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Karl-Heinz Arnold
Populär und stets auf der Linie

Die »Berliner Zeitung« in den ersten Nachkriegsjahren

Die »Berliner Zeitung« gehört zu den Unikaten der deutschen Pressegeschichte. Am 21. Mai 1945, dreizehn Tage nach der Kapitulation der Wehrmacht in Berlin- Karlshorst, erschien in der schwer zerstörten Stadt die erste Ausgabe mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren im Straßenhandel. Der Umfang betrug vier Seiten, der Preis zehn Pfennig. Das Blatt wurde den Verkäufern aus den Händen gerissen. Die treffende Schlagzeile »Berlin lebt auf!« verriet Professionalität und die Absicht, Zuversicht zu verbreiten. Ein dicker roter Strich unter der Schlagzeile ließ unbeabsichtigt ahnen, wohin sich das Blatt bewegen werde. Es begann die Geschichte der ältesten deutschen Tageszeitung nach dem Zweiten Weltkrieg - sie ist mit dem 1. Januar 2000 im 56. Jahrgang erschienen. »Die Berliner«, so der Sprachgebrauch, war von vornherein eine deutsche Zeitung und wurde von den Lesern als solche akzeptiert. Seit 15. Mai 1945 gab es mit Redaktionssitz Berlin bereits ein Organ der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), die »Tägliche Rundschau, Frontzeitung für die deutsche Bevölkerung«, wie sie sich anfänglich bezeichnete.

Sie galt als sowjetisches Sprachrohr, obwohl sie auch deutsche Redakteure beschäftigte. Namensgleich hatte bis 1933 eine nationalkonservative Tageszeitung existiert, was man in der SMAD wohl nicht wußte. Die sorgfältig redigierte TR bestand bei abnehmender Bedeutung bis 1955.1)
     Sowjetische Militärs und Angehörige der aus Moskau gekommenen Gruppe Ulbricht hatten unter schwierigsten Bedingungen die materielle Basis für die Herstellung der »Berliner Zeitung« geschaffen. Sie erfolgte zunächst in der Druckerei Otto Meusel, Urbanstraße 71 (Berlin- Kreuzberg), die Redaktion arbeitete in der Nähe, Lindenstraße 41.
     Der aus dem KZ Sachsenhausen befreite Kommunist Fritz Kroh war erster Verlagsleiter. Er hat diesen hochtrabenden Titel nie beansprucht, kümmerte sich vor allem sachkundig um Druck und Vertrieb. Straßenverkäufer meldeten sich sofort nach Erscheinen der ersten Ausgabe mehr als genug. Kroh brachte auch den Zeitungskopf zuwege: Da zum Drucktermin kein Klischee vorhanden war, fand er in der Druckerei geeignete Lettern, so daß der Kopf aus einer fetten Frakturschrift mit der Hand gesetzt werden konnte. Daher fehlte im Kopf der ersten Ausgabe der Berliner Bär mit Mauerkrone, der zum Markenzeichen des Blattes wurde.
     Die erste Ausgabe berichtete von der Gründung des Berliner Magistrats, der Stadtverwaltung. Unter den zehn Rednern waren übrigens Heinz Rühmann und Ferdinand Sauerbruch.
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Es gab noch kein Impressum, keine Angaben zu Herausgeber und Chefredakteur. Am folgenden Tag konnte man bei genauem Hinsehen einen Hinweis entdecken. In Russisch war vermerkt: »Herausgegeben von der Front- Politverwaltung für die Berliner Bevölkerung«. Auch die redaktionellen Beiträge waren noch nicht namentlich gezeichnet. Es gab jedoch bereits am 22. Mai Leserbriefe mit Namen und voller Adresse, so von Friseurmeister Alfred Ebel, Neukölln. Erst am 2. Juni wurde am Fuß der Seite 4 als Hauptschriftleiter A. W. Kirsanow genannt.
     Alexander Kirsanow, damals Major der Roten Armee2),und sein Stellvertreter, der russische Hauptmann Feldmann, waren die Verantwortlichen im Sinne des Pressegesetzes, wie man heute sagen würde. Dergleichen gab es jedoch nicht. In allen vier Besatzungszonen unterlagen sämtliche Druckerzeugnisse der Vorzensur durch Offiziere der jeweiligen Militärverwaltung.3) Diese Zensur - vor der Freigabe der Zeitungsseiten zum Druck - wurde von den Militärs kameradschaftlich gehandhabt, so die übereinstimmenden mündlichen Berichte von Zeitzeugen.
     Mit Kirsanow hatte die SMAD einen denkbar geeigneten Offizier als Chefredakteur eingesetzt. Der etwas bäuerlich wirkende Mann war zurückhaltend, bescheiden, freundlich - kein Kommandierer oder Apparatschik, eher ein Partner, der genau zuhören konnte und auf Überzeugen setzte.
Es gab jedoch noch einen Grund dafür, dass zwischen den Offizieren und den deutschen Redakteuren keine ernsthaften Probleme auftraten. Die wenigen leitenden Leute in der kleinen Truppe, durch deren Hände alle Manuskripte gingen, waren bereits erprobt. Sie hatten in der Sowjetunion im Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) journalistisch gearbeitet oder lange Zeit in sowjetischer Emigration verbracht. Es waren dies Rudolf Herrnstadt, vor 1933 beim linksliberalen »Berliner Tageblatt« als Korrespondent in Warschau und dann leitender Redakteur der Zeitung des NKFD; Gerhard Kegel, der bereits im diplomatischen Dienst der Nazis unter Lebensgefahr für die Sowjetunion gearbeitet hatte, was er erst 1983 enthüllte;4) die kommunistische Emigrantin Margarete (Grete) Lode - sie erlag bald den Anstrengungen jener ersten Monate - sowie der ehemalige Wehrmachts- Gefreite Dr. Günter Kertzscher und der ehemalige Leutnant Bernt von Kügelgen, beide journalistisch aktiv im NKFD. Das war der Kern der Mannschaft, auf die Kirsanow sich stützen konnte.

Ein Verein von drei oder vier Enthusiasten

Die Zeitung wurde anfänglich von einer »winzigen Redaktion« erarbeitet. »Der ganze Verein bestand aus drei oder vier Enthusiasten des Aufbaus des Sozialismus mit redaktionellen bzw. publizistischen Vorkenntnissen, drei oder vier weiteren gutwilligen Mitarbeitern und dazu einigen dunklen Figuren.

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Letztere verschwanden bald und tauchten nach einiger Zeit in der westdeutschen reaktionären Presse auf.« So Kegel im Rückblick auf eine Zeit mit überlangem Arbeitstag und Partisanenmethoden beim Herausbringen des Blattes, eine Zeit, an die er - wenn er sich später »über bürokratische Bevormundung ärgerte« - manchmal »mit stiller Sehnsucht« zurückdachte.5)
     Unter den Enthusiasten der ersten Stunde waren der Emigrant Fritz Erpenbeck, bis 1933 bei der satirischen Zeitschrift »Roter Pfeffer«, und der Leutnant der Roten Armee Konrad Wolf. Von ihm erschien der erste namentlich gezeichnete Bericht in der Zeitung, am 25. 5. aus der Abteilung Sozialfürsorge der Stadtverwaltung. Am 27. Mai wurde als eines der ersten namentlich gezeichneten Fotos ein Kinderbild veröffentlicht, das Eva Kemlein aufgenommen hatte. Die spätere legendäre Theaterfotografin, die sich bis Kriegsende in Berlin vor den Nazis versteckt hatte, ist dem Blatt über Jahrzehnte treu geblieben.6)
     Wir wissen nicht, wer mit den bei Kegel zitierten dunklen Figuren gemeint war. Man muss hier wohl nicht an Egon Bahr denken. Der junge Mann hatte sich der Zeitung bald nach ihrem Erscheinen als Mitarbeiter angedient, wollte schreiben - schon damals war der künftige Vollblutjournalist erkennbar. Im Mai und Juni 1945 berichtete er fleißig
über Friedensbier und Laubenpieper, über Arbeitskräfteerfassung und Feuerwehr, sogar einen Kommentar zum Straßenverkehr findet man. Dann verschwand der Name. Aber vielleicht waren andere gemeint, etwa Redakteure wie Hans Borgelt, viel später Leiter der Berliner Filmfestspiele, oder der künftige RIAS- Kommentator Victor Klages oder Verlagsgründer in spe Helmut Kindler oder Wolfgang Parth, später Chefredakteur der Illustrierten »REVUE« im Kindler- Verlag.
     Die erste unter den frühen Tageszeitungen im noch ungeteilten Berlin hatte erhebliche Anziehungskraft auch auf Politiker und solche, die es werden wollten. Da engagierte sich der prominente CDU- Mann Ernst Lemmer in einem Leitartikel für die Enteignung der Großgrundbesitzer, einen »historischen Vollzug«, wie er schrieb. Von Erich Honecker, Leiter des Jugendausschusses bei der Zentralverwaltung für Volksbildung der SBZ, erschien ein Leitartikel »Der Jugend muss geholfen werden«. Heinz Keßler, Leiter des Hauptjugendausschusses beim Magistrat, schrieb »Dem Volke voran« und meinte damit etwas unbescheiden die Jugend (sofern im Sinne der KPD agierend). Autoren wie Lemmer waren eher die Ausnahme, überzeugte Parteigänger der Sowjetunion, heimgekehrte Emigranten sowie linksbürgerliche Intellektuelle waren die Regel.
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Günter Weisenborn formulierte Erwartungen an den neuen Film. Paul Rilla rezensierte Lessings »Nathan« mit Paul Wegener, Regie Fritz Wisten, und die Aufführung von Curt Goetz` »Ingeborg« mit Käthe Haack, Olly Holzmann, Günter Lüders, Karl-Heinz Schroth (auch Regie). Man las einen etwas schwülstigen Appell von Theodor Plivier zum Thema Kulturbund. Binnen weniger Monate begannen auf den halben, manchmal ganzen Kulturseiten viele Blumen zu blühen. Bald kamen große Namen hinzu, Heinrich Mann, Herbert Ihering, Gustav von Wangenheim, Friedrich Wolf.
     Das Blatt war erkennbar bemüht, llgemeinverständliches mit Beiträgen für gehobene Ansprüche zu verbinden, auf Alltagssorgen der Leser einzugehen, in einer schweren Zeit Lebensmut zu vermitteln. Relativ dezent wurde die Sowjetunion gelobt. Ihre gewaltigen Probleme als Folgen des Krieges blieben weitgehend ausgespart. Berichte über wirtschaftliche und wissenschaftlich- technische Errungenschaften der UdSSR entzogen sich der Beurteilung durch ein unkundiges Leserpublikum. Allmählich sich häufende Nachrichten über diese oder jene Malaise in den Westzonen sowie über Schwierigkeiten in westlichen Ländern ließen bereits im zweiten Halbjahr 1945 die Anfänge einseitiger Informationspolitik erkennen. Später gab es einen Leiter der Innenpolitik, der seine Mannen bei der Auswahl der Nachrichten
aus ostdeutschen Landen fragte: »Is dat positiv?«, und bei Ja wurde die Nachricht gebracht. So schlichten Gemüts waren zum Glück die wenigsten Redakteure.
     Bereits im Juni 1945 änderten sich Herausgeber und Chefredakteur (nun nicht mehr die aus Nazizeiten überkommene Bezeichnung Hauptschriftleiter). Am 20. Juni hieß es, das Kommando der Roten Armee habe »beschlossen, die weitere Herausgabe der >Berliner Zeitung< in die Hände des Magistrats der Stadt Berlin zu legen«, und der Magistrat habe daraufhin beschlossen: »1. Die >Berliner Zeitung< wird das offizielle Publikationsorgan der Stadt Berlin. Sie soll in ihrer Grundlinie die Einheit aller antifaschistischen Kräfte zum Ausdruck bringen. 2. Zum Chefredakteur wird Herr Rudolf Herrnstadt berufen.« In der Folgezeit sollte sich zeigen, dass diese Neuregelung der Herausgeberschaft einen Pferdefuß hatte. Die »Berliner Zeitung« agierte einerseits wie ein privates Unternehmen. Es wurden Zeitungen gedruckt und verkauft, private Anzeigen in allmählich zunehmendem Umfang veröffentlicht, vor allem viele Kleinanzeigen. Andererseits firmierte die Zeitung als offizielles Organ des Magistrats. Dieser war, ohne dass es noch oder wieder einen deutschen Staat gab,7) ein quasistaatliches deutsches Selbstverwaltungsorgan unter Aufsicht zunächst einer Besatzungsmacht, der UdSSR.
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Am Anfang war der Befehl

Die Zeitung hatte zwar einen Verlagsleiter, zuständig für das Kaufmännische, doch ein im Handelsregister eingetragener Verlag existierte nicht. 1945 kümmerte sich niemand um solche zunächst als unwichtig erscheinenden Fragen. Am Anfang der »Berliner Zeitung« war der Befehl, und mit dieser Geburtsurkunde unterschied sie sich nicht von der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik.8) Erst am 15. Februar 1946 wurde ein Herausgeber genannt: Berliner Verlag GmbH. Hinzugefügt war: Publikationsorgan des Magistrats der Stadt Berlin. Dieser Zusatz musste, was noch nicht vorauszusehen war, spätestens nach dem Wahlsieg der SPD und der Bildung des neuen Magistrats verschwinden. Mit der raschen Übergabe der Zeitung in deutsche Obhut, bereits nach knapp einem Monat, verfolgte die SMAD gemeinsam mit den KPD- Führern offenbar das Ziel, im künftigen Ostsektor und mit dem Verbreitungsgebiet Berlin- Brandenburg, über ein auflagenstarkes zuverlässiges Printmedium zu verfügen, das auch in den künftigen Westsektoren9) gelesen werden und politischen Einfluss ausüben konnte, ohne den Geruch eines Russenblattes zu haben. Die Auflage betrug im Sommer 1945 rund 150 000.
     Im August 1945 zogen Redaktion und Verlag zweimal um.

Erst in die Schützenstraße 18-25, dann in die Jägerstraße 10-11, beide Adressen in Berlin- Mitte. Umziehen war nicht aufwändig, man hatte kaum Inventar. Bei Übergabe an den Magistrat bestand das Betriebsvermögen lediglich aus vier Schreibmaschinen und einigen Möbeln. Es wuchs jedoch nach Unterlagen des Magistrats »aus eigener Kraft« schon bis 1. September 1945 auf 272 000 Reichsmark (RM). Der Wert der Zeitung wurde Anfang 1946 mit etwa 500 000 RM beziffert. Die Umzüge dienten eindeutig dem Ziel, den Sitz der Zeitung wie auch der vertraglichen Druckerei in den sowjetischen Sektor zu verlagern, das Blatt auf diese Weise gegenüber den westlichen Besatzungsmächten störfrei zu machen.
     Ab 15. August 1945 befanden sich Schriftleitung (im Impressum noch immer diese Bezeichnung) und Verlag in der Jägerstraße, später Otto-Nuschke- Straße, inzwischen längst wieder mit dem traditionsreichen Namen. Das in der Substanz erhalten gebliebene Gebäude hatte bis Kriegsende die Deutsch- ostasiatische Bank beherbergt und wurde nun bis Juli 1975 die Adresse der Zeitung, bis zum Umzug in das Verlagshochhaus Karl-Liebknecht- Straße 29, das die SED- Führung der »zweiten Zeitung der Republik« (nach dem »Neuen Deutschland«) sowie weiteren Printmedien zur Verfügung stellte, damit die nachts tote Gegend um den Alexanderplatz mit etwas Licht belebt werde.
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Im Hof des Grundstücks Jägerstraße wurden eine Linotype- Maschinensetzerei und eine Mettage (Handsetzerei) eingerichtet. Sie waren durch eine schmale Treppe und Rohrpost mit der Redaktion verbunden. Die einzelnen Seiten der Zeitung wurden im traditionellen Bleisatz hergestellt, dann in der Mettage per Hand umbrochen - alle Überschriften waren ebenfalls Handsatz - und schließlich gematert. Die auf eine Spezialpappe unter maschinellem Druck gepressten Seiten, d. h. die Matern, brachte ein Bote einzeln in die Druckerei, zunächst recht abenteuerlich per Fahrrad, später mit Auto. Dort erfolgte die Herstellung des gerundeten Druckzylinders, indem die Mater mit Blei ausgegossen wurde. Hochqualifizierte Metteure wie Papa Heinze und Sommerburg umbrachen die Seiten. Der Redakteur, der neben dem Metteur an der Platte mit dem Bleisatz stand, hatte die Platzierung der Artikel und Meldungen anzugeben. Er kam nicht selten ins Schwitzen, wenn ihn der Metteur mit »Was nu?« und »Wie weiter?« antrieb - es herrschte fast immer Termindruck.
     Es dauerte bis Anfang 1946, ehe das Verhältnis Magistrat - Zeitung eine juristische Grundlage erhielt. Unter Nr. 1/46 des Berliner Notariatsregisters wurde eine Abschrift des Vertrages vom 24. Januar 1946 erfasst, wonach die »Berliner Zeitung« als amtliches Publikationsorgan des Magistrats »als nicht an eine einzelne Partei gebundene
antifaschistische Tageszeitung zu leiten« sei (§ 4). Um den notariellen Vertrag hatten ersucht: Erster Bürgermeister Karl Maron, Stadtrat Dr. Hermann Landwehr (beide Magistrat), Chefredakteur Rudolf Herrnstadt, Kaufmann Fritz Schülike, Wallstraße 76, und Syndikus Dr. Helmut Ostmann, Blankenfelde Krs. Teltow. Schülike war offenbar Strohmann der KPD.
     Die am 24. Januar 1946 gegründete Berliner Verlag GmbH hatte ein Stammkapital von 1,3 Millionen RM, eingebracht von drei Gesellschaftern: die Stadt Berlin mit dem Wert der Zeitung von 500 000 RM, der Verlag Neuer Weg (später erschien dort das Funktionärsorgan der SED) mit 600 000 RM sowie eine ominöse Gesellschaft zur Erforschung zeitgenössischer Dokumente mit 200 000 RM. Beide letztgenannten Gesellschafter verfügten bereits über erstaunlich hohes Kapital. Es war dem Vermögen der KPD zuzurechnen. Der Wert der Zeitung dürfte bei einer Auflage von 150 000 halbwegs realistisch gewesen sein.
     Noch am 4. Januar hatte Herrnstadt sich bei Maron beschwert, dass keiner der beteiligten drei Verlage bisher ins Handelsregister eingetragen sei. Diese Intervention erfolgte sicherlich auf Betreiben seines Stellvertreters Kegel, der die rechtsnihilistischen Auffassungen und Zustände - die noch lange anhielten - nicht goutierte.
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Die erste »Berliner« vom 21. Mai 1945
Zweckmäßiger unter Kontrolle der Partei

Die »Berliner Zeitung« wurde von vornherein als Organ der KPD und dann der SED angesehen. Verbürgt ist u. a. ein Gespräch des KPD- Vorsitzenden Wilhelm Pieck mit Herrnstadt am 4. September 1945. Darin war bereits die Rede davon, einen »Pressekonzern« zu schaffen, die Auflage des Blattes auf 150 000 zu erhöhen und bis 15. September eine illustrierte Zeitung als wöchentliche Beilage vorzusehen. (Diese schließlich nur vierseitige Beilage ließ lange Zeit auf sich warten,

vermutlich aus Papierknappheit, und sie existierte dann nur wenige Jahre. Bis zur Gründung der DDR blieb der Umfang der Zeitung auf vier, ausnahmsweise sechs Seiten begrenzt, in der Folgezeit bis 1990 waren es in der Regel acht, einmal zwölf und am Wochenende - Sonnabend/ Sonntag - 16 Seiten.) In dem Gespräch wurde festgestellt, die Zeitung sollte »zweckmäßiger unter Kontrolle der Partei« statt des Magistrats stehen. Tatsächlich ist sie vom Magistrat nie kontrolliert, sondern von Herrnstadt in mehr oder weniger loser Absprache mit der KPD- Zentrale geleitet worden.
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Am 26. April 1946 erschien die Zeitung mit der Schlagzeile »SED in Sowjetzone zugelassen«, am 1. Juni konnte die Zulassung der SED für ganz Berlin vermeldet werden, durch die vier Mächte und zeitgleich mit der SPD. Schon vorher hatte das Blatt die Polemik gegen die in West-Berlin etablierte SPD begonnen, gegen Kurt Schumacher, Franz Neumann und andere. Sicherlich kann man den Beginn des Kalten Krieges in Berlin nicht präzise feststellen. Er datiert jedenfalls schon vor dem Wahlsieg der SPD vom 20. Oktober 1946 mit fast 49 Prozent. Eines der möglichen Anfangsdaten ist wohl der 23. Mai mit einer Ente der sozialdemokratischen Zeitung »Telegraf«, ein Angriff auf den Magistrat unter dem parteilosen Oberbürgermeister Werner und dessen Stellvertreter Maron (SED) wegen angeblicher Unterschlagung von 28 700 t Lebensmitteln. Die Ära der von beiden Seiten geführten Schlammschlachten hatte begonnen.
     Der »Telegraf« war es auch, der vor der Neuwahl der Stadtverordnetenversammlung verlangte, der künftige Magistrat dürfe keine SED- Zeitung mehr finanzieren, und im »Sozialdemokrat« wurde die Klärung der Besitzverhältnisse der »Berliner Zeitung« verlangt. Sie hat übrigens bis 1990, bis zu ihrer Einverleibung in die Marktwirtschaft, den eigentlichen Herausgeber - das Große Haus, Sitz des ZK der SED - nie genannt. Für Interessierte war schon 1945/46 unschwer erkennbar, wer in dieser Zeitung das Sagen hatte.
     Die Masse der Leser aber kaufte das Blatt mit seiner rasch steigenden Auflage wegen
seines berlinischen Inhalts und seiner Verständlichkeit, ja Volkstümlichkeit, wegen des Eintretens für die Sorgen des kleinen Mannes, wegen der hilfreichen Kleinanzeigen fast aller Genres (mit Ausnahme von exotischen), auch wegen des Fortsetzungsromans, ein erster, von Andersen-Nexö, erschien ab 14. Februar 1946. Dieser Zeitung ist von Anfang an der Spagat zwischen Politik und täglichen Anliegen der Leser gelungen, mal weniger gut, meist akzeptabel. Stets gab es Redakteure (nicht alle) und Autoren (nicht alle), die zuerst an die Leser dachten und nicht an den Herausgeber.
     Auch die 1946er Auseinandersetzungen wegen des Berliner Wappens im Kopf der Zeitung waren ein kleiner Teil des Ost-West- Konflikts. Das Blatt gewann die von West-Berlin aus angestrengten Prozesse wegen des Bären mit der Mauerkrone. »Fürchtet Euch nicht!« hieß am 7. Dezember ein Leitartikel von Herrnstadt, mit dem er alle politischen Vorwürfe gegen das Blatt zurückwies. Man hat später, in der DDR, diesen Artikel nie zitiert, weil er zwei Grundsätze verkündete, die zu peinlichen Nachfragen Anlass gegeben hätten. »Wir geben uns Rechenschaft davon«, schrieb der Chefredakteur nicht allzu elegant, aber mit großen Worten, »daß uns die tiefe und trächtige Verankerung der >Berliner Zeitung< in Berlin in besonderem Maße zu strikter und vorbehaltloser Beachtung der beiden Prinzipien verpflichtet, mit denen die Zeitung groß geworden ist: der Wahrhaftigkeit und der Überparteilichkeit.«
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Eine der Besatzungsmächte hatte das Blatt bereits anders eingeordnet, als kommunistisches Organ. Die Berliner US- Behörde beschlagnahmte in Tempelhof eine bereits vom Berliner Verlag gekaufte Druckmaschine, die daraufhin nicht in den sowjetischen Sektor transportiert werden konnte. Dennoch gelang ab 23. Juni 1946 der Übergang zu einem größeren Format, dem Rheinischen, das dann beibehalten wurde. Aus dem Schutt der Innenstadt war eine leistungsstarke Maschine geborgen und wiederhergestellt worden. Vom 21. Mai bis 23. August 1945 musste man sich mit dem kleineren Berliner Format begnügen, das später die »BZ am Abend« hatte. Danach gab es bis Juni 1946 eine etwas größere Übergangslösung mit einem nun schon ansehnlichen Zeitungskopf und klareren Schriften, erste Verbesserungen des ungepflegten Layouts.
     Am 21. Mai 1946 zog Günter Kertzscher, einer der fleißigen, politisch eindeutigen und sprachlich vorbildlichen Schreiber, eine Bilanz. In ihrem ersten Jahr habe die Zeitung an großen Themen behandelt: die Einheitsfront der antifaschistisch- demokratischen Parteien, die Einheit der Arbeiterpartei, die Bodenreform sowie die Frage der Pg's, der früheren NSDAP- Mitglieder. Auf dieses grundsätzliche Problem war Kertzscher am 6. 2. in einem Leitartikel »Was wird aus den Parteigenossen?« eingegangen.
Antwort: Für »die Masse der nichtaktivistischen Pg's« gibt es »einen Weg, der zum Ziel führt: die Bewährung in der täglichen Arbeit«.
     Der Beitrag löste eine Flut von Zuschriften aus, darunter die Forderung, alle ehemaligen Mitglieder der NSDAP unterschiedslos auszuschalten, von Ämtern und öffentlichem Einfluss fernzuhalten. Danach verteidigte die Zeitung am 21. April ganzseitig ihre »klare Linie«. Kertzscher, dem später als Chefredakteur seine NSDAP- Mitgliedschaft vom RIAS vorgeworfen wurde, schrieb hier uneingestanden in eigener Sache. Dass er, ohnehin kein Nazi- Aktivist, zum Antifaschisten geworden war, lag für jeden auf der Hand, der ihn kannte.
     In den Jahren 1947 und 1948 stand die Zeitung im Zeichen der Auseinandersetzungen um die Zukunft Deutschlands und Berlins. Wie ein ungewollter Witz liest sich nachträglich eine kurze Meldung auf Seite 1 vom 27. Juni 1947. »Die Alliierte Kommandatura ordnet an: Der Übergang zur einfachen Sommerzeit findet am 29. Juni 1947 um 3 Uhr morgens statt. Alle Uhren sind um eine Stunde zurückzustellen. A. d' Arnoux, Vorsitzführender Stabschef.« Scheinbare Normalität in einer immer unnormaler werdenden Stadt.
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   36   Probleme/Projekte/Prozesse Die »Berliner Zeitung«  Voriges BlattNächstes Blatt
Drei Zeilen für den Heine- Preisträger Hermlin

Was die Moskauer »Neue Zeit« zu »Plänen der Aufteilung Deutschlands« im Juni 1947 zu sagen hatte, nahm dreimal mehr Raum ein als im September der Bericht von der Eröffnung des II. Parteitages der SED. Noch wurde über eine »große Rede« Walter Ulbrichts denkbar knapp und nur referierend informiert, unter Weglassung von Phrasen, konzentriert auf kritische Aussagen.
     Manches von Wichtigkeit war nicht zu lesen. So wurde über die Bildung der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK), die am 4. Juni 1947 erfolgte, mit keinem Wort berichtet. Am 26. Februar 1948 übernahm die DWK das Kommando über die zentralgeleitete Wirtschaft der SBZ - es wurde nicht informiert. Das Thema Geldreform begann sich auszubreiten, ab Juni überschwemmte es die Presse. Für Stephan Hermlin, der in dieser Zeit »für seine Balladen den Heinepreis von 10 000 RM« erhielt, blieb eine Kurznachricht von drei Zeilen.
     Im Oktober 1948 begann der Autodidakt Erich Schmitt auf Seite 2 zu zeichnen. Sein unverkennbarer Strich wurde ab November für Jahrzehnte zu einem Bestandteil der Zeitung. Die Leser mochten seinen Berliner Humor, weniger seine oft gequälte Anti-West- Polemik. Ab Sommer 1949 zeichnete der akademisch ausgebildete, ohne Zigarre und ein Glas Rotwein nicht denkbare Friedrich Gäbel seine

Porträts auf der Kulturseite, wie das Feuilleton damals hieß. Gepflegt wurde die Berichterstattung aus Ost-Berlin. Das zuständige Ressort hieß nicht abwertend Lokales wie in anderen Blättern, sondern Berlin- Redaktion. Dieses Ressort und die Leserbriefredaktion, die sich viel um die Nöte alter Leute und kinderreicher Frauen kümmerte, waren ebenso wichtig wie die politischen Abteilungen und das Feuilleton.
     Die in den Anfängen steckende Wirtschaftsredaktion, mit dem populären Thema Freie Läden (HO) befasst, verschlief im Oktober 1948 ungestraft den Beginn der Aktivistenbewegung. Erst drei Tage nach der 380- prozentigen Normerfüllung des Bergmanns Hennecke vom Steinkohlewerk »Gottes Segen« wurde darüber berichtet. Man bemühte sich jedoch gemeinsam mit der städtischen SED- Leitung, einen Berliner Hennecke zu entdecken, den Werkzeugschmied Grohstück. Normerfüllung: 400 Prozent!
     Bevor mit der Gründung der DDR eine neue Entwicklung der ostdeutschen Medien begann, zunächst unmerklich, bekam die »Berliner Zeitung« Ende Januar 1949 eine neue Druckerei, in der Seydelstraße in Mitte. Sie gehörte ebenso wie die Zeitung und ihr Verlag zum Druckerei- und Printmedienkonzern ZENTRAG, Teil des beträchtlichen Vermögens der SED. Mit zehn 16seitigen Druckwerken konnte die Druckzeit - zuvor neun Stunden für eine halbe Million Exemplare - halbiert werden.
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Von Juli bis Oktober 1949 vollzog sich ein Wechsel in der Leitung der Redaktion. Das dabei zu beobachtende Hin und Her ließ erkennen, dass die SED- Führung sich schwer tat mit der Nachfolge von Herrnstadt, der zum Chef des »Neuen Deutschland« berufen wurde. Im Juli war Herausgeber der Berliner Verlag und Kegel Chefredakteur. Der wurde von August bis Oktober Herausgeber, war damit zu SED- Zeiten die einzige natürliche Person in dieser Funktion. Im August und September gab Georg Stibi als Chefredakteur eine Gastrolle. Ihm folgte bis 20. Oktober Kertzscher als Chefredakteur i. V., und danach war er voll im Amt bis 1954. Aber das ist ein anderes Kapitel.10)
     Die Verantwortlichen der Zeitung, Enthusiasten der ersten Stunde, wurden in den Folgejahren mit anderen Funktionen betraut und mit Orden bedacht - bis auf eine Ausnahme. Rudolf Herrnstadt, als Chef des ND ins Politbüro aufgestiegen, ist 1953 abgesetzt und dann zum Parteifeind erklärt worden. Er hatte andere politische Vorstellungen als Ulbricht und Honecker und hat diese Ansichten nicht für sich behalten. Sein Name war danach bis 1989 auch für die »Berliner Zeitung« tabu. Geblieben ist die Erinnerung an eine Rede, die Herrnstadt am 1. Juli 1949 auf einem Kongress der deutsch- sowjetischen Freundschaft gehalten hat: »Über die Russen« und über uns«. Sie begann mit der Frage »Kann man im Westen im Vergleich zum Osten nicht wenigstens frei reden?«

Quellen und Anmerkungen:
1 Am 25. 1. 1955 erklärte die Sowjetunion den Kriegszustand mit Deutschland für beendet, am 20. 9., mit dem ersten Freundschaftsvertrag DDR- UdSSR, wurde das Amt des Hohen Kommissars aufgelöst

2 Kirsanow, später Oberst a. D. und Ökonomieprofessor, ging im Juni 1945 als Chefredakteur zur »Täglichen Rundschau«
3 Der Chef der Zensur der SMAD, I. Filippow, erließ u. a. am 2. 8. 1945 eine Arbeitsordnung für Druckereien
4 Gerhard Kegel, In den Stürmen unserer Zeit, Berlin (Ost) 1985
5 Gerhard Kegel, in »Neue Deutsche Presse« H. 4/1965, Berlin (Ost)
6 Siehe Eva Kemlein/ Ingeborg Pietzsch, Eva Kemlein. Ein Leben mit der Kamera, Hrsg. Stiftung Stadtmuseum, Berlin 1998
7 Der Autor folgt in dieser Frage der Auffassung des Rechtslehrers Hans Kelsen (1881-1973, zuletzt Harvard und Berkeley, USA), wonach das Deutsche Reich 1945 durch debellatio untergegangen ist
8 Der offiziöse Kommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beginnt mit dem Satz »Am Anfang war der Befehl«
9 Anfang Juli 1945 übernahmen die USA und Großbritannien ihre Westberliner Besatzungssektoren, im August zog Frankreich in die bis dahin britischen Bezirke Wedding und Reinickendorf ein; vgl. »Berliner Zeitung« vom 12. 8. 1945
10 Zu den Jahren 1954-1989 der »Berliner Zeitung« siehe Karl-Heinz Arnold, Zeitung. Ein Journalist berichtet, Berlin 2000

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/2000
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