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Heiko Schützler
Trichter, Trümmer, Tränen

Kriegsende und Zerstörung Berlins in Augenzeugenberichten

Am 21. April 1945 überschreiten Einheiten der Roten Armee im Nordosten die Berliner Stadtgrenze, treffen auf erbitterten Widerstand. Der Kampf in den Straßen Berlins beginnt. Die Deutschen setzen alles auf eine Karte. In Wartenberg, Falkenberg und Malchow hat die SS - um der Roten Armee die Orientierung zu erschweren - am Vortage die Sprengung der mittelalterlichen Dorfkirchen veranlasst, ohne dadurch den Vormarsch aufhalten zu können.1)
     Seit dem 19. März gilt Hitlers »Nero- Befehl«, wonach im Reichsgebiet jegliche Verkehrs-, Nachrichten, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte zu zerstören sind, die für den Feind sofort oder in absehbarer Zeit von Nutzen sein könnten. Als am 21. April in der Feuerwache Oderberger Straße in Prenzlauer Berg der Befehl zum Absetzen gegeben wird, zerstört das Personal gegen den Widerstand einzelner Mitarbeiter die Technik in der Feuermeldezentrale und einen Tankwagen. Dabei entsteht ein Gesamtschaden von etwa 70 000 RM.

Nach Kriegsende können deshalb eine Reihe von Bränden in Prenzlauer Berg nicht gelöscht werden.2)
     Mit dem Stichwort »Clausewitz« wird Berlin am 20. April in den Verteidigungszustand versetzt und die gesamte vollziehende Gewalt auf den Stadtkommandanten übertragen. Schon seit dem 9. März gilt Berlin als Festung, unterteilt in drei Gürtel mit acht durchgängigen Sektoren. Das Stadtinnere, das Zentrum mit dem Regierungsviertel, trägt als neunter Sektor den Namen »Zitadelle«.
     Da die Kohlevorräte in der Stadt zur Neige gehen, ist die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel an Wochenenden und außerhalb des Berufsverkehrs ab sofort verboten, ebenso jeder private Verbrauch von Strom und Gas. Bei Zuwiderhandlung drohen Standgerichte. Zwei Tage später veröffentlicht »Der Panzerbär«, Berlins letzte NS- »Zeitung«, eine Mahnung Hitlers zur Aufrechterhaltung der Disziplin:
     Merkt Euch: Jeder, der Maßnahmen, die unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder gar billigt, ist ein Verräter! Er ist augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen! Das gilt auch dann, wenn angeblich solche Maßnahmen im Auftrage des Gauleiters Reichsminister Dr. Goebbels oder gar im Namen des Führers befohlen werden sollten.
     In den Straßen verfährt die Rote Armee nach einem festen Schema: Vorbereitenden Artilleriestößen folgen Panzer, die den Weg bahnen für die Infanterie.
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So wird Haus um Haus, Straßenzug um Straßenzug gegen erbitterten deutschen Widerstand eingenommen.
     Bedrohlich ist inmitten des Kampfgeschehens die Lebenssituation der Berliner Bevölkerung. Die Mehrheit ist sich des nahen Kriegsendes bewusst. Außer den Fanatisierten unter den Verteidigern, Waffen-SS und Hitlerjugend, hat niemand mehr die Illusion einer durch »Wunderwaffen« herbeizuführenden Wende. Ohne die Angst vor dem Terror der fliegenden Standgerichte wäre die Mehrzahl der Wehrmachts- und Volkssturmangehörigen längst desertiert. Doch auch viele der SS- Männer treibt nur die Angst zum Durchhalten. Rekrutiert aus halb Europa, wollen sie unter keinen Umständen den Russen lebend in die Hände fallen.
     Entgegen aller Durchhalteparolen besteht die Realität in allgemeiner Auflösung. Nazis setzen sich ab oder bringen ihre Familien in Sicherheit. Traudl Thiele, 16- jährige BDM-Maid, bekommt am 20. April den Auftrag, Frauen und Kinder aus Berlin herauszubringen. Sie borgt sich das Fahrrad der Hauswartsfrau und meldet sich wie verlangt mit zwei weiteren Mädchen in der Wildensteiner Straße in Karlshorst.
     Und wen »begleiteten« wir?…Die Frauen und Kinder der NSDAP- Größen aus Karlshorst. Mit viel Hab und Gut saßen sie auf Lastwagen, wir drei fuhren auf unseren Fahrrädern nebenher. Mit kurzen Stationen ging es dann quer durch Berlin.

Flugblatt der Roten Armee

Irgendwann, irgendwo verloren wir während eines Fliegerangriffs unsere »Schutzbefohlenen«, und nun irrten wir drei verloren durch das rauchende, zerstörte, brennende Berlin. Wir versuchten, mit unseren Rädern über Staaken nach Westen aus der Stadt herauszukommen. »Nichts da«, sagten uns Soldaten, »die Stadt ist eingekreist; hier kommt ihr nicht durch.«3)

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Wer sich wie Traudl Thiele außerhalb von Schutzräumen aufhält, wird mit schockierenden Erlebnissen konfrontiert, die teilweise das Fassungsvermögen des einzelnen übersteigen. Tod und Vernichtung sind allgegenwärtig.
     Zurück - eine weitere Erinnerung: Wir radeln - um umgestürzte Bäume, um Trümmer und Schutt herum über den Ku'damm in Richtung Innenstadt/Gleisdreieck, wo Erika wohnte. Der Ku'damm lag unter Artillerie- Beschuß. An irgendeinem Laden stand eine Menschenschlange, um die letzten Lebensmittelrationen abzuholen. Mitten hinein schlägt eine Granate! Und wir fahren daran vorbei - wie in Trance, wie nicht betroffen. Das Grauen ringsumher war nicht mehr zu fassen, es hatte mich versteinert.4)
     Editha Rohleder, damals 20 Jahre alt, berichtet Folgendes:
     Irgendwann kam dann ein Offizier und holte uns rüber in den Zoo- Bunker. Draußen, auf dem Bordstein, wo ich Stunden vorher gesessen hatte, saß ein Mädchen oder eine junge Frau - und das war mit das Schrecklichste, was ich je gesehen habe -, die war ganz verbrannt, die brannte! Da bin ich in den Zoo- Bunker rein und habe geweint und geweint. Ich musste also helfen, die Verwundeten zu betreuen. Und das war ganz schlimm. Es war nicht genug Platz für alle in diesem großen Zoo- Bunker, es gab nicht genug Betten; viele lagen so auf der Erde. Es waren fürchterliche Dinge, mit denen ich da - ich war ja ein junges Mädchen - konfrontiert wurde: Die Verwundeten lagen da mit abgeschossenen Armen und Beinen, alles voller Blut, und schrieen.5)
Später versucht sie gemeinsam mit einer Freundin, außerhalb des Bunkers etwas zu essen.
     Durch die Katakomben an der Siegessäule sind wir, haben in Kellern und überall rumgekrabbelt. Aber wir haben kaum etwas gefunden. Dabei sind wir an offenen Gräbern vorbei, wo 20 und noch mehr Tote drinlagen; es war ganz grauenvoll.
     Auf der Straße, da kamen uns die Tiere aus dem Zoo entgegengelaufen, Strauße und andere. Die waren zum Teil angeschossen und verletzt und liefen da so wild und hilflos herum. Man wusste ja nicht, sind die gutartig oder sind die böse.6)

     Gerüchte erzeugen Illusionen und Angst; die Entsatzarmee Wenck geistert lange durch die Gespräche, man munkelt von einem Waffenstillstand mit dem Westen, doch die Rede geht auch von russischer Rache an der deutschen Bevölkerung, von Versklavung und Abtransport nach Sibirien.
     Viele werden durch den sinnlosen Widerstand obdachlos, weil ihr Haus den Verteidigern als Deckung dient. Der Schauspieler Heinz Rühmann erinnert sich,
     daß zehn deutsche Soldaten auf unser Grundstück kamen und der Leutnant ernsthaft sagte: »Wir sind die HKL, die Hauptkampflinie.« Vor ein paar Jahren hatte sie von Narvik bis Athen gereicht, 3 000 Kilometer Luftlinie. Jetzt war unser Garten, keine 300 Meter breit, die HKL… Das Holzhaus brannte innerhalb weniger Minuten wie eine Fackel. Den Beschuss hatten wir der elfköpfigen HKL zu verdanken, die als erste das Feuer eröffnete.
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Der Russe erwiderte vom gegenüberliegenden Ufer des Wannsees. Von allen Häusern am Wannsee wurde nur unseres zerstört.7)
     Am 24. April erreicht die Rote Armee von Süden her Zehlendorf. Wie der dort wohnhafte Psychologe Matthias Menzel in seinen Tagebüchern und in Briefen beschreibt, wird er um fünf Uhr morgens durch eine ungeheure Kanonade aus dem Schlaf gerissen.
     Die Wände rieseln, Fenster klirren, Pulverdampf kriecht ins Zimmer. Die Schlacht ist uns nun auf den Leib gerückt. Es braust, kracht, pfeift, schlägt ein. Häuser stürzen zusammen. Der frühe klare Morgen erstickt hell in Rauch und Qualm. Ich spüre, daß nun die große Stunde gekommen ist. Ein Trupp SS marschierte stadteinwärts, zurück. Ein Unteroffizier, blutüberspritzt, die rechte Hand in der Binde, humpelte an den Geschäften entlang, zurück. Wie weit die Russen seien, fragte ich ihn. »Es ist alles vorbei«, murmelte er und schlurfte weiter. Dann wurde es ganz leer, eisig leer wie auf dem sturmumtosten Plateau eines Eisberges.8)
     Die sowjetischen Fliegerkräfte verfügen längst über die Lufthoheit und unterstützen ihre Bodentruppen. Das Sowjetische Informationsbüro gibt bekannt:
     Durch Bomben- und Sturzkampfangriffe vernichteten die sowjetischen Flieger Panzer, Kraftfahrzeuge, Artillerie- und Minenwerferbatterien des Gegners. In Luftkämpfen wurden an diesem Tage 26 deutsche Flugzeuge abgeschossen.9)
Aus der Sicht des Zeitzeugen Menzel stellt sich das Geschehen so dar:
     Bomberwellen über Bomberwellen über uns, niedrig, sichtbar die klobigen Zweimotorigen, von flinken hoch und nieder kurvenden Jägern umschwirrt, von niemandem bedroht, von niemandem beschossen. Vor uns, um uns, neben uns Trichter, Trümmer, Schrecken. Keiner wehrt ihnen, keiner hindert sie. Sie sind schon die Herren, bevor sie da sind.
     Im Keller seines Hauses erwartet Matthias Menzel die Sieger:
     Da kommen sie, fünfzig Meter wohl weitab, langsam, friedlich fast, drei, vier Mann hintereinander, dunkelblaue Stahlhelme auf dem Kopf, die Maschinenpistole vor dem Leib, mit schwerem, lastenden Schritt, als wollten sie der Erde, die sie jetzt betreten, mit der ersten Berührung ihr unverlierbares Siegel aufdrücken. Sie sind die Herren der Straße, selbst der kleinen, abgelegenen, stillen Vorortstraße.
     Am nächsten Tag kommen sowjetische Soldaten in den Keller.
     Ununterbrochen lösen sie einander ab: die Rauhen, Grimmigen und die mit dem Lächeln der Kinder. Die Sieger gehen durch die offenen Türen. Das ist das Unrecht des Krieges.
     Gerüchte von Vergewaltigungen gehen um. Die Frauen hüllen sich den Kopf mit Tüchern, verbergen sich, schwärzen Gesicht und Augen, wollen nicht schön sein.
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Doch auch nach verborgenen deutschen Widerstandsnestern suchen die Soldaten. Die Propaganda vom »deutschen Werwolf« schreckt sie, so sind sie voller Misstrauen.
     Sie können noch nicht glauben, daß in den Häusern, an denen der Sieger vorbeizog, endlich der große Druck gewichen ist und jetzt nichts anderes als die kranke Ruhe des abklingenden Fiebers ist.
     Der Psychologe beschreibt die Zustände als Krankheitsbild:
     Zerfetzt, zerschlagen, zerfleischt, zerwühlt liegen Häuser, Wohnungen, Läden. Wie schlingerndes Gedärm hängt aus ihnen das, was übrig blieb.
     Das Ende der Kämpfe wird von der Mehrzahl der Bevölkerung aufatmend zur Kenntnis genommen. Manch einer aber empfindet ganz besondere Erleichterung, so auch Hans-Joachim Klooss, damals 21 Jahre alt:
     Im Mai 1945, ja - da war für uns endlich der Krieg aus; wir fühlten uns befreit, konnten wir doch nun endlich wieder ohne Angst und ohne Gefahr leben.
     Wir wohnten damals - meine Eltern, meine Brüder und ich - am Kurfürstendamm 175, hier in Berlin. Dort im Keller hatten wir auch zusammen diese letzte Zeit überstanden; ich als Illegaler - meine Mutter, die Jüdin war, in ständiger Furcht, doch noch abgeholt zu werden. Im Mai 1945 wussten wir zunächst nur eines: Wir waren am Leben geblieben, und es würde schon irgendwie weitergehen.10)
Arthur Pieck (1899-1970), Sohn des späteren DDR- Präsidenten Wilhelm Pieck (1876-1960) und als Hauptmann der Roten Armee Ende April nach Berlin gekommen, erkundet die Stimmung der Bevölkerung:
     Die Stimmung der Berliner im gegenwärtigen Moment lässt sich kurz so charakterisieren: Obwohl alle Menschen froh sind, daß die Bombardierungen aufgehört haben und der Krieg für die Berliner nun aus ist, ist die Stimmung gedrückt und niedergeschlagen. Männer wie Frauen fangen leicht an zu weinen. Die meisten haben alles verloren: Wohnung, Eigentum, Geld und stehen vor dem Nichts. Die Familien sind auseinandergerissen, keiner weiß, wo seine Angehörigen und Freunde sind. Nach den großen Versprechungen der Nazis, an die ja die meisten fest glaubten, haben sie jetzt eine Katastrophe, deren Ausmaß sich gar nicht überschauen lässt.11)
     In der Tat ist das deutsche Volk nun befreit. Befreit vom Krieg, von der Ungewissheit der Zukunft, von den ständigen Luftangriffen. Aber die meisten Menschen beschäftigt der Kampf ums eigene Überleben. In ihrem Tagebuch beschreibt die Schriftstellerin Karle Höcker die Plünderung eines Lebensmittelgeschäfts:
     2. Mai. Wir ziehen wieder nach oben. Ich vernagle Fenster, die beim Einschlag der Stalinorgel draufgingen. Plötzlich heißt es, bei Rollenhagen würden Lebensmittel verteilt!
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Geri und ich hin, finden die Ladentür offen, einen russischen Soldaten davor, neben ihm ein Zivilist mit blaurotweißem Abzeichen. Lebensmittel?
     Nitschewo! Aber dasselbe soll jetzt bei Scholz steigen. Durch zerbrochene Ladenfenster drängen Leute hinein; kein Russe verteilt hier etwas. Während wir noch unentschlossen dabeistehn, geschieht Widerliches. Der Pöbel - aber es ist der Pöbel unserer Gegend - stürzt sich auf das Mehl, den Grieß, auf Margarine und Nährmittel, Schubladen werden aufgerissen und umgestürzt; Hände wühlen darin herum, raffen gierig Zucker zusammen, um ihn in mitgebrachte Behälter zu stopfen. Pfundweise geht er verloren,

Beseitigung der Kriegsschäden an der Hochbahnstrecke auf der Schönhauser Allee
fällt auf den Boden, schmutzige Stiefel trampeln darüber. Andere Leute drängen zum Keller; dort werden Kisten mit Tomatenmark und anderen guten Dingen entdeckt. Ein Rausch der Besitzgier erfasst die Leute, der Spießer wird hemmungslos.12)
     Im Kontrast dazu eine ganz andere Episode. Ein Paar, von den Nürnberger Rassegesetzen an der Eheschließung gehindert, heiratet noch in der ersten Maihälfte. Es ist ihnen ein dringendes Bedürfnis, der NS-Zeit die Wiederherstellung bürgerlicher Wohlanständigkeit entgegenzusetzen.
     Es ist der 14. Mai 1945. Das erste Standesamt, das wieder geöffnet war, ist am
Sophie-Charlotte- Platz und gehört zu unserem Bezirk.
     »Mein Mann« meldet uns an, und dann läuft er stundenlang durch Berlin und sucht unsere Freunde.
     Ob sie noch leben und wo? Sie sollten unsere Trauzeugen und Hochzeitsgäste sein…
     Am 19. Mai 1945 liefen wir von der Fasanenstraße die Kantstraße entlang zum Sophie-Charlotte- Platz, den Kinderwagen schiebend - ein Kind saß darin, das andere darauf. Den Wagen über die auf den Straßen liegenden Bäume und Trümmer hinweghebend, strebten wir mit den gefundenen Trauzeugen zum Standesamt.
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   10   Probleme/Projekte/Prozesse Augenzeugen zum Kriegsende  Voriges BlattNächstes Blatt
Eine Bekannte aus dem Haus nahm uns die Kinder während dieser Zeremonie ab. Der Beamte, noch einer der übriggebliebenen aus dem »Dritten Reich«, machte sein sauerstes Gesicht und erwähnte den besonderen Anlaß mit keinem Wort. Nachdem alles unterschrieben war, gratulierte zuerst unsere Älteste, und wir machten alle zusammen unsere Hochzeitsreise mit der gerade wieder eröffneten U-Bahn von Sophie-Charlotte- Platz bis Knie (heute Ernst-Reuter- Platz). Den Weg zur Fasanenstraße mussten wir dann wieder zu Fuß gehen.
     In unserem Luftschutzrucksack hatten wir als »eiserne Reserve« noch etwas Speck aus Mittelfranken, aus dem ich mit den letzten Bohnen ein leckeres Hochzeitsmahl gekocht hatte. Blumen gab es auch, die ein Trauzeuge unterwegs zu uns geklaut hatte. Es war Flieder. Und Wein, eine Flasche, von den Russen übersehen, hatte meine Cousine, die als Jüdin unter schwierigsten Umständen die Nazizeit überlebt hatte, bei sich vorgefunden und mitgebracht.
     Es fanden sich noch zwei Freunde ein, die aus der Lausitz nach Berlin geflüchtet waren13)

     Der Blick der Berliner ist auf das Überleben gerichtet. Was aber empfindet ein Außenstehender, der Berlin in diesen Tagen betritt? Auch hierzu gibt es Berichte von Zeitzeugen.
     Nachdem bereits im April die »Gruppe Ulbricht« nach Berlin entsandt worden ist, um die Machtfrage im sowjetischen Sinne zu klären, trifft Anfang Juni ein weiteres Flugzeug aus Moskau ein.
An Bord ein junger Mann, der die Aufgabe hat, am Wiederaufbau des Rundfunks in Berlin mitzuarbeiten. Sein Name: Markus Wolf. An seine in Moskau verbliebenen Eltern schreibt er am 4. Juni 1945:
     Der Flug ging sehr gut vor sich. Zwischenlandung in Minsk. Nach der Oder ein kleiner Streifen verwüsteter Erde, aufgewühlte Befestigungsanlagen. Dann bis Berlin - schöne, saubere und vor allem unbeschädigte Dörfer und Städtchen inmitten von Wäldern und Seen; prachtvolle Autobahnen und so weiter. Die Vororte von Berlin sehen von oben auch so gut wie unbeschädigt aus. Doch dann ein Kreis über Berlin selbst! Man traut seinen eigenen Augen nicht. Von oben sieht das alles ganz unnatürlich aus. Ein Straßenzug nach dem anderen, ein Bezirk folgt dem anderen, völlig zerstört, nichts als leere Schachteln, und nur der Verkehr auf den gesäuberten Straßen lässt erkennen, daß das da unten wirklich Berlin und nicht eine von der Hand eines übertreibenden Dekorateurs aufgestellte Makette ist.
     Der Schock des ersten unmittelbaren Eindrucks der zerstörten Stadt veranlasst Markus Wolf zu folgender Überlegung:
     Die innere Stadt, wo es enge Straßen gab, existiert nicht mehr, und außen ist alles sehr schön und grün. Da man im Inneren ja doch nur einen Teil wiederaufbauen kann (wenn man das sieht, kann man es kaum glauben), wird das neue Berlin eine vollkommen »grüne Stadt« sein. Anders kann ich mir das gar nicht vorstellen. Alles, buchstäblich alles ist zerstört.
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Es wäre bestimmt rentabler , eine neue Stadt aufzubauen, als hier allein den Schutt und die Trümmer wegzuräumen.14)
     Auch andere Heimkehrer teilen 1945 diese Meinung. So schreibt Lotte Kühn, die spätere Ehefrau von Walter Ulbricht (1893-1973), am 30. Mai 1945 an Wilhelm Pieck nach Moskau:
     Nach der Ankunft fuhren wir durch das ganze Zentrum. Der Anblick war erschütternd. Man muss es selbst gesehen haben. Jedenfalls ist an einen baldigen Wiederaufbau nicht zu denken.15)
     Doch so zerstört, wie die Stadt dem von außen kommenden Betrachter erscheint, ist sie mitnichten. Aus dem Schock, dem tiefe Depression folgt, entsteht die Legende von der total zerstörten Stadt Berlin. Sie wird so manifest, dass sie in den nächsten Jahren nicht mehr angezweifelt werden wird, ganz im Gegenteil; sie bildet die Basis für die umfassenden Strukturvernichtungen, die unter dem Vorzeichen des Wiederaufbaus in den 50/60er Jahren einsetzen.
     Der Schock ist verständlich. Nie hätte ein Mensch, der die Stadt im intakten Zustand gekannt hatte, solch Bild sich vorzustellen vermocht. In Anlehnung an Klemperers LTI entsteht der sarkastische Begriff der »Reichstrümmerstadt«.
Doch schon allein der oberirdische Zerstörungsgrad nimmt - wie Wolf in Beschreibung der Fahrt von Tempelhof nach Friedrichsfelde ganz richtig feststellt - vom Zentrum weg ab. Je weiter man sich der Stadtgrenze nähert, desto »normaler« erscheint das Leben. Die nachfolgenden Zahlen bestätigen diesen Eindruck.
     1946 berechnet der Ingenieur Ernst Randzio den Wert des oberirdischen Berlins.16) 1939 hat dieses einen Wert von 20 Milliarden Mark dargestellt, wovon nach Abzug des Bodenwertes von 4,671 Milliarden ein reiner Gebäudewert in Höhe von 15,329 Milliarden Mark übrigbleibt. Von diesem sind durch Kriegseinwirkung beschädigt:
total: 11,6 % (100 % des Bauwertes)
schwer: 8,3 % (75 % des Bauwertes)
wiederherstellbar: 9,7 % (30 % des Bauwertes)
leicht (bewohnbar): 69,4 % (10 % des Bauwertes)
Daraus ergibt sich der Wert des zerstörten oberirdischen Berlins:
15,329 Mrd. · 0,116 · 1,00 = 1,778 Mrd.
15,329 Mrd. · 0,083 · 0,75 = 0,943 Mrd.
15,329 Mrd. · 0,097 · 0,30 = 0,446 Mrd.
15,329 Mrd. · 0,694 · 0,10 = 1,063 Mrd.
4,230 Mrd.
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Vom Vorkriegswert abgezogen verbleibt ein Rest von 11,099 Milliarden Mark. Der Wert der erhaltenen oberirdischen Bausubstanz liegt daher gegenüber 1939 immerhin noch bei 72,4 Prozent, nur reichlich ein Viertel des Wertes muss als vernichtet gelten.
     Noch interessanter sind freilich Randzios Zahlen für das unterirdische Berlin. Die unterirdische Infrastruktur setzt sich zusammen aus Kabel- und Rohrleitungen, überdecktem Grabenbauwerk, Flach- und Tiefkellern, unterirdischen Behältern, Einschnitten mit Böschungen oder Futtermauern, U-Bahnen, Brunnen und Schächten, Stollen und Tunneln. Eine Erfassung nach Kriegsende stellt eine fast völlige Unversehrtheit dieser Anlagen fest. Betrug deren Wert 1939 5,843 Milliarden Mark, so liegt er Ende 1945 bei 5,341 Milliarden, was einen Erhaltungsgrad von 91,5 Prozent bedeutet. Nur ein knappes Zehntel ist zerstört.
     Randzios Anliegen ist es, den engen Zusammenhang von ober- und unterirdischer Struktur deutlich zu machen, wird letztere doch bei allen Wiederaufbauplänen sträflich vernachlässigt. Einsamer Höhepunkt solcher Utopien wird der Plan von Hans Scharoun (1893-1972), der vorsieht, Berlin zunächst bis auf einige wenige Gebäude von hohem historischen Wert abzuräumen und auf der neu gewonnenen an einem auf den Verlauf des Berliner Urstromtales bezugnehmenden Verkehrsachsenraster ausgerichtete durchgrünte Siedlungen anzulegen. Der Plan bleibt unrealisiert, doch man wird erst Anfang der 50er Jahre beim Bau der Stalinallee (heute Karl-Marx- Allee)
einen Eindruck davon bekommen, wie weitab aller Machbarkeit er gewesen ist, hat man hier doch große Probleme, das alte Leitungssystem für Gas, Wasser, Elektrizität und Kanalisation mit der neuen Breite der Straße in Einklang zu bringen.
     Trotz aller gegenteiligen Tatsachen setzt sich die Auffassung durch, dass Berlin mit Kriegsende nicht mehr bestanden habe. Doch nicht nur Randzios Berechnungen sprechen eindeutig dagegen. Auch die folgenden Zahlen widerlegen diese Ansicht. Wohl sind 55 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt der absolute Spitzenwert aller beschädigten deutschen Städte mit mehr als 200 000 Einwohnern, lediglich Hamburg mit 35,8 Millionen Kubikmetern Trümmerschutt, Dresden mit 25 und Köln mit 24,1 stoßen in ähnliche Regionen vor, doch relativieren sich die Werte, setzt man sie in Beziehung zur jeweiligen Einwohnerzahl. Bei einer Kubikmeterzahl von 39,7 pro Einwohner rückt Dresden an die Spitze der Statistik, gefolgt von Köln mit 31,2. Hamburg liegt mit 20,9 auf Platz 8, und Berlin erreicht mit 12,7 Kubikmetern pro Einwohner lediglich Platz 14 in der Tabelle. Bei den zerstörten Wohnungen führt mit 70 Prozent Verlust im Vergleich zum Vorkriegsbestand Köln, Dresden befindet sich mit 60 Prozent auf Platz 5, Hamburg mit 53,5 auf Platz 7. Berlin liegt mit 37 Prozent lediglich an zwanzigster Stelle.17)
     Die gewaltige Größe Berlins hat eine vollständige Vernichtung verhindert, die Waffentechnik war noch nicht so weit. Die Atombombe wird erst im August zum Einsatz kommen, über Japan.
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   13   Probleme/Projekte/Prozesse Augenzeugen zum Kriegsende  Voriges BlattArtikelanfang
1 Vgl. Anke Huschner, Hohenschönhausen (Gesch. d. Berliner Verwaltungsbez., hg. v. Wolfgang Ribbe, Bd. 15), Berlin 1995, S. 128, siehe auch Jacoby, Liesel, Tagebuchaufzeichnungen vom 20./21. 4. 1945, veröffentlicht in »Junge Welt«, 6. 5. 1983
2 Meldung vom 12. 10. 1945 über Zerstörungen in der Feuerwache Oderberger Straße, abgedruckt in: Klaus Scheel, (Hg.) Die Befreiung Berlins 1945. Eine Dokumentation; Berlin 1985, Nr. 56
3 Traudl Thiele, Karlshorst - Staaken - und zurück, in: Peter Heilmann, (Hg.), So begann meine Nachkriegszeit: Männer und Frauen erzählen vom Mai 1945, Berlin 1985, S. 146 f.
4 ebd.
5 Editha Rohleder, Wir waren zu jung und zu dusselig, in: Heilmann, Nachkriegszeit, S. 128
6 ebd., S. 129
7 Heinz Rühmann, Das war's. Erinnerungen, Berlin, Frankfurt/Main.: 6. erg. Aufl. 1994, S. 158 f.
8 Matthias Menzel, Die Stadt ohne Tod. Berliner Tagebuch 1943-1945. Berlin 1946, S. 177-182
9 Bericht des Sowjetischen Informationsbüros für den 24. April 1945, in: Berlin, Quellen und Dokumente 1945-1951, 1. Halbband, Berlin 1964, Nr. 12, 12 a, 18 a
10Hans-Joachim Klooss, Für uns war es die Erlösung, in: Heilmann, Nachkriegszeit, S. 78
11Brief Arthur Piecks an seinen Vater in Moskau, abgedruckt in: »Gruppe Ulbricht« in Berlin. April bis Juni 1945, von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945; eine Dokumentation. Hg. u. eingeleitet von Gerhard Keiderling; Berlin: Berlin 1993, Dok. 048, S. 307
12Karla Höcker, Beschreibung eines Jahres: Berliner Notizen, Berlin 1984, S. 45 f.
13Agathe Sieben, Die kurze Hochzeitsfeier, in: Berliner Forum, Schriftenreihe, hg. v. Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, 9/77, S. 89f.
14Markus Wolf, Die Troika, Geschichte eines nichtgedrehten Films, nach einer Idee von Konrad Wolf, Berlin 1989, S. 290 f.
15Gerhard Keiderling, »Gruppe Ulbricht« in Berlin, S. 429
16Ernst Randzio, Unterirdischer Bauraum; in: Der Bauhelfer, H. 5, 1946, S. 10 f.
17Tabelle bei Christian Engeli, Krieg und Kriegsfolgen in Berlin im Vergleich zu anderen Großstädten; in: Berlin im Europa der Neuzeit: ein Tagungsbericht/ hg. V. Wolfgang Ribbe u. Jürgen Schmädecke. - Berlin, New York 1990 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 75: Publikationen der Sektion für die Geschichte Berlins), S. 406
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/2000
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