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Horst Wagner
Berlin vor 100 Jahren
Presseball im Reichstag

Gesellschaftlicher Höhepunkt im November 1900 war zweifellos das »Fest des Vereins Berliner Presse«, das am Sonnabend, dem 10. d. M., in allen Räumen des Reichstags stattfand. »In den Kuppelsaal der Großen Wandelhalle, die den einfachen Schmuck der deutschen Reichsfahne trug«, so der Berliner »Lokal-Anzeiger« über die Eröffnung des den Auftakt der Berliner Ballsaison bildenden Festes, »hatte sich ein zahlreiches und auserwähltes Publikum eingefunden, das bald den mächtigen Raum bis auf den letzten Platz füllte.
     Die ersten Vertreter der Staatsbehörden, der Kunst und der Wissenschaft, der Finanzaristokratie und andere hervorragende Persönlichkeiten hatten der Einladung des Vereins der Berliner Presse Folge geleistet.« In Vertretung des im Vormonat ernannten neuen Reichskanzlers Bülow, der kurz vor Beginn des Balles zum Kaiser gerufen wurde, war dessen Staatssekretär von Richthofen erschienen. Das offizielle Programm, das der »Lokal-Anzeiger« als ein »auserwähltes und äußerst reichhaltiges« schilderte, wurde mit Gesängen der Berliner Liedertafel eingeleitet. Es folgten Vorträge des Kammersängers Anthes aus Dresden sowie der Hofkapellmeisterin Pauline Strauß-de Ahna.

Bevor sich die Menge zum mehr geselligen Teil auch in die anderen festlich erleuchteten Räume des Reichstages verströmte, wurde sie im Kuppelsaal noch durch ein Promenadenkonzert der Kapelle des Garde-Füsilier-Regiments unterhalten. »Weit über den offiziellen Teil hinaus« vergnügte man sich im Wallot-Bau, »bis der nahe Morgen auch die letzten Gäste zum Aufbruch mahnte«. Der Erlös des Balls kam notleidenden Journalisten zugute.
     Zeitgleich mit dem großen Pressefest fand in der Philharmonie das etwas bescheidenere Winterfest der Kaufmännischen Hilfsvereine statt, zu dem, so der »Lokal-Anzeiger«, »Mitglieder des Handelsministeriums und des Magistrats zahlreich erschienen« waren. Auch hier erst der offiziellkünstlerische Teil, in dem Sänger und Ballett der Königlichen Oper Ausschnitte aus Offenbachs Operette »Die Verlobung im Kloster« darboten, dann der Ball bis in den Morgen.

Werbeshow im »Kaiserhof«

Auch als gesellschaftlicher Höhepunkt war offenbar gedacht, was sich da etwas großspurig Berliner Weltausstellung nannte und vom 13. bis 15. November im Hotel »Kaiserhof« an der Mauerstraße stattfand. Eigentlich war es nichts weiter als ein Basar, welcher der Werbung für Berliner Mode- und Bekleidungshäuser sowie für den »Kolonialgedanken« diente.

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Veranstaltet vom Evangelischen Frauenbund für Afrika, waren in den Räumen des Hotels Erzeugnisse afrikanischer Länder, vor allem deutscher Kolonien, zu sehen, wobei, wie der »Lokal-Anzeiger« schrieb, »ein Flor jugendlicher Mädchengestalten in Nationalcostümen den Augen und den Börsen der Besucher gleich gefährlich wurde«. Die Schau Deutsch-Ostafrikas z. B. habe, so das Blatt weiter, eine Frau Marie Gresser, »von zwei Negern flankiert«, vorgeführt. Clou der Ausstellung aber sei der »Costüm-Palast« gewesen, in dem auf kleinen Puppen Berliner Firmen neue Modelle zeigten. So das Kaufhaus Gerson eine »Besuchstoilette«, zu der über goldfarbenem Seidenrock ein zobelbesetzter Tuch-Bolero getragen wird. Die Berliner Damenwelt werde sich aus den im Costüm-Palast erhaltenen »Fingerzeigen« über »die Moden des Winters und ihre Verwendung nunmehr vollständig im klaren sein«. Im künstlerischen Programm der Ausstellung seien auch Opernsängerinnen aufgetreten. Mehr Aufmerksamkeit habe aber ein Riesenphonograph der Deutschen Phonographengesellschaft aus der Friedrichstraße erregt, der »humorvolle Vorträge erster Berliner Komiker zum Besten« gab. Kriegerisches Spektakel

Begonnen hatte auch der November in den Berliner Zeitungen mit den täglichen Meldungen über die »Ereignisse in China«, also den Einsatz deutscher Truppen bei der Niederschlagung des »Boxer-Aufstandes«. Der Berliner »Lokal-Anzeiger« brachte dazu am 3. 11. einen ersten Bericht seines »nach China entsandten Special-Korrespondenten« über eine »Parade der gesamten europäischen Garnison vor dem Höchstkommandierenden«, dem preußischen Generalfeldmarschall Graf Waldersee, die sich »zum großartigsten militärischen Schauspiel gestaltete, das Schanghai bisher gesehen hat«. Gleichzeitig rückte das Blatt eine Meldung über ein »großes Wohltätigkeitsconcert« ein, das in den Germania-Sälen zum Besten der »zur Pflege der Verwundeten entsandten Abteilung vom Rothen Kreuz« stattfand und für das über tausend Eintrittskarten verkauft worden waren.
     Als recht kriegerisch erwies sich auch das am 1. Oktober eröffnete Programm von Castans Panoptikum. Hier trat eine 40-köpfige Afrikaner-Truppe aus Dahomey auf. Vor allem deren weiblicher Teil, »die berühmte Frauengarde des ehemaligen barbarischen Königreiches«, hatte es dem Berichterstatter des »Lokal-Anzeigers« angetan. »Fesche Weiber verbergen sich unter diesem klassischen Namen«.

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Während die Männer »krause Kriegstänze mit Spieß und Schild aufführen«, exerzierten die Frauen »stramm militärisch, und das Gewehr ist ihre Waffe«.
     Diese Gewehre hätten sie aus Frankreich, also von ihren Kolonialherren, bezogen. »Übrigens das einzig Moderne, das sie sich aus dem Land der Mode verschafft haben.« Sonst seien die Schönen »in Aufzug und Aufputz den heimatlichen Sitten treu geblieben«. Deshalb sei es besonders reizvoll, ihrer Parade im Theatersaal des Castanschen Panoptikums beizuwohnen.

Handwerkskammern beraten

Nicht nur zu einem Berliner, sondern zu einem gesamtdeutschen Ereignis gestaltete sich der 1. Deutsche Handwerker- und Gewerbekammertag, der vom 15. bis 17. November 1900 in den Germania-Sälen in der Chausseestraße stattfand. Beraten wurde unter anderem über das Genossenschaftswesen im Handwerk, die Bedeutung von Handelsverträgen, über das Fortbildungs- und Fachschulwesen sowie besonders ausführlich über die Lehrlingsausbildung, die Gesellenordnung und die Meisterprüfungen. Zu letzterem Punkt nahm die Tagung einen von der Handwerkskammer Zittau ausgearbeiteten Entwurf einer Prüfungsordnung an. Heftig debattiert wurde über die Anordnung des Ministers für Handel

und Gewerbe, wonach die Kosten für die Handwerkskammern von den Gemeinden aufzubringen seien, die diese aber anteilmäßig auf die Handwerksbetriebe umlegen könnten. Es wurde beschlossen, den Minister zu ersuchen, diese Verordnung aufzuheben und »die Kosten auf den Staat zu übernehmen, bis durch die Handwerkskammern wirtschaftliche Erfolge für den Handwerkerstand erzielt sein werden«.

Kaiserin weiht Kirche ein

Am 17. November, einem Sonnabend, wurde in Anwesenheit der Kaiserin die Verklärungskirche in Adlershof eingeweiht. »Der freundliche Vorort«, so berichtete der Berliner »Lokal-Anzeiger«, hatte anlässlich des seltenen Festes reichlichen Fahnen- und Girlandenschmuck angelegt. Die Straßen, welche vom Bahnhof bis zum Kirchplatz führten, hatten frische Kiesschüttung erhalten. In langer Doppelreihe standen unter Leitung ihrer Lehrer und Lehrerinnen über tausend Schulkinder, die meisten Mädchen in weißen Kleidern.« Die Festpredigt in der über 1 000 Plätze fassenden Kirche hielt Pfarrer Schulze über Lukas 19. Den Namen »Verklärungskirche« erhielt das Gotteshaus von der Kaiserin persönlich, die das Patronat übernahm und als Gastgeschenk 30 000 Mark spendete. Die Gesamtkosten des Kirchenbaus hatten 150 000 Mark betragen.

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Was sonst noch geschah

Am 7. November fand auf dem Platz zwischen Lustgarten und Schloss die Vereidigung der Rekruten der Garnisonen Berlin, Spandau, Charlottenburg und Groß-Lichterfelde statt, bei der der Kaiser eine forsche Rede hielt. Am 15. November kam es in einem Restaurant in der nördlichen Friedrichstraße zu einer Gasexplosion, die erheblichen Schaden anrichtete und ein hier beschäftigtes junges Mädchen schwer verletzte. Die Explosion war in einem dem Warmhalten von Speisen dienenden gasbeheizten Schrank geschehen. Am 27. November kam es gegen 10.30 Uhr zu einem Unfall auf der Stadtbahn. Ein aus Richtung Bellevue kommender Zug fuhr auf einen in der Station Tiergarten haltenden Zug auf. Ursache war eine Störung im Signalsystem. Obwohl der Führer des zweiten Zuges noch Gegendampf gegeben hatte, prallte seine Lokomotive auf den letzten Wagen des haltenden Zuges. Es gab einen Schwer- und mehrere Leichtverletzte.
     Am 28. November wurde eine Statistik über den Post-, Telegraphen- und Telephonverkehr veröffentlicht. Danach gab es im Bereich der Oberpostdirektion Berlin 182 Reichs-Postanstalten, 2 215 Briefkästen, 1 331 Postwagen, 248 amtliche Verkaufsstellen für Briefmarken sowie 46 896 Fernsprechstellen mit 47 397 Apparaten.

Zu guter Letzt, d. h. am 30. November, brachte der »Lokal- Anzeiger« einen Bericht aus dem Kriegsgericht der 2. Garde- Infanteriedivision, das den Tambour Müller wegen »Widerstandes gegen die Staatsgewalt« zu 30 Mark Geldstrafe verurteilte, weil er nach einem Kneipen-Besuch in der Hasenheide mit einer von der Polizei gesuchten Prostituierten angebändelt hatte und sich deren Festnahme durch einen Schutzmann mit dem Hinweis, er sei schließlich auch preußischer Beamter, tätlich widersetzt hatte.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/2000
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