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Gerd Heinrich (Hrsg.)
Tausend Jahre Kirche in Berlin- Brandenburg.

Wichern- Verlag Berlin 1999

Bis zur Aufklärung im 18. Jahrhundert ist Kirchengeschichte praktisch identisch mit der Geistesgeschichte der Gesellschaft: Was immer in dieser zu diskutieren war, vollzog sich im Rahmen der Kirche - oder eben auch gegen sie. Interessant genug, die Rezension eines neuen Standardwerkes auf diesem Gebiet zu veröffentlichen, auch wenn sie in der Länge den üblichen Rahmen sprengt. Unser Autor Klaus Duntze1) hat sich die tausend Jahre genau angeschaut.
     Am Anfang steht die Bewunderung für die Leistung, ein solches Kompendium zu erstellen, eintausend Jahre Berlin- Brandenburgischer Kirchengeschichte überhaupt einzufangen. Vollständigkeit war von vornherein ausgeschlossen: »Es ließ sich bei diesem Werk bei weitem nicht alles zeigen von der Vergangenheit«. (Heinrich, Einleitung, S. 13)
     Das Mittelalter. Anfänge und Ausbau der christlichen Kirche in der Mark Brandenburg bis 1535 (Dietrich Kurze) Kirchengeschichte in diesem Zeitraum ist Landesgeschichte, Kolonialgeschichte, Missionsgeschichte in einem. Von der gewaltsamen Christianisierung der Slawen bis zum Vorabend der Reformation in Brandenburg zeigt Kurze eine Kriegs-, Politik- und Kulturgeschichte, die immer mehr unter christlich- kirchlichen Einfluss gerät, aber das slawisch- wendische Element nur verdrängen, nicht auslöschen kann. Pfarreien und Ordensgründungen, Stadt und Land, Brauchtum und Frömmigkeit erscheinen als die Elemente, aus denen sich das Land Brandenburg formt und sich seine kirchlichen Strukturen entwickeln.

Am Ende ist Ordnung eingekehrt, staatliche und kirchliche, um in der folgenden Zeit auf den Prüfstand der Reformation zu geraten. Die klare Gliederung in drei Epochen, die Kurze vornimmt, die jeweils wiederkehrenden Aspekte der Betrachtung machen den verwirrend reichen Stoff transparent. Hilfreich wäre schon hier eine Karte zur politischen und kirchlichen Entwicklung, auch dürfte eine Reihe kirchenhistorischer Begriffe dem Laien Beschwer bereiten. Ein Problem, das jedoch alle Beiträge durchzieht und dem nur durch einen lexikalischen Teil abzuhelfen gewesen wäre. Doch ist die Unbekümmertheit der Autoren hinsichtlich der Fachsprache ihres jeweiligen Gebietes deutlich gestuft - manche haben es sich schwer und dem Leser leichter gemacht.
     Kirchenregiment und Verkündigung im Jahrhundert der Reformation 1517-1589 (Iselin Gundermann); Die märkischen Landkirchen in der Reformation (Peter Schmidt); Die Hinwendung des Kurhauses zum reformierten Bekenntnis 1598-1620 (Rudolf von Thadden); Brandenburg auf dem Wege zum polykonfessionellen Staatswesen 1620-1688 (Wolfgang Ribbe). Gute 150 Jahre umfasst der nächste Abschnitt - die Geschichte läuft schneller, auch die Kirchengeschichte. Dabei stellt Iselin Gundermann den besonderen Weg zur Reformation in Brandenburg ausgesprochen interessant, lehrreich und lebendig dar, ohne sich in allzu viel Einzelheiten zu verlieren. Dass es Joachim II. gelungen ist, sowohl Luthers als auch des Kaisers Zustimmung zur neuen Kirchenordnung in seinem Lande zu erreichen, wirkte sich positiv auf die friedliche Entwicklung der Glaubensangelegenheiten aus, legte aber andererseits den Grund für ein besonders orthodoxes Luthertum, das dem protestantisch- reformierten Bekenntnis noch feindseliger gegenüberstand als dem »Papismus« der katholischen Kirche.
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So brachte die Hinwendung des Kurhauses zum reformierten Bekenntnis 1613 durch Johann Sigismund den Religionsfrieden in Brandenburg- Preußen ernstlich in Gefahr, legte aber gleichzeitig die Basis für eine in anderen protestantischen Staaten undenkbare interkonfessionelle Toleranz, deren Begründung Rudolf von Thadden in seinem Beitrag beschreibt und deren Durchsetzung und Erweiterung auf die Aufnahme europäischer Glaubensflüchtlinge Wolfgang Ribbe als Wege zu einem polykonfessionellen Staatswesen darlegt. Dabei blieben die Reformierten deutscher und französischer bzw. Schweizer Herkunft immer eine kleine, aber durch das Herrscherhaus in die einflussreichen Positionen gebrachte Minderheit. Die Stärke dieses Abschnittes ist die Verdeutlichung dieser innerprotestantischen Streitlinie bis zu den Unionsbestrebungen im 19. Jahrhundert. Aber dies ist ein anderes Kapitel. Wichtig auch der kleine Beitrag von Peter Schmidt, der an der inneren Neuordnung der außen unveränderten und von Bilderstürmen verschonten märkischen Landkirchen für den Niederschlag des neuen Glaubens die Augen öffnet - bis hin zum Zusammenhang der Neuausstattungen mit den im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts gestiegenen Getreidepreisen. Dass Katholiken und Juden von den Toleranzbestrebungen im 16. und 17. Jahrhundert noch kaum profitierten, stellt Ribbe (nur) am Rande dar - dieser Weg war noch lang, am längsten für die Juden.
     Von Friedrich I. bis Friedrich II. die Epoche der Kirche und der Religiosität im Dienst des Absolutismus (Thomas Klingebeil: Pietismus und Orthodoxie. Die Landeskirche unter den Kurfürsten und Königen Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. 1688-1740. Horst Möller: Toleranz als »zärtliche Mutter«: Kirchen und Konfessionen im Zeitalter der Aufklärung und der religiösen Indifferenz 1740-1797) Die herrschende lutherische Orthodoxie geriet nicht nur durch die Zuwanderer und den reformierten Hof unter Druck, sondern durch die neu aufkommende, klassenüberschreitende Bibelfrömmigkeit,
den Pietismus, der in Preußen durch Franke in Halle, Spener und Porst in Berlin und die Herrnhuter Brüdergemeinde, die allerdings bei Klingebeil keine Erwähnung findet. Die persönliche, wenn auch sehr gewaltsame Frömmigkeit Friedrich Wilhelms I. suchte sich die Kirche zum inneren Aufbau des Staates dienstbar zu machen; um das wahre Christentum, um Diensteifer und Fleiß, Gehorsam und Hingabe zu fördern, wollte er doch durch mancherlei Reformen Gottesdienst und religiöse Bräuche von ,papistischem Unrat, den Resten der katholisierenden Kirchenordnung seines Vorfahren Joachim II. befreien. Musste aber, wie Klingebeil eindrücklich darzustellen weiß, mit seinen reformerischen Gewaltakten scheitern. Der Aufklärung ab der Mitte des 18. Jahrhunderts fiel dann weitgehend auch der Pietismus zum Opfer, die lutherische Orthodoxie, starr und unbelehrbar, geriet mit ihrer Vernunftfeindlichkeit vollends ins theologische Abseits. Man rückte - ermutigt durch die königliche Indifferenz Friedrichs II. - den Glaubens- und Lebensfragen nun mit der Vernunft, der göttlichen Urkraft im Menschen, zu Leibe. Horst Möller schildert die Erschütterungen des theologischen Weltbildes durch den Deismus, der Gott nur noch als Anstoß der Welt benötigt, um sie dann den Naturgesetzen überlassen zu sehen. Interessant seine Ausführungen über die Realität der Aufklärung im Pfarreralltag in Stadt und Land, wobei sich in den Gemeinden an der Zumutung eines neuen, aufgeklärten Gesangbuches anstelle des altehrwürdigen »Porstschen`« der Zorn entzündete - Aufklärung war nichts fürs einfache Gemüt. Und als die Folgen allzu freien Umgangs mit den religiösen Normen im Lande spürbar wurden, ließ Friedrich Wilhelm II., (persönlich ein fürstlicher Libertin ersten Ranges) seinen Minister Wöllner jenes berüchtigte Religionsedikt herausbringen, das der Gesellschaft Frömmigkeit aus Staatsräson abverlangte, Freimütigkeit unter Strafe stellte und selbst den Philosophen Kant mundtot machen wollte.
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Unter dem inneren Druck der Aufklärung und dem äußeren Druck staatlicher Interessen wurden die kirchlichen Institutionen immer stärker vom Staat vereinnahmt und instrumentalisiert, wobei die konfessionellen Unterschiede immer weniger Beachtung fanden - ein guter Staatsbürger mag seinen Weg zum Himmel wählen, wie er will.
     Mit Friedrich Wilhelm III. kam wieder ein König zur Herrschaft, der von persönlicher Frömmigkeit und persönlicher Ethik geprägt war. In seiner Regierungszeit entwickelte sich das »Kirchenwesen« zur Landeskirche. Hans-Dietrich Loock beschreibt Das Zeitalter der Reformen und der Konfessionsunion (1798-1840), wobei die Zeit bis zu den Napoleonischen Kriegen von Denkschriften, Gutachten und Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und den kirchlichen Behörden, vor allem dem lutherischen Oberkonsistorium, bestimmt waren; dieses widersetzte sich seiner Auflösung in die Sektion Kultus des Innenministeriums mit richtungweisenden Vorschlägen für eine sich selbst verwaltende evangelische Kirche, in der die verschiedenen Konfessionen vereinigt sein sollten. Damit war die Aufgabe formuliert, die bis in die 70er Jahre des Jahrhunderts die Kirchenpolitik bestimmen sollte. Auf den Weg gebracht wurden bis zur Kriegszeit nur Ansätze der Reformen, vor allem im Prüfungswesen, um das beklagenswerte theologische Niveau der Prediger zu heben. An den desolaten ökonomischen Verhältnissen des Standes änderte sich freilich noch lange Zeit nichts, so deutlich auch die Vorhaltungen der Gutachten der Kommissionen, auch Daniel Friedrich Schleiermachers, zu diesem Thema waren. Loock stellt dar, wie im Zuge der preußischen Reformen auch eine synodale Verfassung der Kirche angestrebt wurde, zu der Schleiermacher seine Entwürfe beisteuerte, dieser Ansatz führte zwar zu der Synodalordnung von 1816 sowie zur Wiedereinrichtung der Konsistorien, aber die Konsistorien wurden vom Oberpräsidenten der Provinz geleitet, die Räte vom Ministerium ernannt, und die
Synoden blieben ohne Laienbeteiligung. Die umstrittenen Presbyterien standen unter dem Einfluss der Patrone, deren Rechte und Pflichten nicht angetastet wurden. Einschneidender war die Einführung der Union von Lutheranern und Reformierten unter dem Engagement und der Federführung von Schleiermacher, die jedoch kaum mehr als die Duldung der jeweils anderen Konfession sowie die Öffnung zur Teilnahme am Abendmahl beinhaltete und die Möglichkeit auch zur 'uniierten` Gemeinde öffnete. Besonderes Gewicht in seinem Einigungsbemühen verlieh der König der Schaffung und Einführung einer einheitlichen Agende, an deren Abfassung er sich selbst intensiv beteiligte und in Auseinandersetzungen mit Magistrat, Gemeinden und Theologen geriet. Mit dem ganzen Gewicht seiner landesherrlichen und summepiscopalen Autorität hatte Friedrich Wilhelm III. schließlich 1834 die Einführung der Agende in allen preußischen Provinzen durchgesetzt. Mehr inneres Gewicht für eine neu erwachende Kirchlichkeit hatte indes die Erweckungsbewegung, die über die Standesgrenzen hinweg der persönlichen Frömmigkeit und dem kirchlichen Leben neue Substanz gab, die sich nicht zuletzt in einer Fülle von mildtätigen und missionarischen Initiativen äußerte und auch weite Teile des Hofes erfasste. Freiherr von Kottwitz und die Brüder Gerlach, ja auch der Kronprinz waren von der Bewegung erfasst und setzten sich in Wort und Tat mit den rationalistischen Theologen in Universität und Amt auseinander. Besondere Bedeutung erlangte die in diesem Kreis entstandene, aber von ihrem Redakteur Ernst Wilhelm Hengstenberg professionell ausgebaute Evangelische Kirchenzeitung, die keine Auseinandersetzung scheute, die theologischen Konflikte anheizte und veröffentlichte. Als Sprachrohr der wieder erstarkenden lutherischen Orthodoxie trug die Kirchenzeitung auch zu den Separationsbewegungen der erweckten lutherischen Gemeinden, vor allem in Schlesien, bei.
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Der König, der seine Union gefährdet sah, ging mit äußerster Härte, sogar mit Militär, gegen die kirchlichen Abweichler vor; der Konflikt gipfelte in der Auswanderung lutherischer Familien aus Schlesien nach Australien - auf Kähnen durchquerten sie Berlin. Neue Konflikte in der Kirchenpolitik waren vorprogrammiert.
     Dass auf einen frommen König wieder ein frommer König folgte, war die Ausnahme in Preußen - Friedrich Wilhelm IV., seit 1840 König, nahm die Anliegen seines Vaters auf und entwickelte sehr eigene Vorstellungen von einer lebendigen und tätigen Kirche. Auch diesen Zeitabschnitt hat Hans-Dietrich Loock bearbeitet: Kirche, König und Staat im Zeitalter der Berliner Märzrevolution und der Restauration (1840-1860). Loock konzentriert sich auf das Verhältnis der evangelischen Kirche zum Staat und nimmt als Ausgangspunkt die Vorstellungen Friedrich Wilhelms IV., die er noch als Kronprinz als »Sommernachtstraum« seinem Freund Bunsen gegenüber entwickelt hatte. Kernpunkt dieser Idealvorstellung war eine apostolische Kirche, hierarchisch organisiert, aber weitgehend unabhängig vom Staat, wobei aber die Bischöfe königliche Beamte bleiben und insofern die Rechte des Summepiscopus wahrnehmen: Der evangelische Landesfürst ist das Band, das Kirche und Staat vereint. Entscheidend aber ist für Friedrich Wilhelm IV., dass das Diakonat der Kirche in der Gesellschaft durch die Wiedereinführung des urchristlichen Amtes der Diakonen wiederbelebt werden und der Kirche die eigentliche Existenzberechtigung verleihen soll. Diese Vorstellungen ziehen sich beherrschend durch Leben und Werk des Königs und bestimmen sein Handeln auf allen Ebenen des Verhältnisses von Staat und Kirche. So beim Kölner Dombaufest 1842, der Initiative zur Fertigstellung des unvollendeten Bauwerks als deutsches Nationaldenkmal und zur Versöhnung zwischen der katholischen und evangelischen Kirche,
deren Verhältnis durch die Kölner Wirren über die Mischehenfrage erheblich gestört war. Auch das Projekt der Gründung eines Bistums Jerusalem, dessen Träger die Preußische Landeskirche zusammen mit der anglikanischen Kirche Englands wurde - der preußische Bischof Alexander wurde vom Bischof von Canterbury geweiht - war gewissermaßen ein Probelauf für die vom König angestrebte Reform der Landeskirche. In Provinzialsynoden und einer Generalsynode. 1846 versuchte er, die Vertreter der Kirche für sein Konzept zu gewinnen, fand aber wenig Gegenliebe bei dem größeren liberalen Flügel der Theologen. Die Märzrevolution brachte diese Bemühungen zum Erliegen. In der oktroyierten Verfassung von 1848 und ihrer revidierten Fassung von 1850 wurde zwar die Selbstständigkeit der Kirchen ebenso wie die Religionsfreiheit verankert, aber die Umsetzung zur inneren Angelegenheit der bestehenden Kirche und ihrer Organe erklärt. Loock stellt den schwierigen Weg zur Gründung des Evangelischen Oberkirchenrats dar, der als leitendes Organ fungieren sollte, dessen Glieder vom Kultusminister unter Bestätigung des Königs berufen wurden. Entsprechend sollte die Bildung von Synoden und Gemeindekirchenräten zwar eine Mitsprache der Pfarrer und Laien garantieren, Entscheidungsbefugnisse blieben in den Gemeinden aber beim Pfarrer und dem Patron, die Synoden hatten nur die Möglichkeit zu Stellungnahmen und Anträgen an die jeweils höhere Instanz. Kompliziert wurde die rechtliche Neuordnung der Landeskirche durch die Auseinandersetzung um die Union der protestantischen Konfessionen, mit der die Lutheraner sich immer weniger abfinden konnten. Um ihre Separation zu vermeiden, verfügte der König 1852, dass der Oberkirchenrat aus lutherischen und reformierten Mitgliedern zusammengesetzt werden solle, die jeweils für ihre Konfession sprechen und entscheiden sollten.
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Damit war die 1817 angestrebte Konsensunion zu einer Föderalunion zurückgenommen, wobei auch mit dieser Regelung die Lutheraner nicht zufrieden waren.
     War Friedrich Wilhelm mit seinen Vorstellungen von einer eigenständigen Kirche an seinem eigenen Beharrungsvermögen gescheitert, so hatte er doch bei der Neubelebung des diakonischen Auftrages wichtige Anstöße gegeben. Sein Plan, die Gründung des Kranken- und Diakonissenmutterhauses Bethanien in der Luisenstadt mit der Gründung eines diakonischen Ordens, dem Schwanenorden, zu verbinden, scheiterte zwar, wurde aber von Johann Hinrich Wichern mit der Gründung des Centralausschusses der Inneren Mission 1849 aufgenommen und in eine zeitgemäße Form gebracht. In der Inneren Mission sammelten sich alle Einrichtungen und Initiativen zur Armen- und Krankenpflege, zur Waisen-, Gefährdeten- und Gefangenenbetreuung zum Austausch und zur Abstimmung ihrer Tätigkeiten und zur besseren Organisation der Zusammenarbeit mit dem Staat in den jeweiligen deutschen Ländern. Bei der Nähe Friedrich Wilhelms IV. zu den Ideen der Inneren Mission war es nur konsequent, dass Wichern als »Kommissarius für die Organisation und Verwaltung der Gefängnisse, der Straf- und Armenanstalten und der Krankenhäuser in seelsorgerlicher Beziehung« in den preußischen Staatsdienst berufen wurde.
     Loock konzentriert sich in diesem Beitrag auf die Entwicklung der Kirchenverfassung bis zum Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. und bringt sie facettenreich zur Darstellung. Zu bedauern ist dabei aber, dass die kirchliche Entwicklung in Berlin nicht in Erscheinung tritt. Nur am Rande wird erwähnt - wie im Konflikt um die freie Gemeinde der »Lichtfreunde« 1844 -, dass der Magistrat von Berlin seine Rolle als protestantische Obrigkeit der Stadt und als Patron für über die Hälfte
der Berliner Kirchen im Bund mit den Schülern Schleiermachers als Geistliche seiner Gemeinden eine sehr eigenständige kommunale Kirchenpolitik trieb, in Auseinandersetzung mit dem königlichen Konsistorium und später auch dem Oberkirchenrat. Dass aber in Berlin der bürgerliche Liberalismus eine sehr eigenständige und - in Verbindung mit den Armenkommissionen des Magistrats - eine sehr praktische Christlichkeit entwickelte, dass der Protestantenverein als Sammelbecken dieser Kräfte unter der Protektion des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung das Gegengewicht zu den konservativen kirchlichen und staatlichen Kräften bildete, das alles findet in Loocks Beitrag keine Beachtung. Bedauerlich ist, dass Loock vorliegende Untersuchungen zu diesem Bereich außer Acht ließ und auch der spannenden Entwicklung der Gemeinden in dieser Zeit keine Aufmerksamkeit schenkte. So bleibt gerade für diesen Zeitabschnitt vor und nach der Märzrevolution ein weißer Fleck in diesem Gesamtwerk der Berlin- Brandenburgischen Kirchengeschichte.
     Ähnliches gilt für den Beitrag von Gerhard Besier: Königliche Theologen, Die Provinzialkirche in der Politik der Altpreußischen Union (1861-1918). Besier personalisiert die Kirchengeschichte dieses Zeitabschnitts an den Hof- und Dompredigern, die zwar eine hervorragende und strukturbildende Rolle spielten, aber doch nur einen Ausschnitt der kirchlichen Wirklichkeit bildeten. Kögel, Stoecker, Dryander und Doehring sind die Personen, dazu der liberale Professor Harnack, dessen Berufung an die Berliner Universität heftigen Streit auslöste. Besier personalisiert die Entwicklung in der preußischen Landeskirche, wobei zwar an den Personen die Fragen und Konflikte deutlich werden, aber der zeitgeschichtliche Rahmen, die Wirkung der gesellschaftlichen Gegenkräfte gegen die Kirche in jener Epoche eher Folie bleiben.
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   107   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Der innerkirchliche Streit zwischen den konservativen institutionsverhafteten Kräften und den liberalen sowie den sozial engagierten wird überschattet von der existenziellen, der sozialen Frage, die mit der Industrialisierung und dem Entstehen des Stadt- und Landproletariats zum Hauptthema der Gesellschaft wird. Schon als Prinz versucht Wilhelm II., eine integrierende Rolle zu spielen, zunächst bei der Gründung des Evangelischen Hilfsvereins 1887, dann vor allem durch seine Sozialerlasse zur Arbeiterfrage 1890, wobei unverhüllt das Ziel dahinterstand, die Thron und Altar entfremdeten Massen durch soziale Betreuung wieder zur Kirche zurückzuführen und den Fängen der Sozialdemokratie zu entreißen. Dem christlich- sozialen Kongress, zunächst unter der Federführung Stoeckers, gelang es erstmals, die soziale Frage zu einem allgemeinen Thema der protestantischen Kirche zu machen, wobei es bald über die gesellschaftsverändernden Forderungen Naumanns und Göhres zu Konflikten und Spaltung kam.
     Wie weit die Kirche von der sozialen und gesellschaftlichen Realität entfernt war, zeigt der von Besier ausführlich dargestellte Apostolikumsstreit (1892/1894) um Adolf Harnack. Der trat für die liberale Position ein, das apostolische Glaubensbekenntnis nicht verpflichtend für den gottesdienstlichen Gebrauch vorzuschreiben. Die Aussagen des Credo, vor allem zur Jungfrauengeburt, seien für einen modernen Menschen nicht nachvollziehbar. Dass der Streit, der Harnack fast seine Professur und einige Pfarrer, die auf den Gebrauch des Apostolikums verzichtet hatten, das Amt kostete, bereits seine Vorläufer hatte, als der liberale Gemeindepfarrer Lisco 1872 die Verbindlichkeit der Bekenntnisaussagen in Frage stellte und der Stadtverordnetenvorsteher und Kirchenälteste Kochhann auf der Kreissynode Kölln- Stadt 1877 die Entfernung aus der Liturgie verlangte, übergeht Besier ebenso wie schon Loock; die innige Verbindung zwischen den Berliner Stadtbehörden und ihren Patronatsgemeinden in einem höchst gestaltungsfähigen protestantisch- bürgerlichen
Liberalismus findet in diesem Buch kaum Erwähnung, geschweige denn Darstellung. Ebenso fehlt die wichtige Geschichte der parochialen Entwicklung und ihrer Finanzierung, darin impliziert der Kampf um die Einführung der Kirchensteuer und die Gründung der Berliner Stadtsynode als die schließlich geglückte Organisation einer Selbstverwaltung und Bewirtschaftung der so unterschiedlichen Berliner Kirchengemeinden mit ihren verschiedenen Patronen Magistrat und Konsistorium. Auch hätte der diakonische Aspekt, die »kirchlichen Nothstände« in Berlin und den Provinzen und die Versuche zu ihrer Abhilfe (in Aufnahme von Walter Wendlands Arbeit über die Entwicklung der christlichen Liebestätigkeit in Berlin von 1939) eine eigenständige Darstellung verdient.
     Sehr instruktiv geschrieben und schön zu lesen der Artikel von Eva Börsch-Suppan: Kirchenbau in Berlin- Brandenburg im 19. Jahrhundert. Sie beginnt mit der Epoche machenden Entwurfsarbeit Schinkels für die repräsentativen Gedenkkirchen und Denkmäler im romantischen Stil und stellt dann die realisierten Bauten Schinkels dar, vor allem in Berlin, bis hin zu den kleinen Vorstadtkirchen, die im selben Typ sehr individuelle Varianten bieten. Aber auch die Nicolaikirche zu Potsdam, die »Normalkirchen« für die preußischen Provinzen und die kleinen Dorf- und Gutskirchen wie Straupitz und Petzow werden in ihrer Einmaligkeit und vorbildlichen Bedeutung gewürdigt. Die Schüler Schinkels Persius und Stüler erscheinen in der Zusammenarbeit mit dem Kronprinzen und König Friedrich Wilhelm IV., der reichlich und bestimmend seine architektonischen Vorgaben an seine königlichen Baumeister machte - nicht zum Schlechtesten, wie vor allem die Bauten auf der Potsdamer »Insel«, so die Heilandskirche zu Sacrow, die Friedenskirche am Marly- Garten in Sanssouci, die Kirche Nikolskoje über der Havel belegen. Frau Börsch-Suppan gelingt es, die vielfältigen Stilmomente auf ihre Aussagemotive zurückzuführen und ihre Komplexität durchsichtig zu machen.
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   108   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Der Historismus der wilhelminischen Zeit hält sich in Berlin nur bedingt an das »Eisenacher Regulativ«, jene Richtlinie von 1861, die den protestantischen Kirchenbau auf den gotischen und romanischen Stil festlegte, legt jedoch großen Wert auf die gemeindemäßige Ausstattung als evangelische Predigt- und Abendmahlskirchen. Die schon unter Friedrich Wilhelm begonnene Erweiterung der Kirchen zu Gemeindezentren mit Pfarr- und Schulhaus und nun auch Sozialeinrichtungen wird - abgesehen von den monumentalen Platzkirchen wie Kaiser-Wilhelm- Gedächtniskirche oder die Kirche zum Heiligen Kreuz, die Zions- und andere Kirchen - zur üblichen Bauaufgabe. Die Fülle der in jenem Zeitabschnitt gebauten Kirchen zwingt die Verfasserin schließlich zur lexikalischen Darstellung der wichtigsten Bauten. Auch hat sie es offensichtlich nicht als ihre Aufgabe angesehen, über das rein Architektonische hinaus den gesellschaftlichen und kirchenpolitischen Kontext, etwa hinsichtlich der Finanzierung der Bauten, anzusprechen. Immerhin entwickelte sich über die Frage der Patronatsbeiträge zum Kirchbau ein jahrzehntelanger Streit zwischen den Kirchenbehörden und dem Magistrat von Berlin, der schließlich mit reichsgerichtlichem Entscheid endete und die Stadtsynode zur Rückzahlung von ca. zwei Millionen Mark an unter Vorbehalt gezahlten Baulasten verpflichtete.
     Wohltuend der Beitrag von Roland Stupperich: Von der Staatskirche zur freien Volkskirche. Konservatismus, Kirchenentfremdung und Reformströmungen (1918-1932). Unter den Stichworten: Staat und Kirche / Kirche und Gemeinde / Kirche und Welt zeichnet Stupperich klar und übersichtlich den Weg der evangelischen Kirche zur auferlegten Selbstständigkeit in der verfassungsmäßigen Trennung vom Staat - und damit dem Erlöschen des seit der Reformation geltenden Summepiscopats nach. Der Weg zu einer neuen Kirchenverfassung war in den Nachwirren der Revolution
und den Anfängen der Weimarer Republik kompliziert. Nach den ersten Konfrontationen, vor allem um die Bekenntnisschule und den Religionsunterricht, setzte sich eine Kooperation mit Verlegenheit auf beiden Seiten durch; so taten sich Minister der Reichsregierung schwer, auch nur vorübergehend die Funktion des Summepiscopats zu übernehmen, bis 1922 neue Gremien der Kirche die Kirchenverfassung erarbeitet hatten, die dem nun synodal gewählten Oberkirchenrat alle Ordnungsbefugnisse und dem Generalsuperintendenten die geistliche Gewalt zusprach. Die weitergehenden, vor allem die finanziellen Fragen mussten in einem Staatsvertrag geordnet werden, in den jedoch die evangelische Kirche die so genannte politische Klausel aufnehmen musste, die dem Staat das Recht zubilligte, nicht genehme Personen in kirchlichen Führungsämtern abzulehnen. Im Kirchenvolk gab es zeitentsprechend eine Fülle von Bewegungen und Initiativen, die die wahre, durch und durch demokratisch strukturierte »Volkskirche« wünschten, mit geringem Erfolg. Ihnen gegenüber stand die in der großen Mehrheit konservative und rückwärts gewandte Geistlichkeit, die den Kaiser nicht vergessen konnte und ihre desolate materielle Lage mit den früheren Zeiten verglich, zumal die gemeindlichen Aufgaben unter den Sparauflagen für die Kirche für den einzelnen Pfarrer kaum noch zu bewältigen waren. Die Struktur der Gemeinde geriet ebenfalls in Wandlung: In Berlin wurde zwar das alte Patronatsrecht abgelöst, in den Provinzen bestanden die feudalen Verhältnisse jedoch weiter fort - für die Bekennenden Gemeinden im Dritten Reich oft zum Segen. Zwangsläufig intensivierte sich das Leben der Gemeinden durch die Mitarbeit der Laien; vor allem die Frauen rückten aus ihrer dienenden Funktion allmählich heraus, wobei vor allem auch das endlich eingeführte kirchliche Wahlrecht für Frauen sich auswirkte.
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   109   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Aus den traditionellen kirchlichen Vereinen wurden weitgehend Arbeitskreise in den Gemeinden - Integration statt Nebeneinander. Auch erste Ansätze ökumenischer Arbeit in Konferenzen und durch Austauschstipendien wurden wirksam; hier tauchen die Namen von Dibelius und Bonhoeffer auf. Die geistige Umbruchsituation nötigte der evangelischen Kirche eine intensive Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Strömungen auf, vor allem mit denen, die den Kirchenaustritt zum Programm erhoben hatten wie die Freidenker und Teile der Sozialisten. Dabei begannen die Medien, Presse und vor allem der neue Rundfunk, ihre Rolle zu spielen, auch die Kirchentage, die sich in ihrer Struktur allmählich der heute vertrauten Form annäherten. Von besonderer Bedeutung waren die vielfältigen sozialen Einrichtungen der Kirche, alte und neu gegründete, die das soziale Engagement der Kirche vor allem in den ländlichen Gegenden der Mark Brandenburg unter Beweis stellen. Dort schien die traditionelle Kirchlichkeit ungebrochen, verfiel aber dann doch zusehends unter der Radikalisierung der politischen Auseinandersetzungen. Stupperich schließt mit einem kurzen statistischen Absatz zur religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung und zu den Kirchenaustritten, die die evangelischen Kirchen in Preußen jährlich ein Prozent ihrer Glieder kosteten. Aber »ihre Kinder haben die Austretenden nicht abgemeldet. Sie wurden getauft und konfirmiert«.
     Ähnlich hilfreich und instruktiv ist der Artikel von Felix Escher: Die katholische Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Die besondere Stellung der Katholiken in einem seit der Reformation protestantischen Staat ist gleichzeitig die Geschichte einer pragmatischen Toleranz der preußischen Herrscher, die sich vor allem durch ihre Soldatenwerbung katholische Untertanen ins Land holten. Erst die aufgeklärte Toleranz Friedrichs II. erlaubte den Bau der ersten katholischen, der Hedwigskirche an städtebaulich hervorragender Stelle, dem Friedrichsforum 1773, der erst fast hundert Jahre später (1861) die St. Michaelskirche folgte.
Das Allgemeine Preußische Landrecht brachte den katholischen im Windschatten der evangelischen Gemeinden eine gewisse Rechtssicherheit. Am Anfang des 19. Jahrhunderts gelang es dann, katholisch- kirchliche Strukturen im Lande zu schaffen, Delegaturen und Seelsorgebezirke einzurichten. Doch aus der Bindung zum Papst in Rom erwuchsen immer neue Konflikte mit dem preußischen Staat, deren gravierendste die »Kölner Wirren« um die Mischehe 1837 mit der Verhaftung des Kölner Erzbischofs und schließlich 1872 der »Kulturkampf«, den Bismarck mit der katholischen Kirche ausfocht, deren wachsenden politischen Einfluss, am fassbarsten in der Gründung einer eigenen Partei, dem ,Zentrum, er auszuschalten versuchte. Gegen Ende des Jahrhunderts hatten die Katholiken ebenso wie die Protestanten mit der wachsenden Kirchennot zu kämpfen. Unter erheblichen Opfern des Kirchenvolks und dem Engagement der vielen Vereine wurde in Berlin eine Reihe bedeutender Kirchen gebaut, bei der geistlichen Versorgung spielten die katholischen Orden, vor allem die Jesuiten, eine wachsende Rolle. Viele Priester kamen auch aus Schlesien. Probleme schufen auch die zahlreichen Mischehen und die damit verbundene Frage der Kindererziehung. Immerhin gelang es der katholischen Kirche durch ihre Sozialwerke, wie dem Kolpingwerk und anderen, besser als der evangelischen Kirche, Zugang zu der Arbeiterklasse und dem Proletariat zu finden, besonders in den Massen der katholischen Einwanderer aus Schlesien, Polen, dem Ermland. In der Luisenstadt entstand an der St. Michaelskirche ein Zentrum pastoraler Arbeit, dessen Spannweite von Kinderbetreuung bis zur Bahnhofsmission reichte. Den ersten katholischen Lehrstuhl an der Berliner Universität nahm der Religionsphilosoph Romano Guardini ein. Als besonderen Einschnitt in der Entwicklung stellt Escher die lange vorbereitete Gründung des Bistums Berlin dar, die 1930 im Rahmen des Konkordats mit der Reichsregierung erfolgte.
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Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten brachen auch für die katholische Kirche Verfolgungszeiten an. Zwar hatte der päpstliche Stuhl noch 1933 mit den Nationalsozialisten ein Reichskonkordat geschlossen, das diesen die äußere Anerkennung brachte, aber seit 1934 nahmen die Verbote kirchlicher Einrichtungen und Veranstaltungen zu, Erich Klausener wurde 1934 ermordet, Geistliche wurden ohne Grund verhaftet, die katholische Jugendarbeit wurde gleichgeschaltet. Konrad Graf von Preysing wurde als Bischof des Bistums Berlin zu einer der führenden Gestalten des katholischen Widerstandes, der sich mit Erfolg gegen das Eindringen nationalsozialistischen Gedankenguts in Pfarrerschaft und Gemeinde wehrte. Escher versteht es, die vielfältigen Dimensionen katholischen Widerstandes in der Vorkriegs- und Kriegszeit, die Taktik des nationalsozialistischen Terrors und die Kontakte und Verflechtungen mit dem protestantischen, bürgerlichen und militärischen Widerstand interessant und übersichtlich darzustellen, wobei er für die Opfer stellvertretend das Schicksal des Dompropstes Lichtenberg, wegen seines Eintretens für die Juden zu Tode gebracht, besoders herausstellt. Im Neuanfang nach dem Kriegsende konnte sich die katholische Kirche zunächst am Aufbau demokratischer Strukturen beteiligen und ihr eigenes kirchliches Leben wieder aufbauen, geriet aber im Ostteil der Stadt und in der Provinz mit der DDR zunehmend auf Kollisionskurs, der sich an der Unvereinbarkeit katholischen Glaubens mit der Jugendweihe festmachte. Mit dem Bau der Mauer wurde auch die Tätigkeit des Bischofs wesentlich behindert, wobei die DDR das Verbleiben des Bischofs Bengsch in Ostberlin honorierte: Drei Tage im Monat durfte er sich im Westteil der Stadt aufhalten. Auch unter seinem Nachfolger Kardinal Meisner, einem DDR- Bürger auf dem Berliner Bischofsstuhl, ging die Bemühung um den Zusammenhalt der beiden getrennten Bereiche des Bistums weiter, bei aller Belastung doch konsequenter und erfolgreicher als in der evangelischen Kirche, die zwei selbstständige Regionen, schließlich mit zwei Bischöfen, herausbildete. Die Konzentration auf katholische Werte und die konsequente Staatsferne führten dazu, dass sich die katholische Kirche kaum und erst spät an den Initiativen und Bewegungen beteiligte, die zum Fall der Mauer führten. Am Schluss dieser von Escher souverän und knapp dargebotenen Geschichte steht die Erhebung des Bistums Berlin zum Erzbistum am 27. April 1994.
     Der zweite Beitrag von Gerhard Besier in diesem Buch gilt unter dem Titel Begeisterung, Ernüchterung, Resistenz und Verinnerlichung in der NS-Zeit (1933-1945) der evangelischen Kirche im Dritten Reich. Facetten- und detailreich schildert er die Wandlung der Theologen und Gemeindeglieder von begeisterten und hoffnungvollen Anhängern der nationalsozialistischen Bewegung zu fanatischen Anhängern der NS- Ideologie als »Deutsche Christen« einerseits und zu immer konsequenteren Verfechtern einer kirchlichen Eigenständigkeit und Bekenntnisbindung in der »Bekennenden Kirche« auf der anderen Seite. Dabei bleibt Besier ganz im Bereich der Institutionen wie der Synoden, dem Evangelischen Oberkirchenrat und dem Konsistorium wie den dazu komplementär geschaffenen Einrichtungen der Bekennenden Kirche, den Bruderräten und Bekenntnissynoden. Er beschreibt die Entwicklungen und Auseinandersetzungen an den daran beteiligten Persönlichkeiten, deren Namen bis heute geläufig sind, wie Karl Barth, Otto Dibelius, Dietrich Bonhoeffer, Gerhard Jacobis, Kurt Scharf und viele andere. Nach dem überwältigenden Erfolg der Deutschen Christen bei den Kirchenwahlen 1933, die den Deutschen Christen eine satte Zwei-Drittel- Mehrheit in den Gemeindekirchenräten und allen Synoden bescherte, formierte sich der Widerstand zunächst und vor allem an der Verabschiedung eines Arierparagrafen für die Kirche durch die Generalsynode der Altpreußischen Union im August 1933.
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Dann aber trat die Auseinandersetzung um eine Gleichschaltung der Kirchen und die Bildung einer Reichskirche, nach dem Führerprinzip geleitet, in den Vordergrund. Der Pfarrernotbund als Vorläufer der Bekennenden Kirche strebte die Bildung einer freien Synode und die Übernahme der Kirchenleitung, also eine organisierte Alternativkirche gegen eine deutsch- christlich bestimmte und staatlich sanktionierte Landeskirche, an. Förderlich für dieses Vorhaben war der Skandal bei der Sportpalastkundgebung der Deutschen Christen am 13. November 1933, in der ihr Redner die Befreiung der Bibel und des Gottesdienstes von allem Undeutschen, »die Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten...« forderte. Der darauf folgende Proteststurm kostete die berlinbrandenburgischen Funktionäre der D. C. ihre Ämter und ermöglichte dem Pfarrernotbund, eine klare Frontstellung zu den Deutschen Christen und den von ihnen dominierten kirchlichen Behörden aufzubauen. Die Bekenntnissynode in Barmen 1934 brachte der Protestbewegung in der Barmer theologischen Erklärung ihre bekenntnismäßige Grundlage und ermöglichte den Aufbau von Bekenntnisgmeinden, eigenen Synoden und den bruderrätlichen Leitungsorganen bis hin zu eigenen Ausbildungsstätten für den theologischen Nachwuchs. Aber diese Konsolidierung der Bekennenden Kirche institutionalisierte zugleich den Dauerkonflikt mit der Reichs- und Landeskirche, die, vom Staat legitimiert, den Pfarrern der B. K. ihre Legitimation absprach, disziplinarisch gegen sie vorging und beim Streit in den Gemeinden zwischen B. K.-Pfarrern und D. C.-Pfarrern letztere unterstützte. Auch schaltete der Staat sich mit Verfolgungsmaßnahmen immer stärker in die Auseinandersetzung ein, indem er durch die Gestapo allen Anschein von Gegnerschaft zum NS-Staat erfassen und ahnden ließ. So wanderten auch prominente Vertreter der B. K. wie Niemöller und Bonhoeffer ins KZ. Den Konfrontationskurs gegen die offizielle Kirche machten jedoch im Lauf der Jahre auch die B. K.-Pfarrer nur noch bedingt mit. Besier schildert die aufkommende Resignation und Unzufriedenheit mit der rigiden Leitung der Bekennenden Kirche, von Spaltungstendenzen und Annäherungen an die offiziellen Kirchenbehörden, denen die B. K. alle Zusammenarbeit aufgesagt hatte. Diese Tendenzen verstärkten sich, nachdem der Staat seine Versuche zu einer Gleichschaltung der Evangelischen Kirche als gescheitert ansah und ab 1937 zu einer Strategie der Verfolgung und Unterdrückung wechselte. In der B.K. antworteten viele Theologen mit einem Rückzug in die Innerlichkeit einer verstärkten liturgischen und gottesdienstbezogenen Frömmigkeit. Aber der Kriegsausbruch verschärfte und veränderte die Lage noch einmal: Viele Theologen wurde eingezogen, die dezimierte Bekenntnisbewegung musste sich mit den offiziellen Kirchenbehörden arrangieren und Konsensabmachungen treffen. Das Warten auf das Kriegsende und ein Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, das materielle Elend in der Heimat und die Katastrophen an der Front bestimmten die letzten Jahre und Monate auch des kirchlichen Lebens.
     Mit dem Beitrag des Herausgebers Gerd Heinrich Alte Ordnungen und neue Anfechtungen. Die Kirche Berlin- Brandenburg im zerteilten Deutschland (1945-1968) kommt ein neuer Ton in das weitgespannte Werk. Kein guter. Heinrich stellt die Ereignisse nicht objektiv dar, sondern unverhohlen wertend nach seinem politischen Standpunkt, und der ist dezidiert antikommunistisch und antisozialistisch. Er lässt keine andere Position gelten, denunziert alle Anhänger und Sympathisanten einer sozialistischen Gesellschaft als Traumtänzer, Dummköpfe, Verbohrte, Staatshörige, Feiglinge, Kollaborateure.
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Diese Weise zu werten mag allenfalls in der (kirchen-) politischen Auseinandersetzung hinzunehmen sein, verbietet sich aber für ein Werk, das den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt. So wundert es nicht, dass der Berliner Bischof Otto Dibelius für Heinrich der Heros der ersten Stunde nach Kriegsende ist, der höchst energisch, aber auch höchst autoritär die Weichen für eine Erneuerung der Kirche in den alten Strukturen stellte, die traditionellen Gremien wie Konsistorium und Oberkirchenrat von Parteigängern der Nationalsozialisten und D. C.-Leuten säubert und souverän mit den Besatzungsmächten, vor allem den russischen, verhandelte. Dass Dibelius unbestreitbar erfolgreicher autoritärer Führungsstil zu heftigen Auseinandersetzungen mit den bruderrätlichen Strukturen und Persönlichkeiten der ehemaligen B. K. führten, die die Chance für eine wahrhaft demokratisch verfasste Kirche schwinden sahen, erwähnt Heinrich zwar, macht aber keinen Hehl daraus, bei wem er den zeitgemäßen Realismus sieht. Der tat allerdings Not in dieser verzweifelten Situation der Jahre nach dem Kriegsende. Die Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse musste in einem völlig zerstörten Land und seiner Hauptstadt geschehen, unter desolaten ökonomischen Bedingungen und unter dem Misstrauen einer kirchenfernen Besatzungsmacht. War die Kirche zunächst als gesellschaftlich nützliche Institution für den inneren und äußeren Wiederaufbau angesehen, so ergab sich mit wachsender Konsolidierung der Verhältnisse immer deutlicher die Diskrepanz zwischen ihr und einer atheistischen Administration mit totalitärem gesellschaftlichen und politischen Anspruch. Auch dass die Kirche sich angesichts der sowjetischen Säuberungsmaßnahmen und der Behinderung ihrer sozialen und seelsorgerlichen Arbeit energisch und penetrant für die betroffenen Menschen einsetzte, machte das Verhältnis nicht besser; sie konnte sich immerhin - im Gegensatz zu anderen Ostblockländern - behaupten. Nach der Gründung der DDR - der Heinrich jegliche Eigenständigkeit abspricht - verschärfen sich die Konflikte um kritische Kanzelabkündigungen, um die Jugendarbeit der Kirche, um einzelne, den DDR- Behörden missliebige Pfarrer. Vor allem die systemüberschreitende Struktur der evangelischen Kirche Berlin- Brandenburg war der DDR ein Dorn im Auge; sie verlangte, wenn auch erfolglos, die Verlegung der Kirchenleitung aus Berlin (West) nach Brandenburg. Die Unvereinbarkeit einer atheistisch- sozialistischen Weltanschauung mit dem christlichen Glauben wurde ab 1954 deutlich an dem Widerspruch zwischen Konfirmation und Jugendweihe, deren Verweigerung den Jugendlichen und teilweise ihren Eltern spürbare Nachteile einbrachte. Für Heinrich gibt es in dieser konfliktreichen Zeit nur die Alternative des Umfallens zur SED oder konsequenten Widerstand bis zum Martyrium; an Persönlichkeiten wie dem Pfarrer Reinhard Gnettner, dem Propst Heinrich Grüber, dem Superintendenten Siegfried Ringhandt macht er deutlich, was für ihn die einzig angemessene Haltung der evangelischen Kirche in der entstehenden DDR war. Ausführlich beschreibt er die Aufbauleistung der Kirchengemeinden, vor allem auf dem Lande, bei der Wiederherstellung der beschädigten Kirchen unter der massiven Behinderung der örtlichen Behörden, lobt jedoch die Zusammenarbeit mit der staatlichen Denkmalpflege bei den denkmalwürdigen Gebäuden, vor allem in Berlin. Ansonsten sieht er die DDR nur als ideologisch betonierten Polizeistaat (»Besatzungsherrschaft«), der die Kirche abzuschaffen sucht, wenn er sie nicht gleichschalten kann. Vermittelnde Kirchenmänner wie Schönherr und Stolpe, auch Theologen, die sich grundsätzlich mit dem Verhältnis Christentum und Sozialismus auseinandersetzten, werden von Heinrich als schwach, weltfremd oder SED- hörig (»staatsverpflichtete Kräfte«) abgetan.
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Als mit dem Bau der Mauer auch die Evangelische Kirche Berlin- Brandenburg sich in zwei Regionen teilen musste, weil dem Nachfolger von Dibelius, Bischof Scharf, die Einreise nach Ost-Berlin verwehrt blieb, sieht Heinrich darin nur eine Spaltung, die in der Gründung des Bundes der Kirchen in der DDR 1969 gipfelte. Dabei betonten beide Regionen durch die ganze Trennungszeit hindurch die Zusammengehörigkeit der Landeskirche und versuchten, durch regen Austausch die Verbindung zu halten und zu stärken. Die kirchliche Entwicklung in Berlin (West) stellt Heinrich nur summarisch dar, nimmt sich aber Raum für die Denunzierung Rudi Dutschkes als Extremisten und Psychopaten, der bei einem Auftritt in der Kaiser-Wilhelm- Gedächtniskirche Weihnachten 1967 von einem Gottesdienstbesucher niedergeschlagen wurde. Sein Fazit zieht Heinrich anhand der heutigen Auseinandersetzung um den Religionsunterricht in Brandenburg, in der er durch Stolpe und die SPD die kirchenfeindliche Linie der DDR weitergeführt sieht - alles Verständnis für das Fach LER ist für Heinrich opportunistisch. Indem Heinrich seinen Beitrag auf die Zeit bis 1968 begrenzt, Besier sich aber für die Zeit bis 1990 nur auf die Kirche in der DDR beschränkt, bleibt die spannende Zeit der kirchlichen Entwicklung in Berlin (West), die zerreißende Frontbildung zwischen den konservativen Kräften, v. a. der Evangelischen Sammlung und den von 1968 motivierten linken Kräfte, die Auseinandersetzungen um das PTA, die Zerreißprobe um die Kirchenbesetzungen durch Sympathisanten der RAF, die Konflikte um die Hausbesetzungen seit 1980, vor allem die Auswirkungen dieser Konflikte auf die Gemeinden, die verstärkte Zuwendung auf die Probleme der Stadt, besonders in Sanierungsgebieten, der Sonderweg des Kirchenkreises Kreuzberg, bleibt diese Zeit ein weißer Fleck in der kirchengeschichtlichen Landschaft.
     Der neben Dietrich Kurzes Darstellung von fünfhundert Jahren Mittelalter umfangreichste Beitrag stammt
von Gerhard Besier »Kirche im Sozialismus«. Zur Transformation einer Großinstitution (1961-1990). Diese 130 Seiten für 29 Jahre Kirchengeschichte vertiefen die Fragen an die Konzeption des Gesamtwerkes, die sich schon anhand des Beitrags von Heinrich stellten. In einer fulminant detailversessenen Darstellungsweise versucht Besier seine schon in der Überschrift plakatierte Grundthese zu erhärten, dass nach 1969 sich der Ostteil der Landeskirche der SED- geführten DDR anbequemte und sich weitgehend zu einem nützlichen Werkzeug des Staates und seiner antiwestlichen Politik machen ließ. Dabei befasst sich Besier fast ausschließlich mit den kirchenleitenden Personen, denen er bis auf wenige Ausnahmen ihre Appeasement- Gesinnung nachweisen will. So erschöpft sich seine Darstellungsweise in Namen, Zitaten, internen Vorgängen, gestützt durch eine Unmenge von »Belegen« in den Anmerkungen (40! Seiten). Seine Grundposition entspricht der von Gerhard Heinrich: rigider Anti- Sozialismus; wer sich als Christ mit ihm einlässt, verrät Kirche und Glauben. Unter dieser Prämisse bekommen seine minutiös ermittelten Materialien aus den Stasi- Unterlagen Beweischarakter für seine Be- und Verurteilung der Kirchenvertreter in der DDR. Die schwierige Frage, wie eine Kirche in der Tradition lutherischer Weltverantwortung in einem sozialistischen Staat existieren kann, ohne sich in ein Ghetto der religiösen Innerlichkeit zurückzuziehen, stellt sich für Besier nicht. Sie überhaupt zu stellen und gar daran zu arbeiten, ist Appeasement an eine gottlose Ideologie und seine dikatorisch- verbrecherische Administration. Damit gerät seine minutiöse Darstellung der internen kirchlichen Entscheidungsprozesse zur impliziten Abrechnung mit all den Beteiligten, die nicht auf Abgrenzung und Widerstand gesetzt haben; vor allem Stolpe und Schönherr hat er im Visier seiner scheinbar so wissenschaftlich- objektiven, jede Regung der Beteiligten durch Quellen - meist MfS-Akten - untermauernden Darstellung.
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Dabei wäre der Prozess des Auseinanderdriftens der beiden Kirchenprovinzen Berlin- Brandenburg und Berlin (West) und seiner Beteiligten einer fairen Aufarbeitung wert, wobei Besiers Beschränkung auf die kirchenleitenden Organe und ihr staatliches Gegenüber ein unzureichendes Bild der kirchlichen Realität in der DDR abgibt. Der Kreis derer, die als Christen an einen besseren als den durch die DDR praktizierten realen Sozialismus glaubten und sich für deren Verbesserung bis hin zur Veränderung einsetzten, ist ernster zu nehmen, als Besier und Heinrich das tun.
     In seinem Epilog macht Heinrich noch einmal unmissverständlich deutlich, worum es ihm geht: Um eine Kirche, die sich mit der Welt nicht einlässt (»Hoffentlich sind Sie nicht so dicke mit dem Staat!« - ein Gemeindeglied zu Forck), ihren Anspruch auf das gesellschaftliche Wächteramt aber nicht aufgibt. So gerät der Epilog zu einer Eloge auf Gottfried Forck, den letzten Bischof der Kirche von Berlin- Brandenburg vor und in der Wiedervereinigung der beiden Teile der Landeskirche, die mit seiner Eigenwilligkeit und Standfestigkeit die Kirche während der »Besatzungsherrschaft der SED und ihrer Trabanten« auf das »rettende, die Organisationseinheit und die Grund- und Freiheitsrechte wiederherstellende Jahr 1989/90« hindurchsteuerte. Ob Forck diese Hochschätzung seiner Tätigkeit geteilt und über dieses Lob glücklich gewesen wäre, ist fraglich - er hat die ,1000 Jahre Kirche in Berlin- Brandenburg nicht mehr lesen können.
     Noch eine Frage an Herausgeber und Verlag: Was soll eine Karte der Kirchenkreise von 1950 als einzige Kartenbeigabe für 1000 Jahre kirchliche und staatliche Entwicklung, dazu mit dem Eindruck »Zur Zeit unter polnischer Verwaltung«? Vor allem für die Entwicklung der evangelischen Kirche in Brandenburg- Preußen seit dem Mittelalter wäre anderes Kartenmaterial weit hilfreicher gewesen.
     Was bleibt, ist ein sehr zwiespältiger Eindruck von diesem enormen Versuch, 1000 Jahre Kirchengeschichte einzufangen und transparent zu machen.
Vor allem die über 200 Seiten für die letzten fünfzig Jahre, dazu noch in solcher dezidierten Parteilichkeit geschrieben, verschieben die Gewichte und lassen fragen, ob der Verlag dem Herausgeber nicht zu viel Eigenmächtigkeit zugestanden und auf sein Lektorat verzichtet hat. Problematisch besonders bei der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Unternehmens. Die Fülle hervorragender Beiträge wird durch den tendenziellen Schlussteil in ungute Gesellschaft gebracht und entwertet. Ich kann dem Buch nur unbefangene, kritische und differenziert urteilende Leser wünschen.

1     Klaus Duntze, geb. 1935 in Säckingen/ Rhein, aufgewachsen und Schule in Karlsruhe. Studium der Theologie ab 1959 in Berlin, Göttingen, Heidelberg. Nach dem ersten Examen Vikariat und Predigerseminar in Berlin. Ordination 1961 durch Bischof Dibelius in der Marienkirche. 1961-1964 Provinzialpfarramt für Religionsphilosophische Schulwochen, 1964-1966 Studieninspektor am Predigerseminar, 1966-1977 Pfarrer an der Marthakirche in Berlin SO 36. 1972 Veröffentlichung »Der Geist, der Städte baut«. Als Beauftragter des Kirchenkreises für Fragen der Stadtveränderung und Gemeindeplanung Initiator der »Strategien für Kreuzberg«, 1977-1986 Studienleiter an der Evangelischen Akademie Berlin (West). Von 1986 bis 1989 Forschungsprojekt: »Die Rolle der Evangelischen Kirche bei der Stadtentwicklung in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert«. Promotion zum Doktor der Theologie in Heidelberg; Dissertation »Die Verantwortung der Evangelischen Kirche für das großstädtische Gemeinwesen«, veröffentlicht 1992, »Kirche zwischen König und Magistrat« 1993. Ab 1990 Pfarrer zunächst in der Melanchthon- Gemeinde, dann an der St.-Thomas- Kirche in Berlin- Kreuzberg. Ab 1995 im Ruhestand.

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Dieter Hanauske
»Bauen, bauen, bauen ...!«

Die Wohnungspolitik in Berlin (West) 1945-1961. (Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin)
Akademie Verlag, Berlin 1995, 1442 S.

Amerikanische Piloten, die im Sommer 1945 mit ihren Flugzeugen in Tempelhof landeten, sprachen beim Anblick der Ruinenlandschaft von einem »Karthago an der Spree«. Und Bertolt Brecht notierte bei seiner ersten Wiederbegegnung mit der Stadt seines Wirkens im Herbst 1948: »berlin, der schutthaufen bei potsdam«. Tatsächlich zählte die ehemalige Reichshauptstadt nach über 300 angloamerikanischen Luftangriffen und zehntägigen Straßenkämpfen zu einer der am meisten zerstörten Städte Deutschlands. Für das Beiseiteräumen der Trümmermassen und für den Wiederaufbau veranschlagte man Jahrzehnte. Dass es dann trotz neuer Widrigkeiten, die die Spaltung Berlins mit sich brachte, doch schneller ging, hatte eine eigene Logik, viele Gründe und Triebkräfte. Die Devise »Bauen, bauen, bauen« galt immer.

Dieter Hanauske greift in der vorliegenden Arbeit, die im Wintersemester 1990/91 vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität als Dissertation angenommen wurde, aus dem Gesamtkomplex des Wiederaufbaus den Sektor der Wohnungspolitik heraus und definiert ihn so: »Die Wohnungspolitik umfasst alle staatlichen Maßnahmen, die auf die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum gerichtet sind.« (S. 4) Im engeren Sinne gehören dazu Wohnungsbau- und Wohnungsbestandspolitik, im weiteren Sinne auch die Stadtplanung. Diese Dreiteilung liegt dem Buch zugrunde, wohingegen die bis Anfang der sechziger Jahre erfolgte Trümmerbeseitigung eine marginale Betrachtung findet.

Politisch- geographisch ist die Darstellung auf West-Berlin begrenzt. »Ost-Berlin mit seinem grundsätzlich anders gearteten politischen und sozialökonomischen System wird dagegen, abgesehen von einer Ausnahme (Wohnungsproduktions- und Wohndichteentwicklung) als statistische Vergleichsregion nicht berücksichtigt.« (S. 9)
     Der voluminöse Band gliedert sich in fünf Kapitel. Eingangs werden Forschungsstand und Quellenlage vorgestellt. Beider Resümee bewog den Vf., die West-Berliner Wohnungsbaupolitik in der Wiederaufbau- Zeit bis 1961 als Politikfeld, d. h. unter Berücksichtigung allgemeinpolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren, umfassendsystematisch darzustellen. Demzufolge wendet er sich zunächst der wohnungspolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik im Untersuchungszeitraum zu, einmal, um einen Vergleichsrahmen zum Bundesgebiet und vor allem zu den dortigen Großstädten zu schaffen, zum anderen, um die Wirkung von Rechtsintegration und Subventionierung durch Bonn nachzuweisen. Den Kern der Untersuchung machen das dritte und vierte Kapitel aus: »Die Wohnungspolitik in Berlin 1945-1948« (ca 200 S.) und »Die Wohnungspolitik in Berlin (West) 1949-1961« (ca. 1100 S.). Die Einzelthemen (Handlungsrahmen, allgemeine wohnpolitische Entwicklung, Stadtplanung, Wohnungsbestandspolitik, Wohnungsbaupolitik und gemeinnützige Wohnungswirtschaft) werden für beide Kapitel so gegliedert und abgehandelt, dass die Entwicklungslinien durchgängig sichtbar und Problembereiche jederzeit vergleichbar sind. Das ist ein Vorteil der angewandten systematischen Politikfeld- Historiographie, die zugleich die Orientierung und die Handhabung des Volumens erleichtert. Hanauskes Selbsteinschätzung, »dass die vorliegende Arbeit großenteils den Charakter eines Handbuchs respektive Nachschlagewerks zum behandelten Thema angenommen hat« (S. 9), ist zuzustimmen.
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So diskutierte man Mitte der fünfziger Jahre die Umgestaltung der Innenstadt
Abbildung aus: »Wir bauen die neue Stadt. Die städtebauliche Neugestaltung der Luisenstadt im Bezirk Kreuzberg« Berlin (West) o. J. 1956
Die im Schlusskapitel vorgenommene Gesamtbewertung ist durchweg positiv und wird gegenüber kritischen Einwänden in der Fachliteratur verteidigt. Das Wohnungsbauvolumen ist nicht zuletzt wegen der »Insellage« West-Berlins beachtlich gewesen: »Von 1949/50 bis 1961 wurden reichlich 200 000 Wohnungen fertiggestellt, der Wohnungsbestand erhöhte sich in dieser Zeit ebenfalls um etwa 200 000 auf fast 860 000 Wohnungen, und das globale Wohnungsdefizit verringerte sich von 326 000 (1950) auf 186 000 Wohnungen (1961) ... Die Wohnungsbaupolitik in West-Berlin war damit erfolgreicher als diejenige in Ost-Berlin.« (S. 1223).
     Angesichts des anhaltenden Drucks der
Wohnungssuchenden und des Zwangs, den Wohnungsmangel schnell zu vermindern, wäre nach Meinung des Vf. eine architektonische »Luxus«- Strategie (Stichwort: Interbau/ Hansaviertel) politisch gar nicht durchsetzbar gewesen (S. 1218). Die Förderung des »sozialen Wohnungsbaus« musste in dieser Zeit absolute Priorität haben. Diese Feststellung trifft modifiziert auch für Ost-Berlin zu. Die aufwendigen Repräsentationsbauten der Stalinallee (heute Karl-Marx- Allee) liefen 1956 in zweckdienlicheren Wohnungsbau aus. Die umfangreiche Förderung der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft durch den Bund bewirkte, dass rund 39 Prozent aller West-Berliner Wohnungen bis 1961 auf diesem Wege erstellt wurden.
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   117   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattArtikelanfang
Der Arbeit ist ein umfangreicher statistischer Anhang beigefügt. 78 Tabellen geben Auskunft über die Wohnbevölkerung, über die Menge der fertiggestellten Wohnungen und der Wohnfläche, über die Art der fertiggestellten Wohnungen, über den Wohnungsbestand und die Wohnraumbewirtschaftung, über die Kosten und die Finanzierung des Wohnungsbaus, über die Mietentwicklung und über die gemeinnützige Wohnungswirtschaft. Neben einem ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis, das auch Interviews des Autors mit Zeitzeugen ausweist, gibt es ein Personen-, Orts- und Sachregister.
     Hanauskes Darstellung überzeugt durch die Materialfülle und die meisterhafte Gestaltung des komplizierten Gegenstandes. Auch im Gestrüpp der Details von Bau- und Mietgesetzgebung, Baukostenfinanzierung, Instandsetzung und Neubau, Planung und Bauwirtschaft verliert man nie den roten Faden.
     Leider ist das bereits 1995 erschienene Werk in der Fülle der Berlin- Literatur ein wenig aus dem Blickfeld geraten. Seines speziellen Anliegens oder gar seines Umfangs wegen? Da muss der Rezensent dagegenhalten: Wohnungspolitik war stets ein zentrales Thema; kein Wahlprogramm der Parteien, keine Regierungserklärung des Senats ohne entsprechende Aussagen. Überdies war - das hat der Vf. nachgewiesen - Wohnungsbau ein wesentlicher Faktor der Wirtschaftspolitik und somit auch der Arbeitsbeschaffung. Nicht zuletzt hat der Wohnungsbau auch das architektonische Antlitz der Stadt mitgeprägt. Leider greifen die Autoren jüngster Berliner Architekturgeschichten viel zu wenig auf dieses grundlegende Werk zurück. Auch die derzeitige Ausstellung »Stadt der Architektur - Architektur der Stadt. Berlin 1900-2000« im Neuen Museum streift die Wohnungsbaupolitik der Nachkriegszeit nur.
     Nachdem der grundsätzliche Wert der vorliegenden Arbeit für die Berliner Stadtgeschichte hervorgehoben wurde,
bleibt abschließend nicht nur der Wunsch nach einer Weiterführung für West-Berlin bis 1990, geradezu unentbehrlich ist es, Vergleichbares für Ost-Berlin zu schaffen. Die Ausgangssituation bei Kriegsende war gleich, erst die Teilung von 1948 führte zu divergenten Entwicklungen. In West-Berlin, wo »Sozialisierung oder Kommunalisierung ... mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an der Ablehnung mindestens der US- Militärregierung« gescheitert wären (S. 1206), ging man von vornherein privatwirtschaftliche Wege. In Ost-Berlin schlug man die staatssozialistische Richtung ein. Privates Wohneigentum von einer bestimmten Stufe an, insbesondere die früheren Wohnungsbaugesellschaften, wurden 1949 in »Volkseigentum« überführt. Die Wohnungszwangswirtschaft blieb bis in die 80er Jahre aufgrund einer permanenten Wohnungsnot bestehen. Wohnungsneubau war vorrangig staatliche Planaufgabe. Die ab Mitte der 50er Jahre eingeführte industrielle Bauweise und erst recht das Wohnungsbauprogramm der 70er und 80er Jahre bedingten eine starke Uniformität im Wohnungsneubau: Innenstadtsanierung und -modernisierung rückten spät ins Blickfeld. Selbst Mieten und Mieterschutz folgten anderen sozialpolitischen Kategorien. Vieles lief in der geteilten Stadt eben anders. Diese getrennten Entwicklungen mit Blick auf die Wiederherstellung der städtischen Einheit 1990 zu verfolgen, gehört zweifellos zu den zentralen Aufgaben der allgemeinpolitischen Stadtgeschichtsforschung nach 1945. Schließlich war Wohnungspolitik auch ein gewichtiger Faktor im Ost-West- Wettstreit, was sich noch nach 1990 in vielfacher Hinsicht bestätigte. Eine Fortsetzung dieser verdienstvollen Publikation sollte daher folgen.

Gerhard Keiderling

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/2000
www.berlinische-monatsschrift.de