In ihren Grußworten beglückwünschten viele jüdische Institutionen aus der ganzen Welt das Kolleg zu seiner Gründung. Als Vertreter des Landes Brandenburg wünschte der Innenminister der neuen Ausbildungsstätte jene Verbindung von Glaube und Wissenschaft, die sein Land derzeit so nötig brauche. Auch die beiden großen Kirchen begrüßten die Gründung des Kollegs, das mit seinem Potential nicht nur das universitäre Leben bereichert, sondern für sie auch wissenschaftlich- theologische Herausforderung bedeutet.
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Das Abraham Geiger Kolleg nimmt seine Tätigkeit an der Universität Potsdam innerhalb des Studienganges »Jüdische Studien« auf und kooperiert eng mit dem Potsdamer Moses-Mendelssohn- Zentrum. Dessen Direktor Julius Schoeps hat die Professur für Neuere Geschichte, Schwerpunkt deutsch- jüdische Geschichte, im Historischen Institut der Philosophischen Fakultät der Universität inne. Präsident des Kollegs ist Oberrabbiner Prof. Dr. Walter Jacob, 1930 in Augsburg gebürtig, nach Studien in den USA seit 1955 Rabbi in Pittsburg und nach verschiedenen Lehraufträgen amerikanischer Hochschulen und Universitäten einer der führenden Gelehrten des Progressiven Judaismus in der Welt. Als Dekan wurde Rabbiner Dr. Tovia Ben-Chorin, geboren 1936 in Jerusalem, berufen. Er absolvierte Studien in Israel und in den USA, leitete bzw. leitet als Rabbi Gemeinden in Israel, in England und in der Schweiz, gründete 1977 in Jerusalem die Jugendbewegung »Israel Movement for Progressive Judaism«. Dr. Josef Joffe, der Vorsitzende des Kuratoriums, ist Herausgeber der Wochenschrift »Die Zeit« und Kolumnist von »Time Magazine«, lehrte an amerikanischen Universitäten, an der Universität München sowie am Salzburg Seminar.
     Die Studierenden des Abraham Geiger Kollegs sind als Teilnehmer am Studiengang Jüdische Studien reguläre Studierende der Universität, ihnen stehen so unterschiedlichste Anregungen offen, ganz im Sinne des weltoffenen Anspruchs des progressiven Judentums. Wie das ebenfalls erneuerte Berliner Jüdische Gymnasium in der Großen Hamburger Straße kann sich das Potsdamer Kolleg als ein herausragender Träger der wiederauflebenden progressiven jüdischen Bildungstradition in Deutschland betrachten. Es ist die Linie der jüdischen Aufklärung, die mit Moses Mendelssohn (1728-1786) ihren prominentesten frühen Vertreter hat und die seitdem einen eigenen Weg zwischen der jüdischen Orthodoxie einerseits und der völligen Assimilation andererseits beschreitet. Der Namensgeber des Kollegs, der jüdische Theologe Abraham Geiger (1810-1874), erwarb sich als einer der Verfechter des Reformjudentums und der Wissenschaft des Judentums große Verdienste in der reformatorischen Richtung.
Er war Rabbiner in Breslau, Frankfurt am Main und Berlin, Mitbegründer bzw. Herausgeber zweier jüdischer wissenschaftlicher Zeitschriften, und ab 1872 lehrte er an der von ihm mitbegründeten Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, der späteren Hochschule. Schon sein Essay »Was hat Muhammed aus dem Judenthume aufgenommen«, das er als gerade 21- Jähriger schrieb und darin eine neue Form der Auseinandersetzung mit Geschichte entwickelte, brachte ihn in den Kreisen des liberalen Judentums und des Liberalismus bereits früh hohe Anerkennung ein. (Vgl. BM 1/2000, S. 16)
     Im Rahmen der Eröffnung des Kollegs wurde erstmals der Abraham Geiger Preis verliehen. Mit ihm zeichnet das Rabbinerseminar Menschen aus, die sich um den Pluralismus verdient gemacht haben.
     Preisträgerin des Jahres 2000 wurde die Religionsphilosophin Prof. Dr. Susannah Heschel, deutsch- jüdische Amerikanerin der zweiten Generation, die auch schon in Berlin gelehrt hat. Sie erhält diese Auszeichnung für ihr Buch »Abraham Geiger and the Jewish Jesus«, das in deutscher Sprache unter dem Titel »Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie« erscheint. »Geiger hatte recht. Heute gilt es als selbstverständlich, daß Jesus ein Pharisäer war und daß die pharisäische Religion nicht der ,ethische und religiöse Materialismus war ... sondern die liberale, fortschrittliche, humane Tradition ...« - so eine These der jungen Preisträgerin, die sich auch als jüdische Feministin begreift. Das Beispiel ihrer engagierten Arbeit für die Neubelebung des europäischen Judentums und die Forcierung des jüdisch- christlichen Dialogs dürfte nicht nur für die künftigen Studierenden des neuen Potsdamer Kollegs manche Anregung bieten.
Bernd S. Meyer

Bildquelle: Universität Potsdam, Repro LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/2001
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