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Maria Curter
Randale in der Mainzer

Am Vormittag des 12. November 1990, einem Montag, fuhren Wasserwerfer und gepanzerte Fahrzeuge durch die Mainzer Straße. Sie beschossen die Häuser mit Wasser und Tränengas. Nachts kam die Polizei wieder, diesmal mit mehr als 1 000 Mann. Wieder durchströmte Tränengas die Wohnungen. Am nächsten Abend war die Straße mit Pflastersteinen und altem Mobiliar verbarrikadiert, sodass die Anwohner Mühe hatten, in die Häuser zu gelangen. Fast alle Fernsehkanäle berichteten über Randale in der Mainzer. Plötzlich war die Straße in die Schlagzeilen gekommen.
     26 Häuser zählte die Mainzer Straße im Stadtbezirk Friedrichshain - zumeist aus der Gründerzeit. 1988 war sie noch eine fast tote, unbedeutende Straße zwischen Frankfurter Allee und Boxhagener Straße. Denn 14 Gebäude standen mittlerweile leer. Und das zum Teil schon seit Jahren. Der Bebauungsplan der südlichen Frankfurter Allee von 1985, wozu die Mainzer Straße gehörte, sah vor, zwei dieser Häuser zu sanieren, die anderen zwölf abzureißen und durch neue zu ersetzen. So hieß es bis Herbst 1989. Die Rekonstruktion erfolgte eher zögernd als zügig.

Durch Bürgerinitiative wurde der geplante Abriss Ende 1989 gestoppt. Zwölf Häuser standen weiterhin ungenutzt. Frei zugänglich für jedermann ... Bis im Frühjahr 1990 junge Leute begannen, Müll und Gerümpel der Vormieter auszuräumen. Schuttberge säumten die Straßenzeile.
     Diese jungen Leute, die aus dem Westteil der Stadt und dieses Landes kamen, hatten nämlich ein Problem - sie wollten ein Dach über dem Kopf. Ihre Wohnungsanträge wurden nach dem Mauerfall und dem Beginn der zahllosen Ausreisen aus dem Osten zurückgestellt. Denn, so die Politik, den Armen von dort musste zuerst geholfen werden. Sie hingegen griffen jetzt zur Selbsthilfe und suchten sich eben dort Wohnraum, wo er ungenutzt, wenn auch nicht menschenwürdig war.
     Ein Standpunkt, über den man geteilter Meinung sein konnte. Einige Häuser wurden somit nach und nach »instand besetzt«, wie sie es nannten - eigenwillig, exotisch und ungewohnt. Aus nah und fern kamen Besucher. Begafften die Häuser und ihre Mieter wie Affen im Zoo. Die legalen Bewohner, mit ordentlichem Mietvertrag, billigten oder missbilligten das Treiben. Gegenseitiges Verständnis und Kontakte wurden gesucht. Erste Krawalle begannen im Frühsommer 1990, als Vermummte aus anderen Gegenden die »Instandbesetzer« attackierten. Nun wurde es ungemütlich. Die Anwohner wollten klare Verhältnisse, ebenso die Besetzer.
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Verhandlungen mit der Wohnungsverwaltung, den inzwischen legitimierten Stadtverordneten von Friedrichshain und dem Magistrat - nach den Kommunalwahlen am 7. Mai 1990 in Ost-Berlin - wurden geführt, Hilfeersuchen an die Polizei gegen die auswärtigen Randalierer gerichtet - alles blieb in der Schwebe. Die Eigentumsverhältnisse waren ungeklärt, und an die neue Situation angepasste Konzepte fehlten. Am 1. Juli trat die Währungsunion zwischen der DDR und der BRD in Kraft. Mitte August stand fest, dass die DDR
Barrikaden in der Mainzer Straße, 12. 11. 1990
am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik beitreten wird.
     Mittlerweile verging der Sommer. Ein Antiquariat, ein Infocafé, eine »Volxküche« - für drei DM konnte man dort warmes Essen bekommen - wurden in der Mainzer eingerichtet, Kinderfeste gefeiert und ein Spielplatz aufgebaut. Es tat sich was. Und nicht zum Schaden der Alteingesessenen, wenn man Exotisches tolerieren konnte. Allerdings war auch nicht zu
überhören, dass die Meinungen über die »neuen« Anwohner immer stärker auseinander gingen. Aber man wollte sich gedulden, bis die Verhandlungen abgeschlossen sind.
     Knapp sechs Wochen nach der Vereinigung, eben an jenem 12. November 1990, war plötzlich Polizei präsent. Mittwoch früh, zwei Tage später, gegen 5 Uhr morgens, rollten schwere Räumtechnik und ungezählte Mannschaftswagen herbei.
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Dann begann die Räumung der besetzten Häuser - eingeleitet mit Wasserwerfern und Tränengas. Verhandlungsversuche vor Ort durch Altbischof Gottfried Forck, den Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu, der von der Polizeiaktion völlig überrascht war, und Bürgerrechtlern wurden mit Wasserwerfern beantwortet. Als die Schwaden sich verzogen hatten, begann in den legitim bewohnten Häusern, deren Mieter auf den Weg zur Arbeit wollten, die Jagd der Polizei nach möglichen Hausbesetzern.
     Aber nicht nur die Bewohner der Mainzer Straße waren von dieser Aktion betroffen. Vier Wochen war das Karree rund um die Mainzer Straße nun unter Polizeischutz gestellt. Man lebte wie im Ghetto, fragte sich, warum eine im Antiterrorismus so erfahrene Polizei mit 3 000 Mann ein fast einen Quadratkilometer großes Gebiet sperren musste und Tausende Bewohner in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkte, verschreckte und einnebelte, nur um etwa hundert Hausbesetzer zu vertreiben, die noch verhandeln wollten? So etwas hatten die Ostberliner in den vergangenen vierzig Jahren nicht erlebt.
     Mitte Dezember kam dann der designierte neue Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen zu einer Anwohnerversammlung in den Kiez.
Er rechtfertigte den massiven Polizeieinsatz damit, »dass Gefahr im Verzuge war«, und versprach, 50 Millionen Mark zur Verfügung zu stellen, um die Häuser zu sanieren. Es dauerte ein gutes Jahr, und die Bauten in der Straße erstrahlten in neuem Glanz, trotz ungeklärter Eigentumsverhältnisse.

Bildquelle: Archiv LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/2000
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