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Bernhard Meyer
Viele starben an Ruhr oder Typhus

Die Erneuerung des Gesundheitswesens

Berlin erlebte in seiner Geschichte mehrfach das Ende von Kriegen, aber noch niemals Zerstörungen, Mangel und Not in den Dimensionen, wie sie nach der Zerschlagung des Hitlerregimes eintraten. Neben der Sicherung von Ernährung und Wohnungen mussten vordringlich massenhaft auftretende Infektionskrankheiten bekämpft werden. Der öffentliche Gesundheitsdienst hatte eine besonders große Bürde zu tragen. Drei Meldungen aus den ersten Maitagen 1945: Am 2. Mai sucht eine sowjetische Militärkommission die beträchtlich zerstörten Schering- Werke auf, um die Herstellung von Penicillin zu veranlassen. Bereits einen Tag später rief die sowjetische Kommandantur mit Sitz in Alt- Friedrichsfelde (Stadtbezirk Lichtenberg) Ärzte zusammen, um über Sofortmaßnahmen zur Wiederingangsetzung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung zu beraten. Schon am 7. Mai öffneten wieder einige Apotheken, um Restbestände an Arzneimitteln auszugeben.

All das war im Interesse der Berliner dringend nötig, denn die jahrelange Verknappung der Lebensmittel, die zeitlich ausgedehnte Arbeit in der Rüstungswirtschaft und die physische und nervliche Belastung zogen katastrophale Gesundheitsschädigungen nach sich. Dies musste von einem baulich dezimierten Gesundheitswesen und einer stark verminderten Zahl von Ärzten bewältigt werden. Es fehlte faktisch an allem, was zur ambulanten und stationären Betreuung notwendig war. Anspannungen durch den Krieg führten geradewegs zu einem bisher nicht gekannten gesundheitlichen Tiefstand. Das Leben vieler Berliner, die den Krieg überlebt hatten, war durch Krankheiten und Seuchen direkt gefährdet.
     Bei Kriegsende verfügten die Berliner Krankenhäuser lediglich noch über 9 000 Betten, während es im letzten Kriegsjahr 12 000 waren. 1929 konnte die Stadt Berlin 31 464 Betten aufweisen, was einem Versorgungsgrad von 7,3 Betten pro 1 000 Einwohner entsprach. Einen Eindruck vom Zerstörungsgrad Berliner Krankenhäuser vermittelt das 600 x 300 Meter große Areal der Charité, wo 19 % der Gebäude zerstört, 42 % schwerbeschädigt, 30 % leichtbeschädigt und nur 9 % fast unbeschädigt blieben. Ähnlich sah es im Krankenhaus im Friedrichshain, im Krankenhaus Moabit und anderswo aus.
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Im Friedrichshainer Krankenhaus war das Operationsgebäude ausgebrannt, so dass notgedrungen im Infektionshaus operiert werden musste. Eine Ecke des Flurs wurde als »Kreißsaal« genutzt, weil die Frauenklinik zu den zerstörten Gebäuden gehörte. Von den ehemals 1 260 Betten blieben nur 665 bei zusätzlicher Nutzung der Keller und Baracken übrig.
     Die Anzahl der in Berlin praktizierenden Ärzte verminderte sich um ein Drittel von 6 055 Ärzten 1938 auf 4 134 Ärzte 1947. Bei aller Hilfe und Unterstützung durch die Alliierten - sie benötigten für ihre Soldaten und Offiziere ebenfalls Lazarette, die sich nur aus dem vorhandenen Bestand der Berliner Krankenhäuser rekrutieren ließen. So richtete die Rote Armee ihr Zentrales Lazarett im Städtischen Krankenhaus Wiltbergstraße in Buch ein, wo sich gleichzeitig die Sanitätsverwaltung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) befand. Die französische Besatzungsmacht nutzte das Krankenhaus Reinickendorf.
     Als im Mai 1945 durch die Zerstörung der 80 Pumpwerke die Abwässer nicht mehr auf die Rieselfelder gelangten, breiteten sich die bakterielle Ruhr und in deren Gefolge Typhus in schnellem Tempo und mit hoher Sterblichkeit aus. Beide Infektionskrankheiten gehörten in Vorkriegs- Deutschland zu den liquidierten Seuchen. Im September 1945 stieg die Zahl der wöchentlichen Neuerkrankungen bei Typhus um etwa 1 000 Personen an.
An beiden Infektionen erkrankten 50 000 Menschen.
     Ebenfalls im September 1945 konnte Stadtrat Sauerbruch einen kleinen Hoffnungsschimmer verbreiten, indem er den alliierten Besatzungsmächten für die ausreichende Menge Serum zur Pflichtimpfung gegen Typhus dankte. Gleichzeitig musste das Gesundheitsamt davon ausgehen, dass die Flüchtlinge in den Berliner Durchgangslagern zu 50 % von Läusen befallen waren, die den Flecktyphus übertrugen. Allein an Tuberkulose starben 1945 mehr als 30,8 von 10 000 Einwohnern. Diese hohe Sterblichkeit konnte auch 1946 mit 26,0 nicht wesentlich verringert werden. Tuberkulose nahm infolge schlechter Ernährung, Wohn- und hygienischer Bedingungen wieder Ausmaße wie um 1880 an, als Robert Koch (1843-1910) den Erreger dieser Krankheit entdeckte. Im Dezember 1947 wurden 26 788 Personen mit Tuberkulose erfasst (1938: 10 363), was einem weiteren Anstieg entsprach. In ähnlicher Größenordnung traten Geschlechtskrankheiten (Gonorrhoe und Syphilis) auf. Diphtherie, seit Jahrzehnten durch Immunisierung im Kindesalter beherrschbar, und Scharlach erlebten eine seit der Jahrhundertwende nicht mehr registrierte Ausweitung. Im September 1945 betrug die wöchentliche Zunahme der Neuerkrankungen bei Diphtherie etwa 420 Personen. 14 000 Berliner starben daran. Die spinale Kinderlähmung erreichte ihren Höhepunkt 1948.
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Mit der »Aktion Storch« aufs Land

1945 lag die Säuglingssterblichkeit mit nahezu 25 % so hoch wie vor 45 Jahren. Sie konnte relativ rasch schon 1946 auf 13,1 % gesenkt werden. Dazu trugen auch Maßnahmen wie die des Bezirksbürgermeisters von Treptow vom 7. Mai bei, jedem Säugling täglich einen halben Liter Milch bereitzustellen. Die Alliierte Kommandantur erweiterte im August 1945 die Milchzuteilung. Kinder bis zu einem Jahr erhielten täglich einen dreiviertel, Kinder von 1 bis 6 Jahren einen halben und Kinder zwischen 6 und 8 Jahren einen viertel Liter. Im Oktober 45 startete die britische Besatzungsmacht die »Aktion Storch« und verschickte unterernährte Berliner Kinder in ländliche Gebiete ihrer Besatzungszone.
     Diese Situation musste von einem Gesundheitswesen bewältigt werden, das sich in seinen ambulanten und vor allem stationären Strukturen traditionell nicht proportional über die Stadt erstreckte. Seit dem Ersten Weltkrieg hatten die Krankenhäuser keinen Zuwachs durch Neubauten erfahren, so dass die vorhandenen Einrichtungen mindestens auf ein Alter von 33 und mehr Jahre verweisen konnten. Hinzu kam die in Friedenszeiten noch auszugleichende, jetzt durch fehlende Krankentransportautos besonders spürbare Disproportionalität zwischen den Stadtbezirken Berlins.

Die Bettenzahl als sicherster Gradmesser für die territoriale Verteilung der Krankenhäuser wies eine Schwankungsbreite von 39 Betten je 1 000 Einwohner in Zehlendorf, über 37,1 in Pankow (bedingt durch die Bucher Einrichtungen) bis 9,9 in Neukölln, 9,0 in Steglitz, 8,5 in Prenzlauer Berg und 6,5 in Friedrichshain auf. In Treptow gab es seit jeher kein Krankenhaus. Die Krankenhäuser Berlins waren planlos entstanden: »Das Resultat haben wir jetzt vor uns: der Westen voll von Krankenhäusern, der Norden und Osten vernachlässigt.«1) Im sowjetisch besetzten Sektor befanden sich vorrangig Altersund Pflegeheime.
     Ein schier unendliches Bündel von Problemen für die vier Besatzungsmächte und die von der sowjetischen Kommandantur in rascher Folge eingesetzten deutschen Kommunalpolitiker in der ehemaligen Reichshauptstadt! Der weltberühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) übernahm am 17. Mai das ihm von den Sowjets angebotene Amt des Stadtrats für Gesundheitswesen im ersten Berliner Nachkriegsmagistrat. Erstaunlich die Verantwortungsbereitschaft von Ärzten und Krankenschwestern, die sich trotz eigener Sorgen schnell wieder der medizinischen Versorgung widmeten.
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Das war ärztlicherseits nicht unbedingt zu erwarten, da immerhin über 60 % von ihnen mehr oder weniger überzeugt der NSDAP angehört hatten und in Furcht vor Vergeltung durch die Sieger lebten. Obwohl dringender Bedarf an Ärzten bestand und mit der nazistischen Vergangenheit relativ loyal umgegangen wurde, musste dennoch entsprechend alliierter Bestimmungen eine Reihe politisch belasteter Ärzte entlassen werden, wodurch zusätzliche Engpässe entstanden. Besonders gefährlich wurden die »falschen Ärzte«, die in den Kriegswirren ungerechtfertigt oder mit gefälschten Unterlagen zu Approbationen gelangten oder sich gar über Schwindel und Hochstapelei als Ärzte etablieren konnten.

Betten für Kranke in Schulen und Villen

Von besonderer Dringlichkeit für die Beherrschung und Eindämmung der Infektionskrankheiten wurde die deutliche Vermehrung der Krankenhausbetten. Aus diesem Grunde wurde am 15. September 1945 beim Hauptgesundheitsamt des Magistrats ein Sonderdezernat »Seuchenbettenaktion und Krankenhausplanung« eingerichtet. Klar war von vornherein, dass an Wiederaufbau oder gar Neubauten wegen der Materiallage und der fehlenden Facharbeiter nicht zu denken war. Es ging um die Wiedererschließung von Betten durch Instandsetzung von Dächern, Fenstern und Türen.

Material dafür musste aus Ruinen und Trümmern gewonnen werden. Der erste sowjetische Transport mit 2 350 m2 Glas gelangte im November 1945 nach Berlin und dann fortlaufend bis zum Ende der Aktion. Die Engländer unterstützten mit Zement und Glas, während die Amerikaner zwei von ihnen komplett eingerichtete Krankenhäuser zur Verfügung stellten. Außerdem mussten Betten in Schulen, Baracken, öffentlichen Gebäuden und Villen eingerichtet werden.
     Bereits ab 15. Mai wurde das Gewerkschaftshaus am Engeldamm (Stadtbezirk Mitte, sowjetischer Sektor) als Notkrankenhaus genutzt und blieb als »Krankenhaus Mitte« bis in die 80er Jahre bestehen. Dem Krankenhaus Moabit wurden im Flakbunker Zoo zwei Etagen zugewiesen, die mit 250 Betten, drei Operationssälen und einer Röntgengroßanlage ausgestattet wurden. Insgesamt galt es, auf diese Weise etwa 10 000 Betten zu schaffen. Der Winter stand bevor, für den in diesen Behelfskrankenhäusern durch Installation von Öfen, Kesseln, Wasch- und Kochmöglichkeiten Vorsorge zu treffen war. Gebäude mit etwa 12 000 Krankenbetten mussten winterfest gemacht werden. Die Alliierte Kommandantur strebte insgesamt eine Bettenzahl von 50 000 an, die auch von den deutschen Gesundheitspolitikern für nötig befunden wurde. Einschließlich der Notbetten konnten im Sommer 1945 bereits 28 000 Betten genutzt werden, die im Winter 1945/46 für die dringendsten Erfordernisse ausreichten.
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Dennoch herrschten weiter Mangel und Improvisation in den Krankenhäusern, so wie im St. Elisabeth- Krankenhaus in der Lützowstraße (Bezirk Tiergarten, britischer Sektor), wo im Winter an manchen Tagen nur eine Zimmertemperatur von 14 Grad erreicht wurde, in 24 Stunden nur 2 mal zwei Stunden Strom und Gas zur Verfügung standen und dadurch Röntgen, Sterilisation, Küche und Wäscherei nur äußerst eingeschränkt nutzbar waren. Aber immer wieder gab es auch optimistische Meldungen, wie die über die 100-Jahr- Feier des St. Hedwig- Krankenhauses im September 1946. Das einzige bei Kriegsende in ganz Berlin fast ohne Zerstörungen davongekommene Krankenhaus in der Großen Hamburger Straße (Stadtbezirk Mitte, sowjetischer Sektor) erhielt von der sowjetischen Besatzungsmacht Unterstützung, um den Jahrestag mit 1 000 Mitarbeitern, Patienten und honorigen Gästen gebührend feiern zu können. Möglicherweise ging von diesem Ereignis die Anweisung des Magistrats aus, die seelsorgerische Betreuung der Kranken nicht zu behindern, da »alle antikirchlichen politischen Einschränkungen der Nazizeit aufgehoben« seien. Später erhielt dieses Haus aus den USA als Spende eine »Eiserne Lunge«, die einzige im sowjetischen Sektor.
     Für die Charité wurde Anfang Juli 1945 ein Sofortprogramm begonnen, das bis zum ersten November realisiert sein sollte. Ziel war es, jede Klinik und jedes Institut in die Lage zu versetzen, »für die primitivste sanitäre Versorgung der Bevölkerung zu arbeiten«.2) Zeitweise konnten cirka 1 000 Bauarbeiter auf der seinerzeit größten Baustelle Berlins eingesetzt werden.
Das war eine bedeutende Leistung, denn in der Stadtmitte wohnten wegen des hohen Zerstörungsgrades nur noch wenige Arbeiter. Es gelang sogar, eine Kantine einzurichten, in der es vormittags heißen Kaffee und gegen Abgabe von wenigen Lebensmittelmarken einen warmen Eintopf gab. Da es an Fensterglas fehlte, mussten großformatige Röntgenfilme für notdürftige Abdichtung sorgen. Der Schutt wurde mittels Lastkähnen auf der nahe gelegenen Spree abtransportiert. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, denn die Zahl der Betten stieg von 400 bei Kriegsende auf über 1 000 an. Für die geplante Wiederaufnahme des Studienbetriebes wurden 12 Hörsäle mit 3 000 Plätzen hergerichtet.

Am 19. Mai kam das erste Penicillin

Das ausgedehnte und vielfältige Krankheitsgeschehen einigermaßen in den Griff zu bekommen erforderte auch die Anwendung einiger im deutschen Gesundheitswesen bisher unbekannter oder nicht gebräuchlicher Methoden. Dazu gehörte die Hospitalisierung von Ruhr- und Typhuskranken. Von unschätzbarem Wert erwies sich das in angloamerikanischen Ländern während der Krieges erstmals industriell hergestellte Penicillin, wofür deren Schöpfer, der Brite Alexander Flemming (1881-1955), der Australier Howard Walter Florey (1898-1968) sowie der deutsche Emigrant, Charité- Biochemiker Ernst Boris Chain (1906-1979), 1945 den Nobelpreis für Medizin erhielten. Den deutschen Ärzten war dieses Mittel bei Kriegsende wegen ihrer internationalen Isolierung weitgehend unbekannt.

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Um so erfreuter waren Berliner Ärzte, als am 19. Mai 1945 die ersten Chargen dieses hochwirksamen Antibiotikums von Schering geliefert wurden. Von nicht zu unterschätzender Auswirkung erwies sich die rigoros von den Sowjets geforderte und durchgesetzte Meldepflicht der Ärzte bei bestimmten Infektionskrankheiten, vor allem der Geschlechtskrankheiten. Bei Syphilis erfolgte eine Zwangseinweisung. Zu diesen Maßnahmen gehörte auch die prophylaktische Impfpflicht besonders gegen Typhus ab September 1945 , von deren Einhaltung die Ausgabe von Lebensmittelkarten abhängig gemacht wurde. Das Ergebnis sprach für diese Art des Vorgehens, denn ab Dezember 1945 gab es nicht nur im Bezirk Reinickendorf (französischer Sektor) sinkende Erkrankungszahlen, wie Amtsarzt Dr. Bloß mitteilen konnte. Auch die Befolgung der Anordnung des Magistrats zur schnellen Beseitigung von Leichen und Tierkadavern trug zur allmählichen Beherrschung des Infektionsgeschehens bei.
     Gesundheitspolitiker standen damals prinzipiell vor der Alternative, entweder die traditionellen Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens aus der Weimarer Republik unverändert fortzuführen oder diese durch einige grundlegende Neuerungen weiterzuführen.
Insbesondere die KPD (ab April 1946 die SED) sah mit Unterstützung der Sowjetunion die Chance, ihre seit langem vertretenen gesundheitspolitischen Ziele im Zuge der Bewältigung der Nachkriegssituation in Angriff zu nehmen. Dazu gehörten die Schaffung von Volkseigentum im stationären Bereich und im Apothekenwesen. Ferner die Errichtung von Polikliniken und Ambulatorien als rationellere Form ambulanter medizinischer Betreuung und zur Zurückdrängung privater Niederlassungen. Des Weiteren die Gründung einer einheitlichen Sozialversicherung für alle Pflichtversicherten, die in Form der Versicherungsanstalt Berlin (VAB) aus 156 verschiedenen Versicherungsträgern für alle Sektoren entstand und erst im Prozess der Spaltung der Stadt in den Westsektoren aufgelöst wurde. Nach diesen Grundsätzen wurde später das Gesundheitswesen der DDR formiert, während in den westlichen Sektoren weder die Westalliierten noch die etablierten Ärztevertreter am Althergebrachten Wesentliches ändern wollten.
     Die sowjetische Militärverwaltung verfolgte zielstrebig das Anliegen, zur Normalisierung des Lebens und als Ausdruck ihrer Kultur- und Wissenschaftsfreundlichkeit die in ihrem Sektor gelegene Linden- Universität baldmöglichst wieder zu eröffnen.
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Schon Mitte 1945 wurde der Pädagoge und Philosoph Eduard Spranger (1882-1963) mit den Vorbereitungen betraut und galt als designierter Rektor. Er scheiterte jedoch an den unterschiedlichen Auffassungen, die Universität nach Dahlem (Bezirk Zehlendorf; amerikanischer Sektor) zu verlegen und die Charité von der Universität zu trennen, wogegen sich eine Mehrheit der Ordinarien aussprach.

Namhafte Ordinarien an der Alma mater

Rektor wurde der Althistoriker Johannes Stroux (1886-1954), der mit dem vormals Hallenser Internisten und nebenamtlich in der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung tätigen Theodor Brugsch (1878-1963) einen guten Faden für die Universität am alten Standort und in den hergebrachten Strukturen spann. Am 29. Januar 1946 eröffnete die Berliner Universität, die im Februar 1949 den Namen Humboldt- Universität zu Berlin erhielt, wieder ihre Pforten. Der Klinikbetrieb in der Charité war zu keinem Zeitpunkt unterbrochen. Namhafte Ordinarien standen treu zu ihrer Almer mater: die Chirurgen Ferdinand Sauerbruch und Erwin Gohrbandt (1890-1965), der HNO-Chef Carl von Eicken (1873-1960), der Pathologe Robert Rössle (1876-1965),

der Geburtshelfer und Gynäkologe Walter Stöckel (1871-1961), der bereits emeritierte, aber einsatzbereite Psychiater Karl Bonhoeffer (1868-1948), der Anatom Hermann Stieve (1886-1952) sowie der Dermatologe Heinrich Löhe (1877-1961). Das war ein stattliches Potenzial für einen hoffnungsvollen Neubeginn ohne rassenhygienische Vorgaben und Euthanasiegefahren. Mehr als 1 100 Medizinstudenten schrieben sich zum Sommersemester 1946/47 ein, darunter mancher, der bereits in Kriegszeiten das Studium begonnen, es aber nicht ordnungsgemäß hat abschließen können.
     Zur Überwindung der pseudowissenschaftlichen Rassenhygiene und zur Wissensauffüllung des durch Notapprobationen vorzeitigen Medizinabschlusses der Kriegsjahrgänge sowie zur Ankurbelung des wissenschaftlichen Lebens veranstaltete die Charité seit 1946 Fachtagungen. Die Besatzungsmächte überzeugte der antifaschistische Charakter dieser Veranstaltungen, so dass die SMAD mit ihrem Befehl Nr. 124 vom 21. Mai 1947 die legislativen Voraussetzungen für die Neugründung der nach Kriegsende verbotenen wissenschaftlichen Vereinigungen für ihren Verantwortungsbereich schuf, die auch für die im sowjetischen Sektor gelegene Charité galten.
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Regionale Gesellschaften auf allen Fachgebieten

Der Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für Gesundheitswesen in der sowjetischen Besatzungszone (DZVG) Karl Linser (1885-1976) nahm zur Beförderung dieses Anliegens am 12. November 1947 an der Sitzung der Medizinischen Fakultät der Charité teil, um die Ordinarien nach Nazismus und manchen Vorbehalten gegenüber den Sowjets und den deutschen Kommunisten zur Gründung neuer Gesellschaften zu ermuntern. In rascher Folge entstanden auf nahezu allen Fachgebieten regionale Gesellschaften mit namhaften Vorsitzenden.
     Auf diese Weise erhielt auch die 1886 gegründete und seit 1939 ruhende Berliner Chirurgische Gesellschaft (BCG) unter Vorsitz von Sauerbruch neuen Glanz. Zu den traditionellen Berliner Gesellschaften, in deren Vorständen die anerkanntesten Mediziner unabhängig vom Wohnsitz in Ost oder West mitwirkten, fühlten sich die Ärzte aller Sektoren hingezogen.
     Aus diesem Umstand wurde mit der vollzogenen Spaltung Berlins 1949 ein schwelendes politisches Problem, das seine endgültige Klärung (aus DDR-Sicht) erst mit dem 13. August 1961 durch die Trennung von den Ärzten West-Berlins erfuhr.
     Der Umgang mit der politischen Vergangenheit eines erheblichen Teils der Ärzteschaft während des NS-Regimes war trotz wiederholt geäußerter Absicht der vier Besatzungsmächte zum harten Durchgreifen letztlich doch auf allen Seiten sehr unterschiedlich,

ja sogar inkonsequent und häufig von ganz praktischen Erwägungen geprägt.
     Während Sauerbruch seine Amtsgeschäfte als Stadtrat auf amerikanisches Drängen am 12. September 1945 wegen »politischer Tätigkeit unter dem Naziregime« aufgeben musste, durfte er sein Charité- Ordinariat ungehindert weiterführen. Dies hatte er zweifellos seinem Namen zu danken, auf den weder die Sowjets noch die deutschen Kommunisten verzichten wollten. Eicken und der Ophthalmologe Walter Löhlein (1882-1954) behielten ohne Beanstandung ihr Lehramt, obwohl sie mehrfach von Hitler als Spezialisten zu Konsultationen gerufen worden waren. Den Internisten Friedrich Koch (1892-1948) suspendierte man wegen seiner NS- Vergangenheit von seinem Ordinariat an der Charité; er blieb aber Direktor der Inneren Klinik mit 700 Betten im Hufeland- Krankenhaus in Buch.
     Generell jedoch wurde namentlich von der sowjetischen Besatzungsmacht die politische Vergangenheit von Ärzten anders als etwa von Lehrern und Juristen bewertet. Ärzte, die im Namen der Medizin Verbrechen an der Menschlichkeit begangen hatten, wurden angeklagt und verurteilt - nicht nur im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses 1947/48. Alle anderen belasteten Ärzte behielten meist ihre Approbation, wenngleich sie bestimmter Ämter und Funktionen enthoben wurden. Ihre medizinischen Kenntnisse wurden zur Gewährleistung dringendster gesundheitlicher Aufgaben sofort und ohne Verzug benötigt, während die Eröffnung der Schulen und Gerichte zeitlich nicht so drängend waren und einen personell größeren Wechsel erforderten.
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Nachdem das Gesundheitswesen Berlins organisatorisch wiederhergestellt war, Finanz-, Personal- und Baupläne bestätigt wurden, die meisten Ärzte ihren Platz gefunden hatten und vor allem die Infektionskrankheiten im Griff waren, wirkte sich die im beginnenden Kalten Krieg vollziehende Spaltung der Stadt immer deutlicher auf das bislang einheitlich geführte Gesundheitswesen aus. Der im Mai 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzte Magistrat wurde in den Wahlen vom 20. Oktober 1946 nicht bestätigt, die SED verlor ihre Mehrheit in der Stadtverwaltung. Damit waren ihre begonnenen Neuerungen zunächst gestoppt, zumindest für die westlichen Sektoren. Die Vorstellung von einer »Sozialisierung des Ärztestandes«, ihrer »Verbeamtung« schreckte Ärzte, Zahnärzte und Apotheker unabhängig von ihrem Wohnbezirk am meisten von den anvisierten Veränderungen der Kommunisten ab und veranlasste manchen zur Übersiedlung in die Westsektoren. Die deutlichste Zäsur für die Gesundheitsverwaltung stellte zweifellos die 1948 durchgeführte Währungsreform dar. Zahlungsschwierigkeiten der Gesundheitsverwaltung und der Krankenhäuser waren vorübergehender Natur, während den Ärzten und Schwestern zunehmend klar wurde, dass sich das Medizinalwesen in Ost und West nun nach höchst unterschiedlichen politischen Grundsätzen entwickeln würde.

Quellen:
1 Paul Vogler/ Gustav Hassenpflug, Das Gesundheitswesen in der Bauplanung Berlins, Berlin 1948, S. 7
2 Ebenda, S. 9

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/2000
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