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Gerhard Keiderling
Enttäuschung über Berlin- Müdigkeit

Die kritische Zeit nach dem Ende der Blockade 1949/50

»Die Zeit nach der Blockade war für Berlin eine Periode der Enttäuschung«, schrieb Willy Brandt später. »Das Hochgefühl des Sieges verwehte schnell, zurück blieb Müdigkeit; man war erschöpft ... >Man< waren in diesem Fall alliierte Stellen auf der einen Seite, Bonner Politiker auf der anderen. >Wir werden in den Hintergrund getreten<, sagte ein bekannter Kabarettist ... Berlin war nicht mehr >interessant<.« 1)
     Seit dem Frühjahr 1949 hatte sich das Schwergewicht des politischen Geschehens von der Spree zum Rhein verlagert. In Bonn fielen die zukünftigen Entscheidungen: Weststaat und Westintegration. West-Berlin, gerade vor dem sowjetischen Zugriff gerettet, lag 170 km hinter dem »Eisernen Vorhang«, sein Überleben hing völlig von westlicher Solidarität und Hilfe ab. Zwar war die politische Bedrohung abgewendet und der Verkehr mit der Außenwelt wieder hergestellt; doch der wirtschaftliche Schock, den die Stadt erhalten hatte, tat erst jetzt seine tiefgreifende Wirkung.

Weder die Pariser Außenministerkonferenz von Mai/ Juni 1949 noch die anschließenden Verhandlungen der vier Berliner Stadtkommandanten (BM 8/99) hatten die erhoffte Sicherheit gebracht. »Nach dem Ende der Blockade blieb Berlin in einem Schwebezustand, der neue ernste Schwierigkeiten brachte.« 2) Gewiss hatte die verwaltungsmäßige Konsolidierung West-Berlins nach den Dezemberwahlen von 1948 Fortschritte gemacht. Der Magistrat unter Oberbürgermeister Ernst Reuter (SPD) stützte sich auf eine große Koalition von SPD, CDU und LDP/FDP. Die Alliierten stellten ihn unter das Schutzdach einer Dreimächtekommandantur, die sie am 21. Dezember 1948 bildeten, und hoben formell die Sektorengrenzen innerhalb West-Berlins auf.
     Die eigentliche Achillessehne stellte die trostlose Wirtschaftslage dar. Die Blockade hatte Industrie, Gewerbe und Handel weit zurückgeworfen; der industrielle Produktionsindex (1936 = 100) erreichte mit 19 Punkten im Mai 1949 seinen tiefsten Stand. Über 150 Großbetriebe, Aktiengesellschaften, Banken und Versicherungen - darunter Siemens, AEG, Knorr-Bremse, Salzdetfurth AG, Wintershall AG, Graetz AG, Deutsche Kabelwerke und Allianz- Versicherung - waren seit Kriegsende auf Grund des »politischen Berlin- Risikos« nach Westdeutschland abgewandert.
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Nachdem die Spaltungspolitik Berlin seine Hauptstadteigenschaft genommen hatte, verlor der Dienstleistungssektor, in dem ein Großteil der Bevölkerung bisher seine Lebensgrundlage gefunden hatte, sehr erheblich an Gewicht. Die Folge des wirtschaftlichen Rückschlages war Anfang 1950 eine Arbeitslosenarmee von 300 000 bei einer Wohnbevölkerung von 2,1 Millionen.
     Zusätzliche Probleme brachte die Spaltung der Stadt mit sich. Aus politischen Gründen wurden 1949 rund 8 000 und 1950 weitere 30 000 West-Berliner von den Behörden in Ost-Berlin und der DDR entlassen. Gleichzeitig mussten rund 48 000 Ost-Berliner »Grenzgänger« über die Lohnausgleichskasse versorgt werden. Seit der Gründung der DDR im Oktober 1949 trafen monatlich Tausende von Flüchtlingen in West-Berlin ein; während ein kleiner Teil von ihnen hier verblieb, musste der größere Teil aufgenommen, verpflegt und nach dem Westen weitergeleitet werden.
     Für die Bewältigung all dieser Aufgaben reichte die Kraft West-Berlins nicht aus. Oberbürgermeister Reuter war rastlos unterwegs, um bei westalliierten und westdeutschen Stellen um Hilfe und Unterstützung nachzusuchen. Er verwies auf die Grenzsituation seiner Stadt, auf die ständige Konfrontation mit dem sozialistischen System und auf die einmalige Rolle als »Frontstadt im Kalten Krieg«. Er ermunterte den Westen, »nach Berlin zu kommen«, und hatte es dennoch »nicht leicht, guten Mutes zu bleiben«.3)
Die Interessenlagen in den westlichen Hauptstädten und in der neuen Bundeshauptstadt Bonn schienen zunächst am »Vorposten der Freiheit« vorbeizugehen. Aus amerikanischer Sicht hatte die Gründung der BRD als Eckpfeiler des atlantischen Bündnisses absoluten Vorrang. Die US- Militärregierung hatte schon im Frühjahr 1949 Berlin verlassen; ihr Nachfolger, die Hohe Kommission, richtete sich auf dem Petersberg oberhalb Bonns ein. West-Berlin, das auf überlebenswichtige Transfusionen hoffte, vegetierte derweil von US- Hilfsprogrammen. Eine konstitutive Mitgliedschaft des »Landes Berlin« im Bund, was realiter nur West-Berlin heißen konnte, verboten die westallierten Vorbehalte von April/Mai 1949 (BM 5/99). Die Folge waren politische Ungewissheit und materielle Unsicherheit. Während Westdeutschland seinen Konkurrenzvorsprung weidlich ausnutzte, geriet West-Berlin zum Almosenempfänger. Zwar kamen Finanzhilfen und auch Ladenhüter in die Stadt, doch musste immer von neuem eine Fortsetzung der Zahlungen und Lieferungen erbettelt werden. Reuter rief daher wütend aus: »Was sind wir in Berlin nun eigentlich, ein Haufen Dreck oder ein Teil des Westens, für den der Westen zu sorgen hat?«4)
     Der Tiefpunkt der »Berlin- Müdigkeit« im Westen lag im Sommer und Herbst 1949, als alle auf die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im linksrheinischen Bonn schauten.
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Die ersten Bundestagswahlen im August 1949 brachten dem konservativen Bürgerblock um CDU/CSU einen Erfolg. Für Bundeskanzler Konrad Adenauer, dessen Berlin- Aversion notorisch war, stand nicht die Wiedervereinigung, sondern die Westintegration an vorderster Stelle. Er hatte für den »Pfahl im Fleisch der Sowjetzone« nur politische Bekenntnisse übrig.
     Ernst Reuter war »tief enttäuscht über die Aschenbrödelrolle, die der deutschen Hauptstadt bei der Konstituierung der Bundesrepublik zugefallen war, und über die zögernde Art, in der »Bonn« an die großen nationalen Aufgaben heranging.«5) Als Anhänger der amerikanischen »Roll back«- Strategie predigte er den »Marsch nach Berlin«: Wenn die Bundesregierung sofort nach Berlin zöge, würde sie »den Osten auseinandersprengen«.6) Bundeskanzler Adenauer dachte in anderen Kategorien, er kam erst im April 1950 zu einem offiziellen Besuch an die Spree.
     Langsam wendete sich allerdings das Blatt. Reuters »Bittgänge« nach Bonn und seine zähen Verhandlungen mit westalliierten und westdeutschen Stellen zahlten sich aus. Die Bundesregierung konnte sich ihrer Verantwortung für West-Berlin, die ihr vor allem die Amerikaner auferlegt hatten, auf die Dauer nicht entziehen. Seit Ende 1949 flossen Marshall-Plan- Gelder und dann auch Bundeshilfen in zunehmendem Maße in den Haushalt und in die Wirtschaft der Inselstadt. Darüber wird später in gesonderter Weise zu berichten sein.
Im Laufe des Jahres 1950 zeichnete sich ein erster bescheidener Aufschwung ab. »Berlin kommt wieder«, nannten Walther G. Oschilewski und Oscar Scholz ihr »Buch vom wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau der Hauptstadt Deutschlands«, das damals im Arani-Verlag Berlin- Grunewald erschien. Politiker, Juristen, Volkswirtschaftler und Publizisten schilderten darin die prekäre Ausgangslage nach dem Blockade- Ende, warben für Solidarität und Unterstützung im Westen und stellten eine optimistische Entwicklung in Aussicht. Die politischen Umstände zeigten sich jedoch nicht in rosigem Licht. Der Ost-West- Gegensatz gewann erneut an Schärfe. Die Truman- Administration verwarf in ihrem Grundsatzdokument NSC-68 vom 25. April 1950 »die Möglichkeit von Verhandlungen mit der Sowjetunion, außer auf der Basis machtpolitischer Bedingungen«.7) Im Juni 1950 brach der Korea-Krieg aus, worauf in beiden deutschen Staaten die Remilitarisierung einsetzte.
     West-Berlin sah sich aufs Neue östlichem Druck ausgesetzt. Vor allem die Unsicherheit auf den Verbindungswegen nach Westen bereitete weiterhin Sorge, denn nach dem Ende der Blockade und des UGO-Streiks (BM 6/99) waren viele Fragen ungeregelt geblieben. An den Grenzkontrollpunkten auf Schiene, Straße und Wasserweg ereigneten sich immer wieder Zwischenfälle, hervorgerufen durch verschärfte Kontrollen und Behinderungen des Warenverkehrs. Selbst westalliierte Militärzüge wurden stundenlang festgehalten.
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Als daraufhin der US- Stadtkommandant im Januar 1950 das Reichsbahndirektionsgebäude am Schöneberger Ufer von der Stumm- Polizei zeitweilig besetzen ließ, reagierte der Osten mit Einschränkungen des S-Bahn- Verkehrs in West-Berlin. Die Westmächte, die die Luftbrücke bis Herbst 1949 ausgedehnt hatten, befürchteten zu jeder Zeit neue Blockademaßnahmen. Für solche Fälle legte der Magistrat umfangreiche Vorratslager (später als Senatsreserve bezeichnet) an Nahrungsmitteln, flüssigen und festen Brennstoffen sowie Rohstoffen für die Industrie an, die für mindestens fünf Monate eine Versorgung der West-Berliner Bevölkerung gewährleisten sollten.
     Andererseits trug die strikte Nichtanerkennung des Ost-Berliner Magistrats unter Oberbürgermeister Friedrich Ebert (SED) nicht zur Normalisierung der Lage in Berlin bei. Weil man sich über die Bezahlung der zwischen beiden Stadthälften geförderten Wassermengen nicht einigen konnte, wurden im Juni 1950 die Wasserleitungsschieber an der Sektorengrenze geschlossen. Erst nach zähen Gesprächen konnte der »Wasserkrieg« beendet werden. Die Medien in Ost und West heizten die politische Atmosphäre kräftig an. Der Kalte Krieg steuerte einem neuen Höhepunkt zu.
Quellen:
1 Willy Brandt, Mein Weg nach Berlin, München 1960, S. 269
2 Willy Brandt/Richard Loewenthal, Ernst Reuter - Ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biografie, München 1957, S. 533
3 Ebenda, S. 535
4 Ebenda, S. 536 f.
5 Ebenda, S. 539
6 Ebenda, S. 541
7 Paul Y. Hammond, NSC-68. Prologue to Rearmament, in: Warner R. Schilling/Paul Y. Hammond/ Glenn H. Snyder: Strategy, Politics and Defense Budgets, New York-London 1962, S. 306/FONT>
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/2000
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