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Karl Lärmer
Zuzug für Spinner und Professionalisten

Die Böhmen und die Berliner Wirtschaft

König Friedrich I. (1657-1713, Kurfürst ab 1688, König ab 1701) hatte, den Empfehlungen seiner Berater folgend, durchaus die ökonomische Entwicklung des Landes parziell befördert. Allerdings nutzte er die dadurch wachsenden Staatseinnahmen nicht zu Reinvestitionen, sondern zu großen Teilen zur Finanzierung seiner aufwändigen Hofhaltung.1) Von dieser Hofhaltung gingen Impulse besonders für jene Teile der Berliner Wirtschaft aus, die Luxusgüter produzierten.
     Dies sollte sich ändern, als 1713 König Friedrich Wilhelm I. (1688-1740, König ab 1713) die Regierungsgeschäfte übernahm. An die Stelle prunkvoller Verschwendung trat ein striktes Sparregime. Friedrich Wilhelm I. setzte nicht auf Glanz und Gloria, um Preußens Geltungsanspruch in Europa zu demonstrieren, sondern auf militärische Kraft. So ließ er u. a. das Heer von rund 40 000 auf etwa 83 000 Mann vergrößern.2)

Das hieß allerdings, Friedrich Wilhelm I. missbrauchte produktive Potenzen des Landes, um das unproduktive Potenzial, das Militär, zu stärken, ein Potenzial, das unter Friedrich II. (1712-1786, König ab 1740), der eine expansive Außenpolitik verfolgte, als Destruktivkraft zur Wirkung gebracht wurde.
     Folgerichtig kam es unter Friedrich I. in der Stadt zum Ausbau jener Sektoren der Wirtschaft, die der Ausrüstung bzw. dem Unterhalt des Militärs dienten. Dazu zählte die Textilbranche. Die Wirtschaft Berlins empfing - nunmehr von anderer Seite - kräftige Impulse.
     Noch 1713 beauftragte der König einen Bürgerlichen, das so genannte Lagerhaus, eine Manufaktur- und Verlagsanstalt, aufzubauen. Dem Lagerhaus oblag es, jene Wollstoffe zu produzieren, die für die Heeresbekleidung notwendig waren. Im Lagerhaus wurde die Rohwolle für den Spinnprozess vorbereitet und zur Garnherstellung verlegten Spinnern übergeben. Das Gespinst ging dann an das Lagerhaus zurück, wurde dort bzw. von verlegten Webern zu Tuch verarbeitet.
     Schon 1716 war Preußen in der Lage, den Wolltuchbedarf des Heeres aus eigener Produktion zu decken. 1723 ging diese größte preußische Wollmanufaktur in staatliches Eigentum über.
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Zwei Jahre später konnte Preußen mit Russland einen Vertrag abschließen, der das Lagerhaus verpflichtete, Wollstoffe für die zaristische Armee zu liefern. Aus einem Land des Wolltuchimports war ein Tuchexportland geworden, dessen Zentrum Berlin bildete. 1738 beschäftigte das Lagerhaus 4 730 lohnabhängige Arbeitskräfte.3)
     Die Erhöhung der Textilproduktion wurde allerdings erschwert, weil sie vor allem mit extensiven Mitteln, d. h. durch die Vermehrung der Zahl der Arbeitskräfte, erfolgen musste. Dazu kam, dass vier bis sechs Spinner notwendig waren, um jene Garnmenge herzustellen, die es einem Weber erlaubte, kontinuierlich zu arbeiten. Während aber der Beruf des Webers z. T. schon

Der Weg der Böhmen nach Berlin
einen Vollzeitberuf bildete, war die Spinnerei häufig in ländlichen Regionen angesiedelt. Sie wurde dort meistens als Nebenerwerb und außerhalb der agrarischen Arbeitsspitzenzeiten, also vor allem in den Wintermonaten, betrieben. Um die Diskrepanz zwischen Weberei und Spinnerei zu mildern, mobilisierte der Staat für die einfachen Phasen des Spinnprozesses u. a. Kinder in Waisenhäusern, Bewohner von Armenhäusern und Häftlinge in Strafanstalten. Selbst Soldaten und ihre Familien wurden zur Garnproduktion herangezogen.
     Ein wesentliches Mittel zur Gewinnung
besonders von Fachkräften bildete die Anwerbung ausländischer Bürger. Der Westfälische Frieden (1648) untersagte zwar Anwerbungen, konnte sie aber letztlich nicht verhindern. So sicherte z. B. das 1717 erlassene preußische »Patent wegen der Freyheit der Wollarbeiter, welche aus fremden Landen sich in die Königlichen Städte begeben und dort ansetzen«, zuwanderungswilligen ausländischen Wollarbeitern eine dreijährige Akzisenfreiheit, sechs Jahre Freiheit von den bürgerlichen Lasten, die kostenlose Zurverfügungstellung von Material für den Hausbau etc.
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Die so in die Stadt gelockten Fachkräfte mussten allerdings damit rechnen, unter eine 1722 erlassene Verfügung zu fallen, die festlegte, dass alle Berliner Spinnerinnen bei ihren Verlegern zu verbleiben hatten, solange sie »zureichende Arbeit und den behördlich festgesetzten Lohn« erhielten. Eine Kündigung war nur möglich, wenn diese Frauen die Wollspinnerei ganz aufgaben. Dennoch geriet Mitte der 30er Jahre des 18. Jahrhunderts die Textilproduktion in eine Krise, deren Wirkungen u. a. durch die Ansiedlung böhmischer Textilarbeiter reduziert wurden.4)

Der dornige Weg in die Residenz

Die Reformation hatte in Böhmen tiefe Wurzeln geschlagen. Unter Rudolf II. (1522-1612; Kg. ab 1575, Ks. 1576) lebten dort nur zwei bis drei Prozent Katholiken.5) Als die Gegenreformation einsetzte, gingen die katholischen Habsburger mit unsäglicher Brutalität gegen die andersgläubige Bevölkerungsmehrheit vor. So wurden z. B. 1625 die Anhänger der verschiedenen nichtkatholischen christlichen Glaubensrichtungen vor die Wahl gestellt, entweder das Land zu verlassen oder zu konvertieren. Dieses Edikt, 1650 erneuert, sollte sich jedoch als Bumerang erweisen, denn seine konsequente Umsetzung raubte der Wirtschaft notwendige Arbeitskräfte.

Deshalb sahen sich die Habsburger genötigt, die Emigration zu verbieten und unter Strafe zu stellen. Gleichzeitig verschärften sie den Terror gegen Nichtkatholiken. Als 1726 das Kaiserhaus nichtkatholische Glaubensbekenntnisse zu Staatsverbrechen erklärte, kam es, wie schon vordem, erneut zu Massenfluchten.6) Die Bewohner ganzer Dörfer verließen bei Nacht und Nebel, mit wenigen Habseligkeiten ausgestattet, ihre Heimat. Jene Exulanten, die später in Berlin bzw. in der Mark Brandenburg sesshaft wurden, stammten vor allem aus dem Adlergebirge. Sie ließen sich zunächst in grenznahen sächsischen Dörfern der Lausitz nieder. Doch auch hier waren sie nicht sicher, denn der sächsische Hof widersetzte sich keineswegs grundsätzlich Forderungen der Habsburger, die, gestützt auf die schon genannte Bestimmung des Westfälischen Friedensvertrages, die Ausweisung und die Rückführung ihrer Untertanen verlangten.7)
     Der Führungsschicht der Exulanten war bekannt, dass Friedrich Wilhelm I., wie seinen Vorgängern, am Zuzug von Ausländern lag, um das Land, das immer noch an den Folgen des Dreißigjährigen Krieges litt, intensiv zu besiedeln. Sie wussten auch, dass der König Protestant calvinistischen Bekenntnisses, also ein Glaubensverwandter war, und schon 1732 einer kleinen Gruppe böhmischer Exulanten die Ansiedlung in Berlin gestattet hatte.
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Deshalb begab sich im gleichen Jahr eine Deputation nach Berlin, um Friedrich Wilhelm zu bitten, ihre in der Lausitz lebenden Landsleute aufzunehmen. Der König stimmte zu. Als der Zug der Böhmen - er bestand zunächst aus etwa 500 Personen, zwei Wagen und 99 Schubkarren, wuchs aber täglich- das preußische Cottbus erreichte, erging ein Gegenbefehl, denn ein Beauftragter des Königs hatte diesem berichtet, dass die Flüchtlinge arm, abgerissen und spärlich bekleidet sind.8) Ein Teil der Böhmen ging daraufhin an die böhmisch- sächsische Grenze zurück, andere zogen nach Lübben weiter.
     Im Ergebnis der Verhandlungen einer zweiten Abordnung der Böhmen mit Friedrich Wilhelm I. stimmte dieser schließlich der Zuwanderung nach Berlin zu. Allerdings durften die Exulanten nur in kleineren Gruppen kommen, da der König eine Intervention Österreichs fürchtete.

Allmählich Anerkennung durch deutsche Nachbarn

Als im März bis April 1737 die Flüchtlinge in der Stadt eintrafen, wurde ein Teil von ihnen in der seit 1732 in der Gegend um das Hallische Tor bestehenden Exulantensiedlung untergebracht. Ein anderer Teil bekam in Rixdorf kostenlos Grund und Boden und begann, Böhmisch- Rixdorf aufzubauen. Allen Exulanten wurde volle Glaubensfreiheit gewährt.

Sie erhielten Bauhilfen und wurden vom Militärdienst ebenso freigestellt wie von Einquartierungen. Außerdem räumte man ihnen befristete Steuerbefreiungen ein. Dieser Zuzug brachte dem Berliner Gewerbe, besonders aber der Textilbranche, neue Arbeitskräfte. So genannte Profesionalisten und die Spinner unter ihnen wurden in der Stadt angesiedelt. Sie arbeiteten als Verlegte für Berliner Textilmanufakturen. Aber auch die Rixdorfer Böhmen waren dem Berliner Gewerbe willkommen, denn nur ein Teil von ihnen erhielt vom Staat eine landwirtschaftliche Nutzfläche und die Grundausstattung für einen Bauernhof. Andere blieben, was sie in ihrer Heimat gewesen waren - Tagelöhner und Häusler.
     Die zunächst 18 Rixdorfer Bauernfamilien begannen einen intensiven Ackerbau zu betreiben und dadurch die Versorgung der Stadt mit Fleisch, Fetten, Gemüse etc. zu verbessern. Daneben leisteten sie Fuhrdienste und arbeiteten nebenberuflich für Berliner Textilmanufakturen. Jene Böhmisch- Rixdorfer, die keinen oder nur kleinen Grundbesitz ihr Eigen nannten, es handelte sich um 83 Familien, waren auf diese Form der zusätzlichen Erwerbstätigkeit in noch stärkerem Maße angewiesen. Durch Fleiß und Beharrlichkeit erwarben die Exulanten allmählich die Anerkennung ihrer deutschen Nachbarn und der Obrigkeit.
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Das für Rixdorf zuständige Amt Mühlenhof beurteilte sie in einem Schreiben an den König bald so: »Die ganze Gemeinde Böhmisch- Rixdorf, ohne Ausnahme, gehört zu den ruhigsten, gehorsamsten, in Entrichtung ihrer Abgaben promptesten, überhaupt zu den besten Unterthanen.«9)
     So hart für die Exulanten die Lebensbedingungen auch waren, Berlin und die Umgebung der Stadt blieben ein Magnet für böhmische Zuwanderer. Der Zuzug von Exulanten hielt bis 1780 an, und selbst noch 1830 kamen böhmische Textilarbeiter in die Stadt. Als Friedrich Wilhelm I. 1740 starb, betrug der Bevölkerungsanteil aller Eingewanderten mindestens 25 Prozent der Gesamtbevölkerung Preußens.10)
     Friedrich II. setzte diese Politik mit Nachdruck fort. Sein besonderes Interesse galt Arbeitskräften für die Landwirtschaft und wiederum für die Textilbranche. Er ordnete bei seiner Einwanderungspolitik Glaubensfragen völlig den ökonomischen Interessen des Landes unter. Schon im Jahr seiner Thronbesteigung erklärte er u. a.: »Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peupeliren, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen. Ein jeder kann bei mir glauben, was er will, wenn er nur ehrlich ist.«11)
     Während sich die Vorgänger Friedrichs II. darauf beschränkten, Exilsuchende aufzunehmen, versuchte er, eine offensive Anwerbungspolitik zu betreiben.
So entsandte Friedrich II. 1740 einen der geistlichen Führer der Berliner Exulanten mit dem Ziel nach Österreich, etwa 30 000 Böhmen zur Übersiedlung nach Preußen zu veranlassen. Dies scheiterte letztlich an organisatorischen Mängeln. Ein Teil der bereits Angeworbenen kehrte sogar nach Böhmen zurück.12)
     Zwischen 1744 und 1755 entstand in bzw. um Berlin eine ganze Reihe von Kolonistendörfern, auch Spinndörfer genannt, deren böhmische Bewohner für Berliner und Potsdamer Textilmanufakturen arbeiteten. Neben den in Berlin und Böhmisch- Rixdorf existenten Exulantensiedlungen entstanden weitere in Nowawes (Babelsberg) bei Potsdam, in Schöneberg, in Köpenick, in Grünerlinde (auch Schönerlinde) bei Köpenick, in Friedrichshagen und Bockshagen (Boxhagen).13) 1747 hatten sich in Berlin 1 765, in Böhmisch- Rixdorf 345 Exulanten niedergelassen. In Nowawes lebten 1770 1 750 Böhmen. In Schöneberg, in Köpenick, in Grünerlinde, in Friedrichshagen und Bockshagen wohnten insgesamt 345 böhmische Glaubensflüchtlinge.14)
     Als Friedrich II. starb, bestand etwa ein Drittel der Einwohner Preußens aus zugewanderten Glaubensflüchtlingen bzw. deren Nachkommen.15) Unter ihnen neben den Hugenotten und Böhmen aus Oesterreich vertriebene jüdische Familien, Reformierte und Wallonen aus der Pfalz, Reformierte und Mennoniten aus der Schweiz. 1755 waren 11,5 Prozent der Berliner »Ausländer«.16)
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Bis 1785 wuchs die Stadt zu einem leistungsstarken Manufakturzentrum heran, in dem die Textilbranche dominierte. Etwa zwei Drittel der Manufakturarbeiter arbeitete in der Textilwirtschaft.17)
     Die Böhmen, wie überhaupt Ausländer - zu ihnen zählten auch Textilarbeiter aus Sachsen und Thüringen - leisteten zum Aufstieg Berlins zur Textilhauptstadt Preußens und zur Akzeptanz des Landes als Wirtschaftsmacht in Mitteleuropa einen gewichtigen Beitrag.18)
     Aber die weitere Ausdehnung der textilen Produktion begann an Grenzen zu stoßen, denn der Widerspruch der an einem Handwebstuhl erzielbaren Produktivität und der Produktivität der Handspinnerei bestand nach wie vor. Er wurde umso spürbarer, weil in Großbritannien dieses Problem durch die Erfindung und Anwendung von Spinnmaschinen bereits gelöst war und englische Maschinengarne, billig und hochwertig, auf dem Berliner Markt in Erscheinung traten. Deshalb wurde für Preußens Textilgewerbe der Produzententransfer zweitrangig, der Technologietransfer besonders aus England dagegen erstrangig. Durch illegale Ausfuhr von Spinnmaschinen aus Großbritannien und den Nachbau dieser Maschinen in der Stadt erschlossen sich der entstehenden Berliner Textilindustrie neue Perspektiven.

Quellen:
1 Wilhelm Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens, Berlin/New York 1984, S. 3
2 Felix Escher, Die brandenburgisch- preußische Residenz und Hauptstadt Berlin im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Ribbe (Hrg.), Geschichte Berlin, Erster Band: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München 1987, S. 77

3 Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Zeit der Französischen Revolution, Berlin 1957, S. 310
4 Wilhelm Treue, a. a. O., S. 39
5 Max Beheim-Schwarzbach, Hohenzollersche Colonisation. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen Staates und der Colonisation des östlichen Deutschlands, Leipzig 1874, S. 233
6 Dem Kelch zuliebe Exulant. 250 Jahre Böhmisches Dorf in Berlin- Neukölln (künftig: Dem Kelch zuliebe ...), hrsg. vom Bezirksamt Neukölln von Berlin, Berlin 1987, S. 13
7 Ebenda, S. 26
8 Max Beheim-Schwarzbach, a. a. O., S. 251
9 Dem Kelch zuliebe ..., a. a. O., S. 137
10Max Beheim-Schwarzbach, a. a. O., S. 261
11Dem Kelch zuliebe ..., a. a. O., S. 5
12Ebenda, S. 28
13Max Beheim-Schwarzbach, a. a. O., S. 378
14Ebenda, S. 582
15Dem Kelch zuliebe ..., a. a. O., S. 5
16Wilhelm Treue, a. a. O., S. 39
17Ebenda, S. 152
18Dem Kelch zuliebe ..., a. a. O., S. 32

Bildquelle: Dem Kelch zuliebe Exulant. 250 Jahre Böhmisches Dorf in Berlin- Neukölln Berlin 1987, S. 75; hrsg. vom Bezirksmuseum Neukölln von Berlin

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/2000
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